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Christiane Cantauw/Anne Caplan/Elisabeth Timm (Hg.)

Housing the family. Locating the single-family home in Germany

Berlin 2019, Jovis, 327 S. m. Abb., ISBN 978-3-86859-543-7


Rezensiert von Susanna Azevedo und Raphaela Kohout
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Der im Jovis-Verlag erschienene Sammelband „Housing the family. Locating the single-family home in Germany“, herausgegeben von Christiane Cantauw, Anne Caplan und Elisabeth Timm, deckt ein umfangreiches Spektrum an methodischen und disziplinären Perspektiven auf das Einfamilienhaus beziehungsweise auf Einfamilienhaushalte in Deutschland ab und bezieht sich dabei theoretisch auf die New Housing Studies (8). Die Forscher*innen untersuchen die Thematik sowohl in historischen als auch in gegenwartsbezogenen Studien innerhalb der Kultur-, Sozial-, Geistes- und Technikwissenschaften. Der Sammelband basiert auf den Beiträgen der internationalen Abschlusskonferenz des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Forschungsverbunds „Der Lauf der Dinge oder Privatbesitz? Ein Haus und seine Objekte zwischen Familienleben, Ressourcenwirtschaft und Museum“, in dem von April 2015 bis März 2018 Forschungs- und Ausstellungsprojekte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Volkskundlichen Kommission für Westfalen, der FH Münster und des Museumsdorfs Cloppenburg zu dieser Thematik gefördert wurden.

In einem umfangreichen und informativen Einleitungskapitel arbeitet Elisabeth Timm die Spezifika des Einfamilienhauses in Deutschland anhand struktureller Daten und der ökonomischen sowie sozio-kulturellen Besonderheiten sorgfältig heraus. Darunter fällt beispielsweise die Einsicht, dass das Einfamilienhaus in Deutschland, anders als in anderen nationalen Kontexten, weniger als Investitionsobjekt verstanden wird, sondern viel eher als symbolisch aufgeladenes intimes Gut gilt, das ein Leben lang in Besitz bleibt. Timm reflektiert unter anderem auch kritisch den prominenten Platz des selbstverständlich vorausgesetzten Einfamilienhaushalts in der deutschen Sozialtheorie und der Philosophie, welcher normativ mit dem „male breadwinner“ und seiner Familie in Verbindung steht. Ausgehend davon untersuchen die Forscher*innen das Einfamilienhaus als historisch gewordene Wohnform, die in der Nachkriegszeit zunehmend an Popularität gewonnen hat und laut Meinungsumfragen noch immer die präferierte Wohnform in Deutschland darstellt; dies resultiert in einer großen Nachfrage nach neu gebauten Einfamilienhäusern. Die Beiträge verweisen aber auch auf gesellschaftliche und andere demografische Wandlungsprozesse, die dazu führen, dass Kommunen vor der zunehmenden Herausforderung leerstehender Einfamilienhäuser in ländlichen und suburbanen Regionen stehen. In Anbetracht dieses Spannungsverhältnisses versuchen die Herausgeber*innen und Forscher*innen die Selbstverständlichkeit des Einfamilienhauses als bevorzugte Wohnform zu hinterfragen, ohne dabei populäre Lebens-, Wohn- und Ästhetikpräferenzen abzuwerten. Im Kontext sozialer, kultureller, politischer, ökonomischer und ökologischer Wandlungsprozesse spricht sich die Mehrheit der Autor*innen in ihren Beiträgen aber deutlich für neue Politiken zum Umgang mit dem Einfamilienhaus aus. 

Der erste Teil umfasst Aufsätze, die sich vergleichend mit der Perspektive der Bewohner*innen von Einfamilienhäusern in unterschiedlichen Lagen (urban, suburban, ländlich) auseinandersetzen. Katherin Wagenknecht zeigt aus einer urbanistischen Perspektive und anhand von qualitativem Interviewmaterial, dass die alltäglichen Praktiken und Werte des Bauens, Entscheidens und Lebens in einem Einfamilienhaus nicht nur durch die Präferenz dieses Gebäudetyps bedingt sind, sondern auch vom Markt, der Lokalität mit ihren spezifischen kulturellen und ökonomischen Strukturen und auch durch Familienideale beeinflusst werden. Die Künstlerin Folke Köbberling skizziert sechs Wohnportraits von Familien in Einfamilienhaushalten, die sie entlang von Fragen zur Wohnbiografie sowie zu der alltäglichen Lebens- und Wohnsituation strukturiert. Die Architektin und Planerin Inken Tintemann fokussiert mittels der Ergebnisse ihrer qualitativen Studie zu Wohnentscheidungen von Familien auf die Stärken sowie Schwächen des urbanen und suburbanen Familienlebens und hebt den verschiedenen Umgang ihrer Forschungsteilnehmer*innen mit räumlichen und sozialen Ressourcen hervor. Die Designerin Anne Caplan und die Urbanistin Katherin Wagenknecht zeigen anhand von 40 Fallstudien Unterschiede der Familienlifestyles und der kulturellen Werte zwischen dem Bauen eines neuen Einfamilienhauses und dem Kauf eines Secondhand-Einfamilienhauses auf.

Im zweiten Abschnitt werden mittels unterschiedlicher Methoden sowohl die Genese als auch die ökonomischen und ökologischen Folgen der symbolischen Bedeutung von Einfamilienhäusern als Form der Individualisierung untersucht. Johannes Warda zeigt in einer historischen Kontextualisierung der 1970er bis 1990er Jahre wie in dem Werbemagazin „mosaik“ der auf Hauskredite spezialisierten Bausparkasse Schwäbisch Hall das Einfamilienhaus zwischen den vorherrschenden, teils widersprüchlichen Trends von Bewahrung und Wiederverwertung einerseits und Bau eines Eigenheims als Selbstverwirklichung andererseits, folglich als individualistischer Altbau-Umbau, beworben wurde. Die darauffolgenden Beiträge von Christiane Cantauw und Jakob Smigla-Zywocki untersuchen aus europäisch-ethnologischer Perspektive, warum Personen sich für den Kauf einer bereits bestehenden Immobilie entscheiden und welche kulturellen, oft dichotomischen Ideale mit Miete versus Wohnungseigentum verbunden sind, ohne dass der tatsächliche Kosten- und Schuldenbetrag dabei eine Rolle spielt. Die Bauingenieur*innen Sabine Flamme und Gotthard Walter analysieren das Einfamilienhaus in Bezug auf dessen Ressourcenaufwand und verweisen dabei auf entstehende anthropogene Vorräte, geführt unter dem Begriff „Urban Mining“, und deren wachsende Bedeutung, um einen stetig steigenden Ressourcenbedarf decken zu können.

Die Beiträge im dritten Teil beschäftigen sich mit den Implikationen ästhetischer Prinzipien und damit, wie sich kulturelle und symbolische Bedeutungen materialisieren. Kunstwissenschaftlerin Johanna Hartmann untersucht dafür die Darstellung der „modernen Wohnung“ in Einrichtungsmagazinen und Wohnausstellungen in der Nachkriegszeit und verweist auf die große symbolische Bedeutung des traditionellen Einfamilienhauses für die Vermittlung der idealen modernen westdeutschen Wohnung. Architekturwissenschaftlerin Julia Gill und Designerin Anne Caplan beschäftigen sich mit dem Aufkommen des Fertighauses als Luxusobjekt ab den 1990er Jahren und zeigen, wie das Fertighaus individualisiert vermarktet wurde und nicht zu einer prognostizierten Standardisierung geführt hat. Caplan erweitert den Untersuchungsgegenstand um Autoabstellplätze, da sie im Aufkommen der vermehrten Autonutzung die Voraussetzung für den Erfolg der Einfamilienhauspolitik in Deutschland erkennt. Sie thematisiert zudem aus kulturwissenschaftlicher und genderkritischer Perspektive die vermittelten Rollenbilder und das heteronormative Idealbild der Familie.

Der vierte Teil diskutiert unterschiedliche Formen des Einfamilienhauses im globalen Kontext. Die Architektin Carola Ebert kontextualisiert in Hinblick auf sozio-ökonomische sowie politische Entwicklungen der 1950er und 1960er Jahre das Aufkommen des Bungalow-Einfamilienhauses nach kalifornischem Vorbild, das als Wohnideal der Wirtschaftswunderdekade in Deutschland galt. Sophie Chevalier untersucht die weit verbreitete Praktik der französischen Mittelschicht, zwei Wohnsitze zu haben. Kulturanthropologisch argumentierend zeigt sie insbesondere die Bedeutung der Häuser am Land als Materialisierung der familiären Identität. Der Anthropologe Marcel Vellinga verdeutlicht anhand der Transformationen des matrilinear orientierten Mehrfamilienhaushaltes der Minangkabau und des Aufkommens des Einfamilienhauses auf Sumatra die Wichtigkeit, Traditionen als Wandlungsprozesse zu verstehen und auf das Zusammenspiel sozialer, ökonomischer und umweltbezogener Kontexte und menschlicher Intentionen und Handlungen zu konzentrieren.

Den Herausgeberinnen ist mit diesem vielfältigen Sammelband in beeindruckender Weise gelungen, das Einfamilienhaus als eine komplexe, historisch gewachsene Konfiguration aus widersprüchlichen Ideologien und Politiken, der Reproduktion heteronormativer Geschlechter- und Familienbilder und Imaginationen von Tradition und Modernität darzustellen und kritisch zu reflektieren. Die unterschiedlichen methodischen sowie disziplinären Zugänge der Forscher*innen stehen in einem produktiven Dialog miteinander: So werden Politiken und rechtliche Reglementierungen, bauliche Strukturen, Ästhetiken und Materialien, populäre Abhandlungen und Alltagsdiskurse, Alltagspraktiken sowie subjektive Selbstverständnisse und -deutungen zueinander in Beziehung gesetzt.

Für die weiterführende Forschung wäre es interessant, stärker auch quantitative Daten zur Haushaltszusammensetzung in Einfamilienhäusern mit zu berücksichtigen. Mit wenigen Ausnahmen wird nicht oder nur implizit auf unterschiedliche Lebensformen im Einfamilienhaus abseits der heteronormativen Kernfamilie Bezug genommen. In Anlehnung daran wird der Familienbegriff mit wenigen Ausnahmen selbsterklärend verwendet und nicht thematisiert, dabei wäre eine vertiefende und explizierende Auseinandersetzung interessant gewesen, zumal in der Einleitung aufgezeigt wird, dass die normative Vorstellung des Einfamilienhauses eng mit den Vorstellungen des „male breadwinner“-Familienmodells verbunden ist.

Insgesamt gelingt es aber, sowohl innerhalb der einzelnen Beiträge als auch dem Sammelband in seiner Zusammensetzung, das Einfamilienhaus beziehungsweise die Einfamilienhaushalte in deren sozialen, kulturellen, politischen, ökologischen und ökonomischen Zusammenhängen, also in ihrer Komplexität zu beleuchten und damit einen wertvollen Beitrag für die Forschung zu leisten. Dabei bietet die Publikation nicht nur Erkenntnisse für Forschende, die sich mit dieser spezifischen Wohnform beziehungsweise mit der Wohnforschung allgemein beschäftigen, sondern ebenso für interdisziplinär Forschende mit anderen Themenschwerpunkten. Denn der Sammelband steckt voller wertvoller analytischer sowie methodischer Werkzeuge und stellt Bezugspunkte zu Themen wie Klimaveränderung, Globalisierung, Migration, Technologieentwicklung, Urbanisierung etc. her und untersucht auch deren Einfluss auf die Intentionen und Handlungen von Akteur*innen – ein Zugang, der nicht nur für eine kulturwissenschaftliche Forschung produktiv und wünschenswert ist.