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Sebastian Lemme

Visualität und Zugehörigkeit. Deutsche Selbst- und Fremdbilder in der Berichterstattung über Migration, Flucht und Integration

(Postcolonial Studies 41), Bielefeld 2020, transcript, 298 S. m. Abb., ISBN 978-3-8376-5208-6


Rezensiert von Christine Bischoff
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Unsere Blicke auf Migration, Flucht und Integration sind entscheidend von medialen Bildern geprägt – von dieser Grundannahme aus konzipierte Sebastian Lemme seine an der Bielefelder Fakultät für Soziologie entstandene und 2020 unter dem Titel „Visualität und Zugehörigkeit. Deutsche Selbst- und Fremdbilder in der Berichterstattung über Migration, Flucht und Integration“ im transcript Verlag erschienene Dissertation. Lemme untersucht mithilfe visueller Fallbeispiele dominante Darstellungs- und Repräsentationsmuster in der deutschen Medienberichterstattung zwischen 2006 und 2015 und bezieht sich in seiner Analyse vor allem auf postkoloniale und rassismuskritische Forschungsansätze, um das „Othering“ von Migrant*innen und dessen argumentative Verankerung offenzulegen. Es gelingt ihm durch eine bildsemiotisch fundierte Analyse zu decodieren, wie über die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern Botschaften über Identität, Zugehörigkeit und „Deutschsein“ visuell ausgehandelt und vermittelt werden.

Zeitungsbildern als Quellen räumt Lemme eine entscheidende (Material-)Bedeutung ein, da diese im Sinne Benedict Andersons als das Massenmedium schlechthin „die technischen Mittel und damit die Repräsentationsmöglichkeiten für das Bewußtsein von Nation“ bieten, indem diese als „außergewöhnliche Massenzeremonie“ und den gewissermaßen gleichzeitigen Konsum besonders an der Imagination von Gemeinschaft beteiligt sind (12) [1]. Anhand von vier exemplarisch ausgewählten Debatten, nämlich den integrationspolitischen Medienberichten in den Jahren 2006 und 2009, der sogenannten „Sarrazin-Debatte“ 2010 sowie der Flucht- und Asylberichterstattung im Jahr 2015, ist es Ziel des Autors, ein „breite[s] Spektrum an Medienberichten und eine repräsentative Auswahl an fotografischen Bildern in die Analyse“ einzubeziehen (20) und wiederkehrende Darstellungsmuster, dominante Stereotypisierungen und Zugehörigkeitszuschreibungen zu identifizieren – insbesondere im Spannungsfeld von Race, Class und Gender (22). Den „langen Sommer der Migration“ ordnet Lemme dabei als „unerwartet“ ein, da die deutsche Presse „im Vergleich zu den migrations- und integrationspolitischen Debatten der vorherigen Jahre […] nicht nur ausführlich, sondern größtenteils sehr positiv über die Ereignisse und über die Geflüchteten, die in Deutschland ankamen“, berichtet hätte (11). Zugleich stellt er fest, dass sich gerade in der medialen Verbreitung von Bildern der Willkommensszenen an deutschen Bahnhöfen, die im Laufe der Ereignisse durch deren beständige Wiederholung zu Symbolbildern wurden, sowohl „bestimmte Imaginationen über ein repräsentatives deutsches Selbstbild in den Visualisierungen widerspiegeln als auch die Frage der nationalen Zugehörigkeit und der In- und Exklusion bestimmter Menschen aus dem ‚Wir-Kollektiv‘ verhandelt“ werden (12).

Die Studie ist in vier Hauptteile gegliedert. Im ersten Teil arbeitet der Autor den bisherigen Forschungsstand zum Thema auf und geht insbesondere auf postkoloniale Studien, die Critical Whiteness Studies und rassismuskritische Ansätze ein, die für seine eigene Analyse maßgeblich sind. Im zweiten Teil erläutert Lemme Methoden und Materialien seiner Untersuchung und bezieht sich dabei vor allem auf die zeichentheoretischen Grundannahmen der Bildsemiotik und die visuelle Kommunikation. Lemmes bildanalytische Herangehensweise besteht im Wesentlichen aus einem zweistufigen Verfahren. Sein empirisches Material, über 1 100 Fotografien aus Online- und Printmedien, erschienen im Kontext der Themen Migration, Flucht und Integration, unterzieht er einer ausführlichen inhaltsanalytischen und bildsemiotischen Codierung, um Repräsentationsweisen und Darstellungsmuster herauszuarbeiten. Auf dieser Grundlage erfolgt im zweiten Schritt eine Feinanalyse anhand exemplarisch ausgewählter Fotografien, um die in den wiederkehrenden Darstellungen enthaltenen Stereotypisierungen des „Anderen“ und die Imaginationen des deutschen Selbstbildes detailliert beschreiben zu können. Im dritten Teil der Studie begründet Lemme den zeitlichen Zuschnitt der Materialien – die fotografische Medienberichterstattung über Migration, Flucht und Integration aus den Jahren 2006 bis 2015 – und widmet sich den zentralen visuellen Frames, Repräsentationen und Zugehörigkeiten, die er im Material erkennt („Integration, Migration und Islam“, „Flucht- und Asylpolitik“ und „Deutsche Selbstbilder“). Im abschließenden vierten Teil werden die wesentlichen Ergebnisse der Bildanalyse zusammengeführt und unter Einbeziehung der bereits genannten Ansätze von Postkolonialismus und Critical Whiteness sowie aus rassismuskritischer Perspektive zur Diskussion gestellt und die decodierten Selbst- und Fremdbilder der Medienberichterstattung in einen historischen, politischen und gesamtgesellschaftlichen Kontext gestellt, um die damit einhergehenden Dynamiken der Dominanz und Machtförmigkeit visueller Repräsentationen herauszustellen. Lemme arbeitet dabei unter anderem die Gründe für die Bedeutung des Kopftuchs in den migrationspolitischen Mediendebatten heraus und wie dieses als übergeordnetes und zugleich besonderes Differenzsymbol fungiert.

In der knapp gehaltenen Schlussbetrachtung gibt Lemme eine Zusammenfassung und betont noch einmal, dass über Medienbilder symbolische Grenzziehungen vorgenommen werden, die insbesondere in dem von ihm analysierten Untersuchungszeitraum stark religiös konnotiert sind. Aus einer Perspektive der Migrationsforschung hätte etwas stärker reflektiert werden können, dass der Autor selbst das Material hauptsächlich aus dem Blickwinkel einer Mehrheitsgesellschaft betrachtet. Viele der analysierten Abbildungen (v. a. 196 ff.) haben stark appellativen Charakter und halten implizit beispielsweise dazu an, auch die Selbst- und Fremdbilder „der Anderen“ mit in die Überlegungen einzubeziehen oder zumindest als Leerstelle zu identifizieren, um so zu einer kritischen Überprüfung des verwendeten Repräsentationsbegriffs zu gelangen. Auch bei der Feststellung, dass die Bedeutung visueller Aspekte in wissenschaftlichen Arbeiten zwar häufig benannt, daraus jedoch keine ausführliche Analyse eben dieser Ebene der Berichterstattung resultiere (13), hätte sich gelohnt, neben der im Buch erwähnten Studien, noch weitere, in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten – nicht zuletzt im Zuge des vom Autoren selbst an- und ausgeführten pictorial turn (19) – entstandene Untersuchungen miteinzubeziehen [2]. Nichtsdestotrotz ist Lemmes Buch lesenswert, da es eng angebunden an empirisches Material zentrale Fragen der Wechselwirkung von Bildberichterstattung und Meinungsbildung aufwirft und damit sowohl zu weiteren Forschungen als auch verstärkter Reflexion von Visualisierungsstrategien in der Medienpraxis anregt.

Anmerkungen

[1] Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt am Main 1996, S. 32.

[2] Siehe u. a. Annegret Friedrich, Birgit Haehnel, Viktoria Schmidt-Linsenhoff u. Christina Threuter (Hg.): Projektionen. Rassismus und Sexismus in der Visuellen Kultur. Marburg 1997; Irit Rogoff: Wegschauen. Partizipation in der Visuellen Kultur. In: Texte zur Kunst 9 (1999), Nr. 36, S. 98–112; Christine Huth-Hildebrandt: Das Bild von der Migrantin. Auf den Spuren eines Konstrukts. Frankfurt am Main 2002; Henrick Stahr: Fotojournalismus zwischen Exotismus und Rassismus. Darstellungen von Schwarzen und Indianern in Foto-Text-Artikeln deutscher Wochenillustrierter 1919–1939. Hamburg 2004; Tiberio Cardu (Hg.): Migration im Bild. Ein Inventar. Baden 2006.