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Rudolf Leeb/Astrid Schweighofer (Hg.)

Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion? Religion, Weltanschauung und Moderne in Wien um 1900

(Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 20), Göttingen 2020, V & R unipress, 432 S. m. Abb., ISBN 978-3-8471-1143-6


Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Dieser Sammelband, herausgegeben von Rudolf Leeb und Astrid Schweighofer, geht auf eine Tagung der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien aus dem Jahre 2018 zurück, die versucht hat, „das Verhältnis von Moderne und Religion um 1900 für eine der wichtigsten damaligen europäischen Metropolen näher zu bestimmen“ (7). Im Vordergrund standen dabei die beiden Fragen, welche Rolle Religion und Religiosität für die Moderne spielten und ob die Moderne möglicherweise selbst „religionsproduktiv“ gewesen sei. Gleich vorweg: Auch dieses Buch beantwortet keine der beiden Fragen, wobei einer der Gründe dafür ist, dass man sich elegant um eine Definition von „Moderne“ herumdrückt. Da es in der Wissenschaft generell keine Einigkeit über eine inhaltliche Bestimmung von „Moderne“ gebe, so die Einleitung, könne der Begriff eben auch nicht analytisch verwendet werden. Als kleinster gemeinsamer Nenner jedoch – vielleicht kein schlechter Ansatz – wird auf eine, der Moderne immanente, dreifache Verlusterfahrung verwiesen: Kulturfragmentierung, Bedeutungspluralismus, Subjektivismus; was ein wenig, vielleicht auch absichtlich, an aktuelle Befindlichkeiten erinnert. Und Wien, als eine der größten damaligen Metropolen und als Hauptstadt eines Vielvölkerstaates eine der bedeutendsten Drehscheiben für eine Vielfalt an heterogener Lebensgestaltung und Kulturerfahrung, kann tatsächlich exemplarisch für das Thema Moderne und Religion stehen.

Die dreifache Verlusterfahrung zieht sich dann tatsächlich nicht nur durch die Themen der 16 Beiträge, sondern – zumindest Pluralismus und Fragmentierung – spiegelt sich auch in den Abschnitten des Inhaltsverzeichnisses wider. Während der erste noch relativ formal und theoretisch rechtliche und begriffliche Annäherungen an Religion und Weltanschauung behandelt, befasst sich der zweite Abschnitt mit der Rolle der „großen Religionen“ in Wien, dem Judentum, dem Katholizismus, dem Protestantismus und – ja, tatsächlich – auch dem Buddhismus, obwohl Letzterer, nimmt man die geläufigen Definitionen von „Religion“, nicht unbedingt als Religion gelten muss, da ihm eine positive Jenseitsvorstellung fehlt. Zudem gab es zumindest in Wien kaum Buddhismus praktizierende Personen und keine buddhistischen Gemeinschaften, sondern eher eine Art literarisch geprägten bürgerlichen Salonbuddhismus. Daher hätte der Beitrag über Buddhismus eher zum dritten Teil des Buches gepasst, der alternativreligiöse Gruppen und Initiativen wie Theosophie, Anthroposophie, völkische Religionen und Okkultismus verhandelt und deren Asienrezeption – und sei es auch nur die umgekehrte Ex Occidente Lux-Rezeption der Völkischen – wesentlich vom Buddhismus, oder von dem, was man über die wenigen (eher literarischen) Übersetzungen der Reden Buddhas und des Buddhistischen Katechismus damals davon zu wissen glaubte, beeinflusst worden ist. Der vierte und letzte Abschnitt des Sammelbandes befasst sich schließlich mit religiösen, alternativreligiösen und philosophischen Positionen in der Wiener Malerei, der Musik und der Literatur der vorletzten Jahrhundertwende, wobei der Beitrag zu dem lebensreformerischen Maler Karl Wilhelm Diefenbach merkwürdigerweise nicht hier positioniert wurde, sondern in den dritten Teil über die alternativreligiösen Strömungen.

Hochinteressant ist, dass den, auch zahlenmäßig, „großen“ christlichen Religionen und dem Judentum – immerhin lebten in Wien um 1900 etwa 150 000 jüdische Personen – mit 150 Seiten ein vergleichsweise geringer Raum überlassen wurde, die alternativreligiösen Gruppen aber zwei Drittel des Buchs beherrschen; vor allem, weil die rein zahlenmäßige Summe jener Personen – das hat der Religionswissenschaftler und Historiker Helmut Zander, der hier auch vertreten ist, an anderer Stelle einmal nachgezeichnet – sich damals nur im Promillebereich bewegt hat. Ihr Einfluss war im Rahmen der damaligen Religionspraktiken – im Grunde wie heute – demnach äußerst gering. Dennoch waren gerade sie es, die vor dem Hintergrund der modernen, auf religiöser Ebene mit der biblischen Schöpfungsgeschichte konkurrierenden Naturwissenschaften alternative, Wissenschaft und Glauben versöhnende Deutungsangebote machten, die zumindest im bürgerlich-alternativen Milieu nicht nur in Wien durchaus eine Anhängerschaft besaßen.

Der Sammelband – ironischerweise von der theologischen Fakultät herausgegeben – befasst sich also weit weniger mit den arrivierten Religionen, als vielmehr mit Weltanschauungen und Deutungsmustern alternativreligiöser oder dezidiert religionskritischer Daseins- und Weltsichten. Aber dafür versammelt das Buch auch hochkarätige Fachleute auf diesem Gebiet. Mit Reinhard Farkas (Lebensreform), Claudia Wagner (Diefenbach), Uwe Puschner (völkische Religion), Helmut Zander (Anthroposophie) und Karl Baier (Okkultismus) kommen diejenigen ausgiebig zu Wort, die die einschlägigen Themen und Diskurse seit vielen Jahren beherrschen und prägen. Allein das macht den Band zu einem wichtigen wissenschaftlichen Baustein zum Thema Moderne und Religion.