Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Judith Schmidt

Kalkulierte Mobilität. Ökonomische und biographische Perspektiven auf Saisonarbeit

(Arbeit und Alltag 20), Frankfurt am Main 2021, Campus, 281 S. m. Abb., ISBN 978-3-593-51448-2


Rezensiert von Mathias Wagner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Innerhalb des Spektrums unterschiedlicher Migrationsformen stellt die zeitlich befristete Arbeitsmigration eine Besonderheit dar. Während es sich einerseits um ein quantitativ umfangreiches Phänomen handelt, werden andererseits die Saisonarbeiter_innen erst wahrgenommen, wenn sie fehlen, wie zum Beispiel Erntehelfer_innen aufgrund pandemiebedingter Reisebeschränkungen. Jenseits direkter Erfahrungen nimmt man die jederzeit verfügbaren preiswerten Lebensmittel als Selbstverständlichkeit wahr, während die Erntebedingungen unsichtbar bleiben. Um welche Dimensionen es sich handelt wird deutlich, bedenkt man, dass von Äpfeln über Erdbeeren und Spargel bis zu Gurken oder Weintrauben keine Früchte ohne Saisonkräfte verfügbar wären. Seit den 1990er Jahren wird die staatenübergreifende zeitlich befristete Migration osteuropäischer Arbeiter_innen mit unterschiedlichen methodischen und theoretischen Ansätzen untersucht. Unter dem treffenden Titel „kalkulierte Mobilität“ gelingt es der Mainzer Kulturanthropologin Judith Schmidt mit ihrer Dissertation in diesem Forschungsbereich eigene Akzente zu setzen.

Eingebettet in historische und globale Strukturen beschreibt sie Motivationen und Handlungsspielräume deutscher Landwirt_innen und rumänischer Arbeitsmigrant_innen. Im Fokus ihrer Arbeit steht die Frage des strukturellen Zusammenspiels sesshafter deutscher Landwirt_innen und mobiler rumänischer Arbeitsmigrant_innen. Judith Schmidt führte Expert_inneninterviews mit Landwirt_innen aus der rheinland-pfälzischen Region um Mainz sowie biografische Interviews mit rumänischen Arbeiter_innen. Letztere kontaktierte sie sowohl an ihren Arbeitsplätzen in Deutschland als auch den rumänischen Heimatorten. Eine Konzentration auf landwirtschaftliche Betriebe in der Region um Mainz hat den Vorteil, Höfe mit Sonderkulturen und Gemüseanbau untersuchen zu können, die auf saisonale Arbeitskräfte angewiesen sind. Die Mechanisierung der Erntearbeiten sowie der Auspflanzungen sind in diesen Bereichen nicht möglich. Damit bilden Betriebe im Sonderkulturanbau eine gute Ausgangsposition zur exemplarischen Untersuchung der landwirtschaftlichen Arbeitsmigration.

Saisonale Arbeitsmigration von Osteuropa nach Deutschland hat ohne Zweifel seit den 1990er Jahren zugenommen. Während vergleichbare Untersuchungen die Situation polnischer Arbeitsmigrant_innen in den Fokus stellten, gibt es zu Saisonkräften aus Rumänien nur wenige Arbeiten. Bis Ende der 2010er Jahre kam die weit überwiegende Anzahl der temporären Arbeitskräfte aus Polen. Erst in den letzten Jahren nimmt deren Zahl ab und die freiwerdenden Arbeitsplätze werden zunehmend von Rumän_innen übernommen. Gleichwohl überschätzt Schmidt deren Umfang, wenn sie für 2011 93,4 Prozent rumänische Saisonkräfte in der deutschen Landwirtschaft angibt, denn die Prozentzahlen resultieren aus dem Wegfall der Registrierungspflicht für polnische Arbeitskräfte.

Ausführlich beschreibt die Autorin die historische Dimension zwischenstaatlicher europäischer saisonaler Arbeitsmigration. Deutlich wird hier, wie schwierig es ist, das Phänomen begrifflich zu fassen. So suggeriert der Begriff von Saisonarbeit die zeitliche Befristung auf einen Sommer oder eine Erntesaison. Wie aber die Beispiele der rumänischen Arbeitsmigrant_innen Ana und Cosmin zeigen, kann die pendelnde Arbeitsmigration auch ganzjährig ausgeübt werden. Schmidt betont dabei die Vorläufigkeit der saisonalen Migration und analysiert sie als ein biografisches Projekt. Projektcharakter hat die Lebensweise der Saisonarbeiter_innen, da sie als begrenzte Phase im Lebenslauf aufgefasst wird, wobei sie sich zeitlich auch über mehrere Jahre erstrecken kann. Bemerkenswert ist die strukturelle Kontinuität der saisonalen Migration. Unabhängig von der Aufenthaltsdauer am Arbeitsort und der geografischen Herkunft der Migrant_innen kennzeichnet saisonale Migration die Trennung von heimatlichem Wohnort, der zugleich Lebensmittelpunkt ist, und einem Arbeitsort, der als Übergang wahrgenommen wird.

Mit dem Begriff der Rahmung gelingt es Schmidt, Landwirt_innen und Arbeitsmigrant_innen auf einer strukturellen Ebene zu vergleichen. Zum einen handelt es sich um eine narrative Rahmung, bei der auf historische Kontinuitäten zurückgegriffen wird. Für die Landwirt_innen strukturiert die Generationsfolge ihre aktuellen ökonomischen Handlungen. Die rumänischen Arbeitskräfte stellen eine zeitliche Dimension her, indem sie ihre jetzige Lebenssituation mit der Zeit unter Ceauşescu vergleichen. Zugleich gilt ihre Perspektive einer Verbesserung des Lebensstandards in Rumänien. Zum anderen identifiziert Schmidt in Kalkulationserzählungen eine zweite Rahmung. Dabei handelt es sich nicht nur um direkt ökonomische Abwägungen von Kosten und Nutzen, sondern es gehen auch soziale Faktoren, mit denen die Arbeits- und Aufenthaltsatmosphäre der Arbeiter_innen verbessert werden können, in die Überlegungen der Landwirt_innen ein. Die Verbindung von ökonomischen mit affektiven Motivationen wird auf Seiten der rumänischen Saisonarbeiter_innen im Abwägen von Belastungen und dem erwirtschafteten materiellen Gewinn deutlich.

Die Differenzierung unterschiedlicher Handlungsebenen ermöglicht es der Autorin, die Erzählungen der Landwirt_innen zwischen Abhängigkeiten und Entscheidungskompetenzen zu analysieren. Die Landwirt_innen stehen im Spannungsfeld zwischen der lokalen Bindung ihrer Betriebe und der Abhängigkeit von der Entwicklung des Weltmarktpreises der Produkte, die zudem durch die Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel verschärft wird. Schmidt beschreibt eine „Verliererinszenierung“ (113), die bei den Landwirt_innen aus dem Gefühl der Ohnmacht entstünde. Zwischen den ungleichen Akteur_innen, den sesshaften Landwirt_innen und den mobilen Saisonarbeiter_innen, lassen sich aber auch strukturelle Gemeinsamkeiten analysieren. Schmidt verortet diese in der Verbindung einer ökonomisch motivierten Kalkulation mit den (familien-)biografischen Abwägungen. Bei allen Akteur_innen stehen die beiden Felder der wirtschaftlichen Überlegungen und biografischen Motivationen in einem sich wechselseitig bedingenden Zusammenhang. Während die Landwirt_innen ihre Betriebe in der Generationenfolge erhalten wollen, stehen die wirtschaftlichen Überlegungen der rumänischen Saisonarbeitskräfte in einer historischen Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft. Obwohl die Landwirt_innen ihre Ohnmacht gegenüber wirtschaftlichen Anforderungen und staatlichen Reglementierungen betonen, verfügen sie auf der betrieblichen Ebene über Handlungsoptionen. Dazu gehört die Einstellung saisonaler Arbeitskräfte ebenso wie in eingeschränktem Maße die Direktvermarktung.

Die Forschung gilt weiter den Dimensionen der Kontaktzone, in der die Akteur_innen ihre unterschiedlichen Interessen aushandeln. Schmidt analysiert hier ein „hegemoniales Beziehungsgeflecht“ (224) mit dominanter Stellung der Arbeitgeber_innen. In einer ethnografisch geleiteten Interpretation erkennt sie in der räumlichen Aufteilung zwischen Arbeit und Freizeit ein „Diktat der Arbeitgeber“ (225). Während diese Interpretation sehr pointiert ist, wird aber auch die Handlungsmacht von Saisonarbeiter_innen als ausgesprochen stark beschrieben. Die Aussage, Saisonarbeitskräfte würden sich „bei Missfallen einen anderen Arbeitsort suchen“ (252), ist allerdings fraglich. Real schränken fehlende Sprachkenntnisse und Kontakte sowie daraus erwachsende Unsicherheiten die Arbeitsplatzsuche ein. In Verbindung mit einer Gewöhnung an Arbeitskolleg_innen, die man jedes Jahr wieder trifft, führt dies dazu, auch Betrieben mit schlechten Arbeitsbedingungen die Treue zu halten. Sollte es sich aber um eine spezifische Handlungsweise rumänischer Arbeiter_innen handeln, so bleibt undeutlich, woraus deren Flexibilität entsteht.

Offen bleibt in der Arbeit, woher die unterschiedliche Beurteilung von polnischen und rumänischen Arbeitskräften durch die Landwirt_innen kommt, die sich in deren Perspektive in ihrer Arbeitsethik unterscheiden. Schmidt gibt einen vagen Hinweis auf mögliche Erklärungen, wenn sie eine unterschiedliche Aneignung des Raumes durch Pol_innen und Rumän_innen beschreibt. Es scheint, als würden Rumän_innen über eine stärkere „Handlungsmacht“ gegenüber ihren deutschen Arbeitgeber_innen verfügen.

Die Qualität der Arbeit liegt in der ethnografischen Perspektive, die ausgehend von individuellen Motivationen und Handlungsstrategien auf globale Verflechtungen verweist. Hier zeigt sich, in welchem Maße eine kapitalistische Agrarwirtschaft auf Arbeitsmigrant_innen angewiesen ist, die trotz relativ niedriger Löhne eine hohe Arbeitsmotivation besitzen. Zugespitzt kann man auch formulieren, dass innerhalb der EU die starken Differenzen im Lebensstandard zur ökonomischen Stabilität beitragen. Jedoch bleibt dabei fraglich, ob sich aus der Beschreibung von Arbeitsmigrant_innen als „Unternehmer*innen ihrer Arbeitskraft“ (209) ein analytischer Mehrwert ergibt. Schließlich ließen sich kalkulatorische Überlegungen entlang von Gewinn und Aufwand sowie Arbeitsbedingungen auf die Mehrzahl der Arbeitnehmer_innen übertragen.