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Rebecca Niederhauser

Gemeinsam wohnen. Kulturwissenschaftliche Blicke auf das Alter im Umbruch

(Zürcher Beiträge zur Alltagskultur 26), Zürich 2020, Chronos, 318 S., ISBN 978-3-0340-1577-6


Rezensiert von Nicole Zielke
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Im Alter von 18 Jahren besucht Rebecca Niederhauser ihre Großmutter im Altenheim. „Graues Linoleum, weiße Wände. Die Bilder fehlen. […] Es riecht nach Desinfektionsmitteln, aber auch nach Urin, es riecht nach alten Menschen, es riecht nach Alter. Manchmal schreit jemand um Hilfe oder ruft Unverständliches.“ (7) Dieser Besuch hat die Autorin dermaßen geprägt, dass sie sich in ihrer Promotionsarbeit dem Thema Wohnen im Alter beziehungsweise neuen gemeinschaftlichen Wohnformen für das Alter(n) widmete. Niederhausers persönlicher Zugang und ihre Auseinandersetzung mit gemeinschaftlichen, vor dem Hintergrund der Erfahrung institutionalisierten Wohnformen bildet die Klammer des Buches, in dem sie im Prolog ihre eigene Erfahrung schildert und im abschließenden Epilog noch einmal einer anderen Sichtweise auf das Wohnen im Altenheim Raum gibt. Denn im Epilog entwirft Elsa Schmitt ein ganz anderes Bild von einem Altenheim: das voller Aktivitäten, Engagements, von Eigeninitiative, Selbstbestimmung und Teilhabe geprägt ist. Damit macht Rebecca Niederhauser noch einmal deutlich, dass nicht nur in Bezug auf alternative Wohnmodelle im Alter (Quartiersprojekte, Mehrgenerationenhäuser, Haus- und Wohngemeinschaften etc.), sondern auch auf das stationäre Wohnen Veränderungen zu verzeichnen sind. Dennoch bleibt es für viele Personen erstrebenswert, sich bis zum Lebensende alleine beziehungsweise mit externer Unterstützung versorgen zu können und in seinen „eigenen vier Wänden“ zu sterben. Ein Umzug ins Alten- und Pflegeheim kommt erst dann in Frage, wenn es die materielle Not oder die körperliche Verfasstheit erzwingen (vgl. Elisabeth Niejahr: Alt sind nur die anderen: So werden wir leben, lieben und arbeiten. Frankfurt am Main 2005, S. 156).

Jedoch ist nicht nur das Wohnen im Alter im Umbruch begriffen, sondern auch das Alter im Allgemeinen. Angesichts des demografischen Wandels und der institutionellen Konstruktion von „Alter“ und „Altern“ und der damit einhergehenden Zweiteilung der Altersphase in ein „drittes, junges und gesundes“ sowie in ein „viertes Alter“ der stärker durch Krankheit, Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit geprägten Hochaltrigkeit, muss der Prozess des Alterns neu verhandelt und gedeutet werden. Ausgangspunkt für Rebecca Niederhauser ist die Feststellung, dass Alter ein kulturelles Konstrukt, eine kulturelle Variable ist, deren Interpretation mit den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen und Bedingungen wie zum Beispiel der Arbeit und dem Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen zusammenhängt. Die Selbstkonzepte von „Alter“ und „Altern“ drücken sich in persönlichen Altersbildern und -erzählungen, subjektiven Altersidentitäten, verinnerlichten Altersnormen, aber auch in Wohnkonzepten, der Aneignung von Räumen und der Beziehung zu persönlichen Gegenständen aus. „In gemeinschaftlichen Wohnweisen manifestieren sich die neu verhandelten Deutungen von Alter und Altern.“ (13) Diese Selbstentwürfe entstehen in einem lebenslangen Wechselverhältnis von institutionellen und kulturellen Alter(n)skonstruktionen und der Reflexion eigener biografischer Erfahrungen und Erlebnisse. Am Beispiel gemeinschaftlichen Wohnens fängt das Buch die Vielfalt sich verändernder Alterswirklichkeiten ein und entwirft das Alter(n) als ein immer wieder neu zu verhandelndes Konzept. Denn es gibt nicht nur ein Alter, sondern die Alter – Altern als ein mehrstimmiger Plural verstanden (149).

Mit einem ethnografisch-kulturanalytischen Zugang versucht die Autorin in Forschungsgesprächen die je eigene Perspektive der Forschungssubjekte, ihre inneren Befindlichkeiten, die Selbstdeutungen und die Verhandlung des Alters im Kontext gemeinschaftlichen Wohnens zu erfassen. Dabei ist sie als Forscherin selbst Gesprächspartnerin und damit wesentlich in den Prozess des Erforschens involviert.

Ihrem Forschungsinteresse nähert sie sich zirkulär-dekonstruierend, das heißt in einem nicht linear-chronologischen Erkenntnisprozess an. Für ihre dichte Beschreibung greift Niederhauser auf das Vokabular des Dispositivs nach Michel Foucault zurück. Der Dispositivbegriff dient ihr als Denkfigur, das Alter jenseits von Biologismen, als ein Resultat subjektiv-individueller Selbstdeutungen auf der einen Seite und institutioneller Wirklichkeiten (Dinge, Normen, Wissensbestände, Deutungsangebote, Technologien, Performanzen, Bedeutungszuschreibungen) auf der anderen Seite beschreiben zu können (56). Zudem ermöglicht ihr der Dispositivbegriff nicht nur, das Nichtgesagte in den Forschungsgesprächen und Alterserzählungen, die Dinge und das Tun zu berücksichtigen, sondern auch, die gesellschaftlichen sowie wissenschaftlichen Konstruktionen und Konstrukteur*innen zu betrachten. Kritisch beleuchtet sie den Einfluss von Gerontologie, Geriatrie und von Forschungsmethodiken auf die Konstruktion und Reproduktion von Alter(n). Die Gerontologie entwirft das Alter als defizitär und als etwas zu Bewältigendes, wohingegen die Geriatrie das Alter biologisch-genetisch und medizinisch pathologisiert. In den Wissenschaften wird das Alter als das Andere konstruiert. Damit werden Wahrheiten und Dispositive hervorgebracht.

In den Altersnarrationen der Gesprächspartner*innen wird das Alter als eine Phase zwischen körperlicher Sicht- und gesellschaftlicher Unsichtbarkeit thematisiert. Den körperlich-leiblichen, kognitiven und sozialen Verlusterfahrungen stellen sich die Interviewpartner*innen, indem sie Alter als eine zu bewältigende Aufgabe deuten und ihre nachberufliche Phase für politisches Engagement, Sport und neue Hobbies nutzen. Damit entziehen sich die Gesprächspartner*innen aber auch den Ängsten, Verlusten und Prozessen des Loslassens im Altern. Diese werden eher selten thematisiert und oft durch zum Teil blasphemische Kommentare zur Diskussion des Alters in den Medien verdeckt. Alt sind sowieso die anderen beziehungsweise das Altsein kommt später. „Ihr Alter ist noch nicht und jetzt schon, zugleich jetzt und später, zugleich früher und heute.“ (283) Dabei spielt die Differenzierung zwischen Wissen und Fühlen eine entscheidende Rolle: Die befragten Personen wissen zwar um ihr Alter und die körperlich-leiblichen und sozialen Transformationsprozesse, aber sie fühlen sich noch nicht entsprechend der Zuschreibungen und Anrufungen, die an sie herangetragen werden. Der Autorin zufolge bewegen sich die befragten Personen in ihren Alterserzählungen innerhalb des Dispositivs. Sie verlassen dieses nicht und folgen ihm dennoch nicht. Sie entwickeln eigene Selbstentwürfe im Dazwischen des Dispositivs. Daher kommt Rebecca Niederhauser zur Schlussfolgerung, dass das Alter als konstruktivistischer Plural zu verstehen ist, als Vielstimmiges, Gleichzeitiges, Ungleiches, Mehrdeutiges, Widersprüchliches (140).

Themen wie Tod und Sterben, Krankheit und Einsamkeit, die in den Altersnarrationen nicht sagbar waren, werden hingegen in den Erzählungen über das Wohnen und die Gestaltung gemeinschaftlichen Zusammenlebens thematisierbar. Denn wer in die Haus- und Wohngemeinschaft einzieht, zieht auch ins Alter ein (172). Hier wird die Angst vor dem Alleinsein zum Ausdruck gebracht und das gemeinschaftliche Wohnen als Wohnen gegen die Einsamkeit herausgestellt. Hier werden Anforderungen und Bedürfnisse an altersgerechte Wohnformen in Bezug auf die Architektur, das Wohnumfeld und gemeinsame Wohnalltage verhandelt. Die Haus- und Wohngemeinschaften bieten die Möglichkeit, sich dem biologischen Alterungsprozess gemeinsam durch Aktivitäten, Alltäglichkeiten, Selbstbestimmtheit und ‑organisation entgegenzustellen, bis die unaufhaltsamen Fragilitäten des Alters eintreten. Für Niederhausers Gesprächspartner*innen steht demnach auch fest, dass es sich nicht um die letzte Wohnetappe handelt, sondern dass das gemeinschaftliche Wohnen ein Wohnen auf Zeit ist (275).

Irgendwann stellt sich die Frage der ganzheitlichen Versorgung, die dann von den Mitbewohner*innen letztlich nicht mehr gewährleistet werden kann und will. Das gemeinschaftliche Wohnen in der Wohn- und Hausgemeinschaft kristallisiert sich somit als eine Wohnform zwischen dem Ende der Familienphase, der Pension und der fortwährenden Fragilität heraus (276). In ihrer Zusammenfassung betont die Autorin noch einmal sehr eindrücklich, dass mehrere solcher Wohnweisen, Architekturen und Konzepte nötig sind, die dem pluralen Alter gerecht werden. Denn es ist deutlich geworden, dass Haus- und Wohngemeinschaften, im Gegensatz zu Wohngemeinschaften während des Studiums oder Familienheime, Kritik üben an bürgerlichen Wohnweisen, an der Biopolitik in Selbstverantwortung, am Altersdispositiv, das anderes Altern nicht denkt (286). Im Wohnen und den Wohnentscheidungen reagieren die Menschen auf die Veränderungen der Deutung des Alter(n)s und auf die sich im Wandel befindlichen Verständnisse des bürgerlichen Wohnens. Damit ist Wohnen nicht nur als Manifestation eines Alters im Umbruch zu verstehen, sondern auch selbst an der Herstellung des Umbruchs beteiligt (287). In der Idee des gemeinschaftlichen Wohnens wird der Anspruch der Interviewpartner*innen nach eigenen individuellen Praktiken und Altersdeutungen, Aushandlungs- und Aneignungsstrategien sowie Gestaltungsfreiheiten deutlich.

Rebecca Niederhauser gelingt es durch ihren sorgsamen analytischen Rückgriff auf die Forschungsgespräche und die kritische Betrachtung von Alterskonstruktionen, ein differenziertes Bild von Lebenswirklichkeiten voller Erwartungen, Hoffnungen, Ängste und Freiheiten zu entwerfen. Zudem wird deutlich, wie sich im Wohnen einerseits gesellschaftliche Manifestationen des Alter(n)s, andererseits individuelle Alltagspraktiken, persönliche Altersbilder und Subjektivierungspraktiken ausdrücken. Das Buch leistet mit seinen dichten Beschreibungen gemeinschaftlicher Wohnweisen vor dem Hintergrund gegenwärtiger Alterswirklichkeiten einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des Alter(n)s und zu Manifestationen gesellschaftlicher Strukturen.