Aktuelle Rezensionen
Anna Eckert/Brigitta Schmidt-Lauber/Georg Wolfmayr
Aushandlungen städtischer Größe. Mittelstadt leben, erzählen, vermarkten
(Ethnographie des Alltags 6), Wien 2020, Böhlau, 269 S. m. Abb., ISBN 978-3-205-23202-5
Rezensiert von Simone Tappert
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022
„Stadt und Städtisches boomen“ (7) – konstatieren die Autor*innen Anna Eckert, Brigitta Schmidt-Lauber und Georg Wolfmayr im Eingangssatz. Die Mehrheit der Menschen lebt heutzutage in städtischen Räumen, Städte werden als Zentren der Wissensökonomien und des wirtschaftlichen Wachstums betrachtet und die Forschung attestiert eine allgegenwärtige Urbanität. Bei genauerem Hinsehen jedoch, so die Autor*innen, „sind es indes ganz bestimmte Städte, die bevorzugt im Fokus von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik stehen und als paradigmatische Beispiele urbanen Lebens fungieren“ (7). Idealvorstellungen von Stadt und urbanem Leben beziehen sich zumeist auf großstädtische und metropolitane Lebensrealitäten. Wenig Interesse und Aufmerksamkeit werden hingegen den Klein- und Mittelstädten zuteil. Dies sollte erstaunen, denn eben dort lebt die Mehrheit der im urbanen Raum wohnenden Menschen. Das Buch setzt an genau dieser Schieflage an und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu deren Korrektur.
Die Autor*innen präsentieren die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Mittelstädtische Urbanitäten“, das von 2011 bis 2016 am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien lief und sich mit pluralen Formen des Städtischen in nicht metropolitanen Städten auseinandersetzte. Anhand der beiden Mittelstädte Hildesheim und Wels geht das Forschungsteam in der vergleichenden ethnografischen Studie der Frage nach, wie Stadt und städtische Größe ausgehandelt und im Alltag erlebt, gelebt, erzählt und vermarktet werden. Sie bedienen sich hier intentional des normativ besetzten und emotional geladenen Begriffs der Urbanität und unterziehen ihn einer kritischen Reflexion. Dabei verfolgen die Forscher*innen einen praxeologischen Ansatz, „der die Produktion eines Ortes über körperliche Alltagspraxis und Rhythmen, soziale Normen und Gefühle, Wahrnehmungen und Bilder verschiedener Akteurinnen und Akteure eruiert und anstrebt, dessen Position gegenüber anderen Städten zu beschreiben“ (20). Städte, städtische Größe und Positionierung verstehen sie „als relationale kulturelle, materielle und soziale Gebilde“ (21). Aus einer solchen Perspektive „weisen Begriffe wie Mittelstadt, Großstadt oder Metropole auf aktive Handlungen und machen auf Praktiken der Abgrenzung und Positions- sowie Bedeutungszuschreibung aufmerksam“ (27).
Für die Entwicklung des Ansatzes einer Praxeologie von Stadtgröße operationalisieren die Autor*innen die Konzepte „doing size“, „doing scale“ und „doing place“ als „scaling devices“ und generieren die konzeptionellen Begrifflichkeiten Urbanitätslandschaft und Urbanitätshorizont. Anhand der vier Praktikenkomplexe „Orte vermarkten“ (108 ff.), „wohnbiografisches Erzählen“ (124 ff.), „stadträumliches Bewegen“ (149 ff.) und „abendliches und nächtliches Ausgehen“ (169 ff.) beschreiben sie auf verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven, „wer mit welchen Mitteln wann Größe produziert und den untersuchten Städten welche Position zuweist“ (237). Die Ergebnisse zeigen, dass die Produktion relationaler Bezüge Ausdruck einer hegemonialen Definition von Zentrum und Peripherie ist und dass die Produktion von Stadt und Positionszuweisung dabei immer ein relationales Anderes einschließt. Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist, dass Städtevergleich „eine selbstverständliche und häufig vorgenommene Praxis des Alltags“ (237) ist und eine „alltägliche Einordnungs- und Erzählstrategie, mittels derer Menschen Orten Bedeutungen zumessen, sich verständigen sowie Orte beschreiben und bewerten“ (237). Bedeutungszuschreibungen variieren dabei je nach Lebenssituation und dem zeitlich-gesellschaftlichen Kontext.
Vertieft werden die Ergebnisse mittels zweier Tiefenbohrungen in den beiden Städten Wels und Hildesheim. Während der Beitrag zu Wels dem Narrativ des Niedergangs auf der Spur ist, widmet sich der Beitrag zu Hildesheim dem Bahnhofsumbau. Beide Untersuchungen verdeutlichen die jeweils fortlaufende Aushandlung eines neuen städtischen „imaginaires“ zwischen Klein- und Großstadt. Die Autor*innen zeigen auf, dass Mittelstädte nach „eigenen Kategorien zur Positionierung und nach Maßstäben des Passenden“ (239) ringen. Die Aushandlung dessen, was passend ist, verläuft kontrovers und die insbesondere durch das Stadtmarketing verfolgte Orientierung an Großstädten kann dabei „als Ausdruck des Metrozentrismus“ (240) gelesen werden.
Mit ihrer anregend dichten und komplexen Beschreibung des Forschungsfeldes wagen die Autor*innen dieses Buches eine kontinuierliche Gratwanderung. Das Beschreiben mittelständischer Urbanität könnte schnell bestehende oder neue Hierarchien (re-)produzieren und in essentialistische Festschreibungen münden. Die Autor*innen schaffen es aber, Kategorisierungen als mehr oder weniger urban zu vermeiden, ohne dabei Unterschiede zwischen Städten zu negieren. Das Buch verdeutlicht zwar, dass sich Städte unabhängig von ihrer Größe und Positionierung einer allgegenwärtigen Vermarktungslogik der unternehmerischen Stadt nicht entziehen können, zugleich sollte jedoch nicht von einer allgegenwärtigen Urbanität oder der Nivellierung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land ausgegangen werden. Vielmehr legen die Ergebnisse der Forschungsstudie „eine Differenzierung und Pluralisierung nahe, der zufolge sowohl die Dichotomie zwischen Stadt und Land als auch die Nivellierungsthese zu kurz greifen. Es ist von einer Gleichzeitigkeit verschiedener räumlicher Orientierungen und alltagsweltlicher Routinen und Wahrnehmungsformen auszugehen, die Vorstellungen und Kennzeichen von Groß- und Kleinstadt beziehungsweise Land und Dorf nebeneinander aufweisen.“ (243)