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Anna Jank
Wilde Nordsee. Katastrophen-Erleben auf den Halligen Nordfrieslands. Eine psychoanalytisch-ethnologische Studie
(Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur 25), Münster 2019, Waxmann, 258 S. m. Abb., ISBN 978-3-8309-4010-4
Rezensiert von Norbert Fischer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022
Die Geschichte zeigt, dass einzelne Katastrophen immer wieder Zäsuren darstellen – gesellschaftlich wie biografisch. So können Katastrophen zu Katalysatoren des Wandels werden, indem sie neue Erkenntnisse und biografische Erfahrungen hervorbringen, (Lebens-)Planungen verändern und zur kollektiven Gedächtnisbildung beitragen. Dies lässt sich besonders anschaulich am Beispiel der Sturmfluten an der Nordseeküste und den tideabhängigen Strömen zeigen. Wenn die Deiche brachen, litten die Bewohner*innen der Marschenländer unter den teilweise dramatischen und tragischen Folgen – zuletzt bei der Sturmflutkatastrophe vom 16./17. Februar 1962. Bis heute spielt das Wissen um die drohenden Gefahren in der Bevölkerung in den bedeichten Marschengebieten entlang der Küste eine ebenso bedeutsame Rolle für regionale Identitäten wie die individuelle und kollektive Erinnerung an vergangene Katastrophen.
Die geisteswissenschaftliche Katastrophenforschung ist noch ein vergleichsweise junges Gebiet. Im Hinblick auf Sturmflutkatastrophen wegweisend war Manfred Jakubowski-Tiessens Werk über die „Sturmflut 1717“ (München 1992). Aus volkskundlich-kulturanthropologischer Perspektive sei beispielhaft auf Bernd Riekens psychoanalytisch grundierte Studie „Nordsee ist Mordsee. Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen“ (Münster 2005) verwiesen. In der von Letztgenanntem herausgegebenen Reihe „Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur“ ist die vorliegende Publikation von Anna Jank erschienen. Die Verfasserin arbeitet unter anderem als Universitätsassistentin und Lehrbeauftragte an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien/Linz – hier wurde 2017 die vorliegende Arbeit als Dissertation angenommen – sowie als freiberufliche Psychotherapeutin.
Der Fokus des Werkes liegt auf dem spezifischen Umgang mit Sturmfluten, wie der vom Februar 1962 und folgenden, auf den im nordfriesischen Wattenmeer liegenden Halligen Langeneß und Oland. Halligen sind Marscheninseln, die bei höher auflaufenden Sturmfluten überflutet werden können. Der Boden ist fruchtbar, jedoch kann wegen der regelmäßigen Überschwemmungen nur auf sogenannten Warften – aus Erde aufgeschütteten künstlichen Hügeln – gesiedelt werden. Nach Darlegung der erkenntnistheoretischen Grundlagen, die sich unter anderem mit einem psychoanalytisch-individualpsychologisch geschulten differenzierten Blick auf „Realitäten“ und ihren Wahrnehmungen beschäftigen, reflektiert die Verfasserin ihren methodischen Feldzugang der während eines Forschungsaufenthaltes gewonnenen qualitativen Interviews mit Bewohner*innen der genannten Halligen. Sodann wendet sich Anna Jank der Extremlandschaft des Wattenmeeres und der Nordseeküste zu: Alltagspraktiken und Mentalität der „friesischen“ Bewohner*innen sind – im Sinn einer hydrografischen Gesellschaft – vom Umgang mit dem zugleich ernährenden (Landwirtschaft, Tourismus) wie bedrohlichen (Sturmfluten) Wasser geprägt. Im Gegensatz zu den nordfriesischen Inseln, wie Sylt, Amrum und Föhr, sind die Halligen in besonderem Maße im prekär-amphibischen Zwischenreich von Land und Meer angesiedelt.
Anschließend thematisiert die Verfasserin das von „Katastrophen“ geprägte Lebensumfeld der nordfriesischen Halligen in seiner subjektiven Wahrnehmung. Dabei geht sie auf Basis ihrer Interviews auf die unterschiedlichen Strategien von Katastrophenbewältigung beziehungsweise Resilienz in der Extremlandschaft des Wattenmeers ein. Deutlich wird, wie sehr Sturmfluten zur alltäglichen Lebenswelt gehören und ihnen – bei den einzelnen Befragten jedoch durchaus unterschiedlich – durch adaptive und partizipative Anpassung sowie durch Stressverminderung über „Normalisierungs“-Strategien begegnet wird. Trotz der auf die spezifisch hydrografische Lebenswelt ausgerichteten Resilienzstrategien dringen in der Auswertung der Interviews auch latente oder offene Angstgefühle durch, die sich auf die fragile Natur vor Ort beziehen. Aus der mentalen Katastrophenbewältigung resultiert letztlich ein spezifischer sinngebender Lebensstil, der die Sturmfluten als Ereignis in die Alltagspraktiken einbezieht. Von großer Bedeutung sind dabei die wechselseitigen Abhängigkeiten und Solidarisierungen zwischen Individuum und Kollektiv: Gerade das tradierte Wissen um die Sicherheitsrisiken in tideabhängigen Gebieten kann gesellschaftliches Engagement fördern – wie bereits Mareike Fellmers 2014 erschienene Studie über „Bürgerschaftliches Engagement und Sturmfluten“ am Beispiel des sturmflutgeprägten Küstengebietes der Niederelbe gezeigt hat.
Zusammenfassend überzeugt Anna Janks Arbeit in erster Linie durch die einfühlsame Analyse von Lebensstilen in einer fragilen, vom Wasser geprägten Umwelt, die sowohl der Rolle des Individuums wie des Hallig-Kollektivs gerecht wird. Der psychoanalytische Zugang liefert neue, bisweilen etwas weitschweifig dargelegte Blickwinkel auf Alltagspraktiken, subjektive Wahrnehmungen und Bewältigungsstrategien einer mit den Fluten lebenden Gesellschaft. Kritisch anzumerken ist der simplifizierende Umgang mit Kategorien wie „(friesischer) Mentalität“, die hier jenseits von differenzierteren sozialstrukturellen Gegebenheiten einen verdinglichten Charakter erhalten. Bedauerlich, aber auf Grund der Chronologie des Erscheinens nicht zu ändern ist, dass Frauke Paechs kulturwissenschaftlich-volkskundliche, ebenfalls auf narrativen Methoden beruhende Studie „Die Hamburger Sturmflut von 1962. Eine Untersuchung aus erzählforschend-filmischer Perspektive“ (2020) noch nicht berücksichtigt werden konnte, da sie inhaltlich wie methodisch ausgezeichnete Vergleichsmöglichkeiten bietet. Im Übrigen aber zeichnet sich die Studie von Anna Jank durch eine breite, interdisziplinär angelegte Literaturbasis aus. Insgesamt bietet das Werk eine anregende, die Erforschung der Hallig- und Küstenlandschaft der Nordsee bereichernde Lektüre.