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Nicolai Hannig

Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800

Göttingen 2019, Wallstein, 654 S. m. 75 Abb., ISBN 978-3-8353-3406-9


Rezensiert von Jan Hinrichsen
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Mit „Kalkulierte Gefahren“ hat sich der Historiker Nicolai Hannig eine in Hinblick auf Perspektive, Erklärungsanspruch und Quellenlage ambitionierte Aufgabe gestellt: Die Verknüpfung von Zugängen aus Sozial-, Kultur-, Wirtschafts- und Technikgeschichte, flankiert von umwelt- und wissenshistorischen Ansätzen, zu einer Geschichte des Umgangs mit Naturgefahren vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die 1980er Jahre und dies zudem in zwar lokal/national eingehängter – Deutschland, Schweiz, Habsburgerreich – aber durchaus transnational denkender Perspektive.

Um zu verstehen, „inwieweit die Idee der Vorsorge gegenüber Naturgefahren Teil der Entwicklungsgeschichte moderner Gesellschaften und des Interventionsstaates, der Wissenschaft und Technik, der Kultur und des Alltagslebens ist“ (516), öffnet Hannig drei Zeitfenster (Ende 18. Jh. bis1880, 1880–1920, 1920–1980), die vor dem Hintergrund der Vielfältigkeit der Felder und Materialien – von Wasserbau zu Meteorologie, von Lawinen zu Erdbeben, von Rückversicherern zu Hagelschießern – ausschnitthaft den wissenschaftlichen, politischen und ästhetischen Diskurs um „Naturgefahren“ und ihre praktisch-technologische Bearbeitung in den Blick nehmen. Hannig entfaltet eine komplexe Geschichte des Umgangs mit Naturgefahren als den Versuch, die Zukunft handhabbar zu machen.

Ausgehend vom Erdbeben von Lissabon 1755 (Teil 1: Gefahren verhindern, Kapitel 1: Die Entdeckung der Katastrophe), das in der Geschichtswissenschaft als „Motor neuzeitlicher Verwissenschaftlichung“ (35) und zugleich als Bruch des Aufklärungsoptimismus gilt, beschreibt Hannig die Blütezeit seismologischer/geologischer Forschung und das gesteigerte Interesse an den natürlichen Vorgängen hinter extremen Ereignissen. Es ist zugleich die Zeit des Aufkommens von wissenschaftlich fundiertem präventivem Handeln, das die Kontingenz der Zukunft bearbeitbar machen soll. In der Geologie rückt zunehmend das Interesse an „Vorbauung“ (Wiedeburg), an Stadtplanung und erdbebensicherer Architektur ins Zentrum. Mit Seitenblick auf die Elektrizität als „öffentlicher Wissenschaft“, die auch in der frühen Erdbebenforschung eine seinerzeit schon umstrittene Rolle spielte, veranschaulicht Hannig zum einen die Popularisierung und zunehmende gesellschaftliche Relevanz naturwissenschaftlichen Wissens. Zum anderen zeigt er anhand des Blitzableiters die damaligen Grundkonflikte im Umgang mit Natur(gefahren): das Streben nach Beherrschung der Natur, das Zusammenspiel von religiöser und weltlicher Krisenbewältigung sowie das gesteigerte staatliche und militärische Interesse an wissenschaftlich begründeter Technologie.

Lissabon ist jedoch, nicht nur für Hannig, ebenso Motor von Katastrophenästhetik und ‑kommerz. Bilder machten Katastrophen überhaupt erst anschaulich, begreifbar. Darauf aufbauend erläutert der Autor, wie die visuelle Katastrophenromantik gerade nicht im Gegensatz zur Naturwissenschaft stand, sondern fester Bestandteil der Wissenschaftskommunikation war.

Der Wasserbau um 1800 legte die „Pfade in die präventive Gesellschaft“ (Kapitel 2). Die Schaffenszeit von Johann Gottfried Tulla und Hans Conrad Escher, dem Spiritus Rector der Linthkorrektion 1806–1816, ist jene des Wandels von „traditionellem“ zu ingenieurswissenschaftlichem Wasserbau. Die Hydrotechnik – „der vielleicht kolossalste Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels um 1800“ (123) – markiert einen entscheidenden Wendpunkt im Umgang mit Naturgefahren: Der Ruf nach Ursachenforschung wurde immer lauter, wie Hannig unter anderem am Bergsturz von Goldau zeigt, Wasserbaudirektionen wurden zu „Schaltstellen“ des Katastrophenmanagements und die Verantwortung für Naturgefahren ging zunehmend auf den Staat über. Der Umgang mit Naturgefahr war Wegbereiter für den modernen Sozialstaat.

Das Erdbeben von San Francisco 1906 stellte die entscheidende Wegmarke für die noch junge Elementarschadenversicherungsbranche dar (Teil 2: Gefahren berechnen, Kapitel 3: Die Natur als Risiko). In der globalen Verflechtung von (Rück-)Versicherern zeigt Hannig auf, dass der Versicherungsmarkt eine regelrechte Keimzelle präventiven Denkens und Handelns wurde: Naturgefahren sollten in kalkulierbare Risiken überführt werden, aber um „die Risiken der Moderne angemessen zeichnen zu können, mussten Versicherer zu Experten werden, der Technologie genauso wie der Naturwissenschaft“ (190). Erfolgreiche Vorsorge, so Hannig, machte das eigene Geschäft planbarer. Unter anderem in Werbefotografien dieser Versicherer macht der Autor eine spezifische Katastrophenästhetik aus, die die Passivität des Menschen gegenüber der Natur und das Destruktive der Katastrophe betonte. Dies dient als Ausgangspunkt für Überlegungen zu einer Kommodifizierung von Katastrophen (unter anderem anhand der Katastrophenpostkarte), die einerseits Präventionsarbeit einforderte, andererseits selbst als Form des Gefahrenmanagements zu verstehen war.

Um die Jahrhundertwende strebt die Naturwissenschaft nach der Vorhersehbarkeit von Katastrophen (Kapitel 4: Wissenschaft, Technik, Vorsorge): „Schon seit Jahrhunderten versuchte der Mensch, Naturgefahren vorherzusehen. Doch niemals, so schien es, war er dem Ziel näher als um 1900.“ (307) Mit Blick auf unter anderem eine koloniale Seismologie, zeigt Hannig, wie Naturwissenschaften den Anspruch formulierten, die Zukunft zu bearbeiten. Er spannt dabei den Bogen von „alpinen Verteidigungslandschaften“ bis hin zur sogenannten „Erdbebenkrankheit/Seismosensibilität“ (302).

Eine weitere ikonische Katastrophe – der drohende Bergsturz am Kilchenstock (1930/32) – leitet in das dritte Zeitfenster: „Das 20. Jahrhundert: Gefahren vermeiden.“ Hannig zeigt wie nach Jahren des wahren Vorsorgefiebers Prävention zunehmend in die Kritik geriet (Kapitel 5: Die Tücken der Prävention): „Der Bergsturz wäre ein Ausweg aus dem Kreislauf gewesen, ein krönender Abschluss moderner Vorsorge“ (375), fasst der Autor das Dilemma der Vorsorge zusammen. In den Fokus rückten zunehmend die fatalen Nebenfolgen der Prävention. Deren Grenzen wiesen den Weg von der Verhinderung hin zum Katastrophenschutz. Anhand der historischen Entwicklung des Technischen Hilfswerks, der Verabschiedung von Katastrophenschutzgesetzen und der Entstehung der deutschen Katastrophensoziologie veranschaulicht Hannig nicht nur die Herausbildung aktueller Katastrophenbegriffe („Kulturkatastrophe“), sondern zeigt, wie im 20. Jahrhundert Vorsorge und Prävention vor allem bedeuten, vorbereitet zu sein für den Ernstfall: Gefahren können nicht verhindert, lediglich vermieden werden. Das Schlüsselkonzept dafür heißt Resilienz.

Hannig gelingt hier eine Historisierung der viel zitierten „Risikogesellschaft“ und er zeigt den Übergang von der „Präventivgesellschaft“ (455) zum „Risikomanagement“ (Kapitel 6). Dieses ist gekennzeichnet von der Einsicht in die Grenzen der Beherrschbarkeit, von „Wolken der Unschärfe“, Ungewissheit und: Es ist reflexiv, wie auch Beck argumentiert. Die jahrhundertelangen Eingriffe in „die Natur“ qua Präventionsmaßnahmen wirken auf „die Gesellschaft“ zurück; die Gefahren der Natur sind bedingt durch deren eigentliche Künstlichkeit.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der zentrale Begriff der Prävention in jenem Moment an Kontur gewinnt, in dem sich der Autor konzeptuell und sein Material empirisch von ihm verabschieden. Während dies einleuchtend argumentiert wird, zeigt sich gleichwohl das Problem an Hannigs Arbeit: die unzureichende theoretische Rahmung und Schärfung der zentralen Begrifflichkeiten. Dies mag der (scheinbaren) Adressierung eines breiteren Publikums geschuldet sein (beizeiten wundert jedoch, welche Leser*innen Hannig sich imaginiert, ob beharrlich wiederkehrender, Verzeihung!, etwas „pappkameradiger“ Fragen). Dennoch bleibt beispielsweise „Gefahr“ untertheoretisiert, eindimensional und ist mal analytisches, mal emisches Konzept. Ähnliches gilt für „Risiko“. „Katastrophe“ soll historisiert und konsequent als Quellenbegriff verwendet werden, der Präventionsbegriff bleibt davon unberührt. Dabei ist Prävention manchmal ein „Verfahren“, aber meistens ist sie Gegenstand einer „Suche“. So wirkt sie wie ein zu erreichender Idealzustand, und diese Teleologie ex post, obgleich der Autor sich von einer solchen verabschiedet, bleibt seinem Werk implizit. Dies wiederum lässt aber gerade einen Großteil des Potentials von „Prävention“ als Medium zwischen Gegenwart und Zukunft und gerade als Instrument des Regierens und Regierbarmachens von Zukunft verpuffen: Hannigs Konzept von Staatlichkeit bleibt zahnlos und weitgehend unkritisch (siehe: Resilienz) und hätte gerade an der Frage der Regierung von und durch Zukunft geschärft werden können.

Es wäre zudem notwendig gewesen, Prävention vor allem als „Praxis“ mit ihrer Eigensinnigkeit, Widerständigkeit, Unvorhersehbarkeit und Materialität zu begreifen. Praxistheorie fragt weder explizit noch implizit nach dem Telos und man hätte nicht entscheiden müssen, ob Naturwissenschaft – bei Hannig ohnehin durchweg „rational“ und „aufgeklärt“ – nun präventiv sein wollte oder nicht. Aus dem „Nebeneinander“ von religiösen und weltlichen Deutungen hätte das „Durcheinander“ werden können. Praxistheorie hätte erklären können, wie Präventionstechnologien Eigenlogiken freisetzen, wie sie multiple Zukünfte entwerfen und (deshalb) machtvolle Regierungstechniken darstellen. Sie hätte ermöglicht, die „Kulturkatastrophe“ als Quellenbegriff zu historisieren und kontextualisieren (was Hannig hoch anzurechnen ist) ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten und die (im Buch einzig mit Latour begründete) „Hybridität“ von Natur/Kultur-Relationen als Analyseperspektive zu verkennen. So bleibt leb- und sprachlos, was die Präventionspraktiken doch gerade sprechen machen: der Umgang mit Naturgefahren als Geschichte von Naturenkulturen. Was Hannig vorlegt, ist, über weite Strecken, eine Geschichte des Strebens nach Naturbeherrschung, die zu erklären sucht, wie aus Gefahren („von außen“) Risiken (systemimmanent) gemacht werden, dabei aber unkontrollierbare Nebenfolgen zeitigen. Das Argument ist bekannt; es wäre Hannigs Chance gewesen, es weiter zu verkomplizieren und „die Natur“, im Sinne postkolonialer sowie praxistheoretischer Perspektiven, mitdiskutieren zu lassen.

Diese Geschichte dieses Strebens nach Beherrschung der Natur ist, das betont der Autor immer wieder, getragen von einem Widerspruch von Schrecken und Anziehung von Naturgefahren. Aber auch hier hat Hannings Lust an der Historisierung Grenzen. Ausgerechnet die affektiven Dimensionen von Natur(gefahr) stehen für ihn außerhalb des Historischen: „Diese Anziehungskräfte von Naturkatastrophen sind zeitlos“ (527), lautet der für einen Historiker erstaunliche Schluss. Sieht man über diese theoretisch-konzeptuellen Schwächen hinweg, bleibt „Kalkulierte Gefahren“ eine interessante und zudem lesenswerte Geschichte, an der zwar nicht immer alles überraschen mag, aber die grundsätzlich konzise entlang der Quellen erzählt und liebevoll ausgearbeitet wird, mit Auge fürs Detail und einem bewundernswerten Gespür für die Verflochtenheit des Erhobenen.