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Aktuelle Rezensionen


Monika Ankele/Benoît Majerus (Hg.)

Material Cultures of Psychiatry

(Histoire 155), Bielefeld 2020, transcript, 416 S. m. Abb., ISBN 978-3-8376-4788-4


Rezensiert von Patrick Pollmer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Anfang Mai 2018 fand in Hamburg die Tagung „Material Cultures of Psychiatry“ statt, deren Beiträge mit dem gleichnamigen Band nun auch gedruckt sowie als open-access-Publikation in englischer Sprache vorliegen. Obgleich sich die beiden Verantwortlichen für Konferenz und das zu besprechende Sammelwerk disziplinär eher der Geschichte der Psychiatrie zuordnen lassen, versammeln sie in ihrem Band ein breites Spektrum von Fachperspektiven. Auf eine besonders anschauliche Art und Weise werden kultur- beziehungsweise materialitätstheoretisch informierte Einblicke in die Alltags- und Wissenschaftspraxen in der Psychiatrie gegeben. Auch wenn Formen der psychiatrischen Fürsorge und Unterbringung kein zentrales Feld einer Empirischen Kulturwissenschaft waren oder sind, kann diese doch in vielfältiger Weise von dem Band profitieren und Impulse aufnehmen.

Noch bevor Monika Ankele und Benoît Majerus in das Werk einführen können, wird die Leser*in durch eine betitelte aber unkommentierte Fotografie Christine Rehdersʼ abgeholt, auf welcher zwei Betonblöcke von einem Nylonstrumpf umspannt werden. Dies ist jedoch nur der erste von mehreren künstlerischen Beiträgen: In verschiedener Manier wird die an den „material turn“ angelehnte Perspektive des Bandes – „[w]hat things do to psychiatry and what psychiatry does to things“ (11) – immer wieder artistisch aufgegriffen und die Frage nach den Materialitäten der Psychiatrie (und deren Rolle) künstlerisch erkundet. Wie der Buchtitel bereits vermuten lässt, handelt es sich bei dieser Anschauungsweise um das, was mittlerweile als Materielle Kultur in das kulturwissenschaftliche Vokabular eingegangen ist: ein praxeologischer sowie in Akteur-Netzwerk-Theorie informierter Blick auf die Dinge umgebenden Praxen und Netzwerke – aber auch auf die agency der Materialitäten selbst. Dadurch sollen schließlich auch soziale Ordnungen und Machtgefüge sichtbar gemacht werden. An diese Grundlegung schließen neun Zeichnungen von Viviane Stopp an, die für den psychiatrischen Alltag beispielhafte Gegenstände und Situationen zeigen.

„Scenography and Space“ ist der Titel des ersten inhaltlichen Blocks, der mit dem Modell einer historischen Isolationszelle von Mascha Deneke beginnt. Im folgenden Beitrag zeigt Kai Sammet – ganz im Sinne der einleitenden theoretischen Fundierung –, welchen Stellenwert Licht und Geräusche im Anstaltsalltag in der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts in Illenau gespielt haben. Seine Untersuchung verschränkt dabei konsequent – und besonders findig – Immaterielles mit Materiellem: Kulturhistorische und symbolgeschichtliche Aspekte klingen an, ohne die architektonisch-physikalischen zu vernachlässigen. In einer ähnlichen Zeitspanne ist Anatole Le Brasʼ Studie angelegt, in der selbstgebaute Schuppen als Räume der Unterbringung psychisch kranker Familienmitglieder in Frankreich im Vordergrund stehen. Dabei betrachtet er sowohl die Skandalisierungen im medialen Diskurs seinerzeit als auch die sozialen Praxen und architektonischen Arrangements. Besonders deutlich wird an diesem Beispiel die Vielschichtigkeit des Phänomens sowie der Kampf um die Legitimität von Praxen psychiatrischer Fürsorge und Unterbringung seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Deutlich großflächiger ist der Bezugsraum bei Linnea Kuglitsch, die aus einer eher archäologischen Perspektive den alltäglichen Umgang mit Naturobjekten aus der Umgebung einer US-amerikanischen Anstalt in den Blick nimmt. Der daran anschließende Text von Lisa Landsteiner widmet sich nach einer kurzen kulturhistorischen Perspektivierung dem Sitzen und den Stühlen in einer psychiatrischen Klinik der Gegenwart. Sehr dicht mit Material aus ihren Feldforschungen und Interviews belegt, analysiert Landsteiner die Selbstverständlichkeit des Sitzens in psychiatrischen Settings und arbeitet heraus, inwiefern Stühle den Raum in diese therapeutischen Settings strukturieren und soziale Ordnungen hervorbringen.

Die Beschreibung einer Performance mit einem aus Stoff geknotetem Stuhl von Raja Goltz führt subtil und metaphorisch passend in den zweiten Themenblock „Transforming Practices“ ein. Monika Ankele greift diesen Faden auf. Am Beispiel zweier Patientinnengeschichten führt sie aus, wie sich der – teils auch destruktive – Umgang mit Textilien in Isolierzellen gestalten konnte, welche Affordanzen in die Materialien selbst eingelassen waren und welche Bedeutungen diesen vonseiten der Patientinnen sowie der Psychiater zugewiesen wurden. Zentral ist für ihre Analyse Heidi Helmholds Konzept der „textile architecture“ (152). Textilien werden in dieser Perspektive zu „media to negotiate between the room and the physicality of the body“ (152). Durch die Allgegenwart jener Medien kam es demnach zu erheblichen Verlusterscheinungen bei den Behandelten, wenn gerade diese entzogen wurden. Besonders sticht in diesem Buchteil der Beitrag von Katrin Luchsinger hervor. Anhand des Beispiels einer Schweizer Patientin um die Wende zum 20. Jahrhundert wird gezeigt, wie deren Handarbeiten mit dem ungewöhnlichen Material Seegras als Kommunikationspraxis innerhalb der Anstalt gelesen werden können. Eine lebhafte Kontextualisierung der Auswirkungen der anstaltspsychiatrischen Unterbringung und Arbeitstherapie lassen die Spezifik des Falles und die allgemeinen Rahmenlinien dabei besonders klar hervortreten. In diese thematischen Kontexte des Umfunktionierens, Transformierens und Neueinbettens fügt sich die Fotografie eines von Lydia Oertelt gefertigten Amuletts aus Brot und Wasser ein. Wie die Einführung von Fernsehapparaten in US-amerikanischen Pflegestationen die Tätigkeiten des Pflegepersonals, Routinen der Gepflegten sowie die Atmosphäre am Point of Care veränderte, lässt sich Louise Hides Ausführungen entnehmen. Die mit der Einführung neuer Geräte zusammenhängenden Veränderungen des Klinikalltags, dessen materieller Kultur und des therapeutischen Wissens werden auch in Max Gawlichs Aufsatz über die technologischen Grundlagen der Elektrokonvulsionstherapie skizziert.

Auch der dritte Buchteil „Agents of Healing“ beginnt künstlerisch mit der Dokumentation einer Kunstinstallation. Das von Daniela Hoge zur Schau gestellte Bett(zeug) soll dabei den Blick auf die materiellen Partizipanden am Heilungsprozess lenken. Jenseits der Anstaltspsychiatrie ist der Aufsatz von Novina Göhlsdorf angesiedelt: Anhand der Lebensgeschichte von Temple Grandin wird gezeigt, wie die von ihr entwickelte Mensch-Maschine-Apparatur einerseits das eigene Körperempfinden und andererseits auch das wissenschaftliche Denken über Störungen des autistischen Spektrums veränderte. Stefan Wulfs Studie über die Bedeutung von Klavieren in der Anstaltspsychiatrie macht deren Relevanz in der Therapie zweier Komponisten deutlich und zeigt einmal mehr, welche Wirkmacht Dinge in der Strukturierung der Anstaltsalltage sowie der Stabilisierung von Identitätsentwürfen besitzen können. Theatralisch und den Block abschließend wird im Beitrag von Michelle Williams Gamaker noch die Rolle von Symbolen und Symbolisierungen als Agenten der Heilung inszeniert, wobei sich die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Input und Performanzkunst gänzlich auflösen.

Fragen der Selbstnarrationen und der körperlichen Erfahrung im Spiegel materieller Kulturen sind im vierten Themenblock „Bodies, Senses, and the Self“ zentral. Dazu wird eine Performance von Anne Wilk über einen „Loss of Identity“ im Rahmen des Lossagens von Dingen vorangestellt. Eine solche Schwellensituation der Abgabe von Gegenständen nimmt auch Marianna Scarfone in den Blick. Anhand eines Lagerraums für die persönlichen Besitztümer psychiatrischer Patientinnen und Patienten versucht sie einerseits deren individuelle Geschichten nachzuvollziehen und andererseits die in den Raum eingeschriebenen symbolischen Verweise – beispielsweise auf den Umgang mit Kleidung in oder die Trennung vom Leben außerhalb der Anstalt – offenzulegen. Sari Kuuva und Kirsi Heimonen verwischen in ihrer Untersuchung die Grenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, wenn sie „the kind of insights and knowledge that emerge when written memories about materialities and material objects are read aloud and accompanied with movement and photographs“ (335) zu ihrem Forschungsfeld machen. Einem klassischeren Wissenschaftsanspruch folgt im letzten Beitrag dieses Buchteils Maia Isabelle Woolner, die hier unter anderem die Quantifizierung und Übersetzung von Symptomen psychiatrischer Erkrankungen in Diagramme zu ihrem Thema macht. Dabei werden nicht nur die Verschiebungen der ärztlichen Blicktechnik im Umgang mit Diagrammen, sondern auch die vielschichtigen wissenschaftsgeschichtlichen Begleitumstände deutlich.

Den Abschluss bilden eine kurze Einlassung von Céline Kaiser, die noch einmal die künstlerischen Lehrprojekte umreißt und perspektiviert sowie ein studentisches Dokumentartheaterstück, das von Anna Urbach (jetzt Siemens) angeleitet wurde.

Im Rahmen dieser Buchbesprechung fällt es schwer jedem Beitrag des abwechslungsreichen Bandes gerecht zu werden und jeden in seiner inhaltlichen Tiefe abzubilden. Wenn man auf die Suche nach Ansatzpunkten für Kritik gehen würde, könnte man sich mancherorts noch weitere Perspektiven wünschen – beispielsweise hätte bei der Thematisierung von Ausnahmemusikern in der Anstalt der allgemeine Stellenwert von Musik im Anstaltsalltag angerissen werden können. Dies sind jedoch Marginalien. Letztlich glänzen die Aufsätze durch eine hohe Informationsdichte und die konsequente Orientierung am „material turn“, wodurch sie viel Licht ins Dunkel der psychiatrischen Alltagskulturen bringen. Impulse für ein empirisch-kulturwissenschaftliches Fachpublikum liegen hierbei nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene – wenngleich sich Transfergedanken zu anderen Feldern der Kulturanalyse des (gebauten) Raumes, der Architektur oder des Wohnens nahezu aufzwängen. Vielmehr zeigt der Band, wie gelungene und geistig anregende Wissenschaftskommunikation in Publikationsform aussehen kann.