Aktuelle Rezensionen
Julia Gehres
Fest, Event, Spektakel? Zur Inszenierung des venezianischen Karnevals im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse
(Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 22), Münster 2021, Waxmann, 252 S. m. Abb., ISBN 978-3-8309-4363-1
Rezensiert von Helga Maria Wolf
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022
„Venedig habe die höchste touristische Dichte weltweit zu ertragen“ (120), weiß die in Kunstberatung und Managementorganisation international tätige Veronika Howes. Daran ist der berühmte Karneval stark beteiligt. „Das Fest in der Lagunenstadt gehört zu den bekanntesten und beliebtesten in Venedig und Italien“ (10), schreibt Julia Gehres. Angesichts der globalen Popularität und des alltagskulturellen Interesses ist es verwunderlich, dass es kaum empirische Arbeiten mit kulturanthropologischem Schwerpunkt über dieses Event gibt. Deshalb hat Julia Gehres, auf Anregung ihres Doktorvaters Michael Simon, den venezianischen Karneval als Dissertationsthema gewählt. Ihr Buch „Fest, Event, Spektakel?“ schließt nun die Langzeitstudie der Mainzer Kulturanthropologin ab. Sie hat zwischen 2010 und 2014 insgesamt mehr als 21 Wochen Feldforschung betrieben, 106 Interviews mit in Venedig ansässigen Personen geführt, 156 Fragebögen mit Besucher-Antworten ausgewertet und hunderte Artikel in Print- und Onlinemedien analysiert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Bei der Publikation bleibt nur ein Wunsch offen, nämlich der nach mehr Fotos. Aus der Forschungsperspektive würden sie sich von den üblichen touristisch orientierten Aufnahmen unterscheiden und einen Blick hinter die Kulissen des Spektakels erlauben. Eine Kostprobe bietet das Farbfoto, auf dem zwei Dutzend Fotografen eine Maske in Blau umringen (174).
In „multiperspektivische[r] Sichtweise auf die zu erforschende Thematik“ gliedert die Autorin ihre Arbeit in acht Teile plus Schlußbemerkungen. Zunächst gibt sie einen kompakten Überblick über Termini wie „Brauch“, „Fest“, „Ritual“, „Event“ und „Spektakel“, deren Grenzen bekanntlich fließend sind, und zitiert dabei Brauchforscher wie Andreas C. Bimmer oder Helge Gerndt. Eventisierung entwickelte sich in der Soziologie zu einer beliebten Forschungsthematik – zum Beispiel Gerhard Schulzes 1992 erschienener Klassiker „Die Erlebnisgesellschaft“. Die Volkskunde lässt jedoch eine systematische Eventforschung vermissen. Die Autorin folgt der Meinung des Regensburger Kulturwissenschaftlers Gunther Hirschfelder, von dem eine der wenigen Studien zum Thema stammt: Traditionelle Interaktionsformen seien von einem grundlegenden Transformationsprozess betroffen, sodass die alten Begrifflichkeiten nicht mehr ausreichten. Der Brauch gelte als zentrale Kategorie der Vormoderne, während das Event zu einer die Gegenwart konstituierenden Kategorie geworden sei (20). Typische Elemente des Events sind kommerzielle Interessen, professionelle Organisation, „kultureller und ästhetischer Synkretismus“ (Winfried Gebhardt), ungewöhnliche Inszenierungsorte und Anonymität der massenhaft Teilnehmenden.
Beim „Forschungsstand“ (29–41) lassen sich mehrere Phasen volkskundlicher Karnevals- und Fastnachtsforschung unterscheiden. Sie beginnen mit der Suche nach den Ursprüngen und der Annahme, diese in weit entfernter Vergangenheit zu finden. Die folgenden Kontinuitätskonstruktionen zeigen die „Instrumentalisierung des Phänomens Fastnacht in mehrfacher Hinsicht“ (Konrad Köstlin). Besonders in den 1920er Jahren, aber noch viel länger, wurde versucht, „Fasnacht“ vom frühneuhochdeutschen „faseln“ (fruchtbar sein, zeugen) abzuleiten. Ebenso falsch ist die etymologische Erklärung von „Karneval“ nach dem angeblich altrömischen „Carrus navalis“. Diesen hat der Mythologe Karl Simrock erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfunden. In den 1960er Jahren betrieb der Tübinger „Arbeitskreis für Fastnachtsforschung“ unter der Leitung von Hermann Bausinger die systematische Entmythologisierung. Seither ist unbestritten, dass Fasching, Fas(t)nacht und Karneval im christlichen Kontext zu sehen sind. Sie markieren die Wochen vor der Fastenzeit, die am Aschermittwoch beginnt und bis Ostern dauert. Die vierte Phase war von der volkskundlichen Debatte „Moser gegen Moser“ geprägt: Dietz-Rüdiger Moser erklärte das Phänomen mit der Zwei-Staaten-Lehre des heiligen Augustinus. Die Kirche hätte die Faschingszeit etabliert, um den Gläubigen die gottferne „verkehrte Welt“ zu demonstrieren. Hans Moser hingegen brachte aufgrund der Quellenforschung Karnevalsbräuche mit der Entstehung des städtischen Bürgertums in Zusammenhang. In der fünften Phase rückten ab den 1980er Jahren zeitgenössische Karnevalsfeste in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Komplexere Erklärungsmodelle gewannen Raum, etwa von Werner Mezger, Herbert Schwedt oder Paul Hugger. In Italien befassten sich einzelne Studien mit dem venezianischen Karneval.
In „Venedig – Geschichte und Mythos“ (42–59) geht Julia Gehres auf den Aufstieg Venedigs zur Handels- und Großmacht vom frühen Mittelalter bis zum 15. Jahrhundert ein, als sich die Stadt als Territorialmacht und Wirtschaftszentrum etablieren konnte. Während sich im 16. Jahrhundert „Niedergang und Ende der Republik Venedig“ abzeichneten, entwickelten sich Fremdenverkehr und kulturelle Güter, wie Kunst, Theater und Oper, zu wirtschaftlichen Faktoren. Anfang des 20. Jahrhunderts zählte der neue Hafen zu den wichtigsten Umschlagplätzen in Italien. Die erste Biennale-Kunstausstellung 1895 verzeichnete 224 000 Besucher*innen. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der Tourismus eine beherrschende Stellung ein, nicht zuletzt seit der Ernennung der Lagune zum UNESCO-Weltkulturerbe 1984. Ausführlich widmet sich die Autorin den „Venezianischen Mythen“, wobei sie Mythos als eine „besondere Form der Geschichtspräsentation“ (49) versteht.
Für die „Entwicklungsgeschichte des venezianischen Karnevals“ (60–91) war die örtliche Theaterkultur – Commedia dellʼ Arte für das „einfache Volk“, Oper und Schauspiel – von Bedeutung. Die „venezianische Gesellschaftsmaske“ war – vor allem, aber nicht nur, bei Aristokraten – zu Festen, Schauspielen und Umzügen üblich. Trotz vielfältiger „karnevalesker Konfigurationen“ bleibt der „immerwährende Karneval“ ein Mythos. Ein weiterer besagt, dass der Karneval im 19. Jahrhundert zu existieren aufgehört hätte. Im Gegenteil: Kurze Zeit nach der Angliederung Venedigs an das Königreich Italien (1866) gründeten einige Bürger eine Karnevalsgesellschaft und organisierten ein öffentliches Fest mit mehreren Programmpunkten. „Hauptzweck der Veranstaltung war es, Fremde anzuziehen und damit Geld zu verdienen.“ (79) Hundert Jahre später erfolgte mit Unterstützung des Bürgermeisters eine neuerliche Revitalisierung aus denselben Motiven. Julia Gehres geht den Ursachen auf den Grund und beschreibt Organisation und Performanz des „Super-Carnevale“. Am sechstägigen Programm mit mehr als 100 Veranstaltungen nahmen 50 000 Menschen teil – was auch Kritik verursachte.
In der Folge beschreibt die Autorin „Forschungsdesign und methodisches Vorgehen“ (92–105). Bei ihren Feldaufenthalten kamen ihr Kontakte, Orts- und Sprachkenntnis zugute. Sie stürzte sich kostümiert ins Getümmel, um das Geschehen hautnah zu erleben. Auch war es ihr möglich, als „Journalistin“ Einblicke in Strukturen zu gewinnen, die Besucher*innen sonst verborgen bleiben.
„Empirische Annäherungen“ (106–202) machen das Hauptkapitel des Buches aus, das schon allein deshalb auch für fachfremde Kreise äußerst lesenswert ist. Kommentierte Interviewausschnitte behandeln die Akteur*innen, den Stellenwert des Karnevals im venezianischen Alltag, die Karnevalstourist*innen, Pro und Kontra des Tourismus, Erinnerungen an den Karneval vor einigen Jahrzehnten, Gegenwartstendenzen, mediale Einflüsse, Masken und Maskierte. Umfassend beschreibt die Autorin das Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation.
Als ein zentrales Festelement geht der „Volo dellʼ Angelo“ auf historische Vorbilder zurück. Sie können bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt werden und veränderten sich bis Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder. 1979 bis 2000 ließen die Veranstalter des revitalisierten Brauches eine Taube aus Papiermaché vom Campanile Richtung Markussäule schweben. Dann ersetzten sie den Vogel durch Engel, dargestellt von jungen Italienerinnen. Obwohl diese Tradition des Engelsflugs erst seit 2001 bestand, war es eine Sensation, als 2008 ein männlicher Protagonist, der Afroamerikaner Coolio, die Rolle übernahm. Seither sind die Engel wieder weiblich, doch ist dies für die Organisatoren weniger entscheidend als das angestrebte Medienecho. Dieses war Coolio ebenso sicher, wie später Vertreterinnen bedeutender Industriellenfamilien. 2019 flogen zwei Engel über den Markusplatz.
Ebenfalls revitalisiert wurde die „Festa delle Marie“. Seit dem 12. Jahrhundert stattete die Republik Venedig bei einem Hochzeitsfest im Januar zwölf arme Bräute mit reichlicher Mitgift aus. Diese seien samt ihren Schätzen von Piraten entführt, vom Dogen und seinen Kriegern jedoch befreit worden, heißt es. Nach der Revitalisierung (1999) können sich 18- bis 27-jährige Venezianerinnen als „Maria“ bewerben. Bei der Schönheitskonkurrenz wählt eine Jury zwölf von ihnen aus. Sie bestreiten einen historischen Umzug und mehrere Events. Schließlich werden zwei Marien – eine von der Jury und eine vom Publikum – gekürt. Jetzt ist diese Wahl die Voraussetzung, „Engel“ darzustellen.
2010 und in den Folgejahren existierte der „Rattenflug“ als parodistischer Antibrauch. Die Ratte, allgemein negativ besetzt, gilt bei den Venezianern als Symbol ihres Überlebenswillens. Die „ironische Imitation“ des Engelsflugs fand im Rahmen der „Veneziana sullʼAqua“, der Wasserparade auf dem Canal Grande, statt. Inzwischen schwebt die Ratte nicht mehr über den Canal, sondern führt auf einem Boot den Wasserkorso an. Wenn sie am Ende explodiert, steigen hunderte Luftballons auf.
Die Masken, ein zentrales Element des Venedigmythos, unterliegen dem Wandel. Seit den 1980er Jahren dominieren bunte „Phantasiemasken“ und Kostüme. Zum Leidwesen der traditionellen Handwerker bevorzugen die Tourist*innen Massenware „Made in China“; die Souvenirs sind zu jeder Jahreszeit beliebt.
Im „Fazit“ (215–221) bestätigen sich die Annahmen der Autorin: Der Karneval ist ein wichtiges Element im venezianischen Staatsmythos „Venezia-citta-galante“ und wurde zu seinem eigenen Mythos. Die 1979 begonnene Karnevalsära ist von Transformations- und Eventisierungsprozessen begleitet. Die Interviews zeigen, dass der Stellenwert des Festes für jede*n Einzelne*n von individuellen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Faktoren abhängt. Tendenziell nehmen die Venezianer*innen eine eher kritische Haltung ein. Folklorismus und „Invention of Tradition“ sind Diskussionsthemen in der Bevölkerung. Die meisten sehen die Vergangenheit positiv, die Gegenwart negativ. Obwohl dieselben Vorwürfe schon vor 30 Jahren bestanden, wird die Notwendigkeit des Festes eingesehen. Im Jahr 2000 veranstaltete eine Bürgerinitiative einen ironischen Protest. „Veniceland“ sollte auf die Sorgen und Probleme der Einheimischen aufmerksam machen. Als Disneyfiguren verkleidet, verteilten sie Stadtpläne, auf denen nicht die Sehenswürdigkeiten, sondern spektakuläre Aktionen eingezeichnet waren. Das „hybridisierte Protestereignis“ verband „politische Forderungen mit kollektivem Spaß, Erlebnis, Spektakel und Vergnügen“ (221).
In ihrem Buch ist es Julia Gehres hervorragend gelungen, historische und kausale Zusammenhänge, aktuelle Sachverhalte und Perspektiven vielseitig, klar und fundiert darzustellen. Erfreulicherweise vermeidet sie oberflächliche Darstellungen ebenso wie eine schwer verständliche Fachsprache. Als Leser*in kann man sich der Forderung der Autorin anschließen, es „sollten sich Kulturanthropologen aufgefordert fühlen, den Gegenwartskarneval verstärkt in den Blick zu nehmen, auch um in der wissenschaftlichen und journalistischen Öffentlichkeit suggerierte und verbreitete Pauschalierungen zu entkräften“ (218). Und das sollte nicht nur für den Karneval, sondern allgemein für rezente Bräuche, Feste und Events gelten.