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Marita Metz-Becker

Drei Generationen Hebammenalltag. Wandel der Gebärkultur in Deutschland

Gießen 2021, Psychosozial-Verlag, 291 S. m. 24 Abb., ISBN 978-3-8379-3056-6


Rezensiert von Jürgen Schlumbohm
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Das Buch beruht auf 30 ausführlichen narrativen Interviews, welche die Verfasserin Marita Metz-Becker, unterstützt von ihren Student_innen, mit 25 Hebammen, drei Müttern, der Vorsitzenden eines Hebammenverbandes und dem stellvertretenden Leiter einer großen Geburtsklinik geführt hat. Nur vereinzelt werden gedruckte Erinnerungen von Hebammen zum Vergleich herangezogen (78); des Öfteren wird auf Daten und Veröffentlichungen zur Geschichte und gegenwärtigen Situation der Geburtshilfe in Deutschland zurückgegriffen.

Kurz ist der einleitende Abschnitt zur Methode (9–13). Wie und nach welchen Kriterien die Hebammen für die Interviews ausgewählt wurden, erfährt der Leser allerdings nicht. Doch teilt der Anhang mit, dass sie alle im Gebiet der alten Bundesrepublik tätig sind (277 f.). Es folgen eineinhalb Kapitel mit Bemerkungen zur Geschichte der Geburtshilfe vom späten 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts (15–37), die nur lose mit dem Hauptteil der Arbeit verbunden sind. Kern des Buches ist das vierte Kapitel (45–208), das längere Zitate aus den Gesprächen mit den Hebammen präsentiert. Die Interviewten werden in drei Generationen eingeteilt. Die „letzten Landhebammen“ (45–85), um 1930 geboren, betreuten seit den 1950er Jahren Hausgeburten. Die „Klinikhebammen in den 1960er und 1970er Jahren“ (85–105), meist um 1940 geboren, trugen den Wandel mit, der die Entbindung im Krankenhaus zur Regel machte. Die Hebammen der Gegenwart werden unterteilt in Klinikhebammen (105–144), außerklinische Geburtshelferinnen (144–180) und „niedergelassene Hebammen in der Vor- und Nachsorge“ (180–192). Zum Schluss des Kapitels kommt eine junge Hebammenschülerin zu Wort (193–208). Der folgende „Exkurs“ (209–233) referiert die Wünsche und Erlebnisse von drei Müttern; sie sollen in etwa die „Bandbreite“ der Geburtserfahrungen in der Gegenwart abdecken (231 f.). Unter dem Stichwort „Risikodiskurse“ (235–251) wird dann die Sicht des ärztlichen Leiters einer großen Entbindungsklinik dargelegt und der – nochmals rekapitulierten – „Sicht der Hebammen“ und der Frauen gegenübergestellt. Den Abschluss bilden die „verbandspolitischen Forderungen“ (253–261) der Vorsitzenden des Deutschen Hebammenverbandes, bevor ein „Epilog“ (263–274) die Ergebnisse des Buches zusammenfasst.

Für jede der drei Generationen wird in gesonderten Abschnitten dargestellt, was sie über ihre Ausbildung berichten, sodann, was sie über ihren Arbeitsalltag zu sagen haben, und schließlich, wie sie sich durch „Brauch und Tradition“ oder aber „Rituale und Hierarchien“ in ihr Umfeld eingefügt sehen. Wertvoll sind die langen wörtlich zitierten Ausschnitte aus den Interviews. Dass die Autorin regelmäßig eine kurze Zusammenfassung hinzufügt, führt zu einer gewissen Redundanz. Auch sonst machen Wiederholungen die Lektüre stellenweise ein wenig beschwerlich.

Der Fokus der wiedergegebenen Interview-Passagen liegt vor allem auf dem Gegensatz zwischen zwei Typen von Geburtsbetreuung: Auf der einen Seite steht die auf persönlichem Vertrauen beruhende Begleitung, möglichst von der Vorsorge über die Entbindung bis zu Wochenbett und Nachsorge, in Form einer Eins-zu-Eins-Betreuung, die sich an den Bedürfnissen der Schwangeren/Gebärenden orientiert, eine „sanfte“ und „natürliche Geburt“ ermöglicht und am besten in häuslicher, jedenfalls in vertrauter und angenehmer Umgebung stattfindet. Für diesen Typus stehen die von Hebammen eigenverantwortlich geleiteten Entbindungen in Form von Hausgeburten, von Geburten in Geburtshäusern oder in von Hebammen geleiteten Kreißsälen innerhalb einer Klinik. Dem gegenüber stellt Metz-Becker die von Ärzt_innen geführte Klinikgeburt, die nach medizinisch-technischen Gesichtspunkten und ärztlichem Ermessen abläuft, mit stetem Blick auf mögliche Pathologien, im Rahmen der Organisationsstruktur, Hierarchie und Kosten-Nutzen-Zwänge der Institution. Die Verfasserin lässt keinen Zweifel, auf welche Seite ihre Sympathien neigen. Gemeinsam mit der großen Mehrzahl ihrer Interviewpartnerinnen kritisiert sie den übermäßigen Interventionismus bei den Entbindungen, vor allem die – in Deutschland besonders hohe – Kaiserschnittrate und die häufigen PDA-Narkosen.

Doch kommen auch viele weitere interessante Ergebnisse zu Tage. So wird man nebenbei darauf aufmerksam, dass in früheren Zeiten die Frauen oft erst die Geburtshilfe zum Beruf machten, wenn ihre eigenen Kinder herangewachsen waren, während schon die ältere Generation der Interviewten die Ausbildung als junge Frauen begann (17, 46 ff.). Wenn heute die meisten Hebammenschülerinnen Abitur haben und die Ausbildung neuerdings auch in Deutschland auf Hochschul-Niveau durchgeführt wird (254 ff.), kamen Mitte des 20. Jahrhunderts angehende Hebammen nicht selten aus bescheidenen Verhältnissen und konnten den Lehrgang nur dank finanzieller Unterstützung der Gemeinde bezahlen; dafür mussten sie sich verpflichten, eine bestimmte Zahl von Jahren in diesem Bezirk tätig zu bleiben (47 f., 68 f.). Als seit den 1960er Jahren auch die Dorffrauen zur Entbindung in ein Krankenhaus gingen, holten in Orten mit vielen Arbeitsmigrant_innen türkische Gebärerinnen die lokale Hebamme zur Hausgeburt, und sie lernte bei der neuen Klientel das Gebären in der Hocke kennen, das ihr zuvor weder in der Ausbildung noch in der Praxis begegnet war (72 f.). Bei großen Universitätskliniken, die ärztliche Geburtshelfer und Hebammen ausbildeten, gab es bis in die 1970er Jahre sogenannte Hausschwangere, die sich als Gegenleistung für kostenlose Aufnahme – wie zwei Jahrhunderte zuvor – für die Untersuchungsübungen der Praktikanten und Schülerinnen zur Verfügung halten mussten (85 ff.).

So gibt das Buch Einblick in aktuelle Debatten um die Vorzüge und Nachteile verschiedener Arten der Geburtsbetreuung, bringt manche Einsicht in die Veränderungen, die in den vergangenen 70 Jahren auf diesem Feld vor sich gegangen sind, und zeigt vor allem, wie sich dieser „Wandel der Gebärkultur“ in den Erfahrungen von Hebammen niederschlug.