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Stefan Wellgraf

Ausgrenzungsapparat Schule. Wie unser Bildungssystem soziale Spaltungen verschärft

(X-Texte zu Kultur und Gesellschaft), Bielefeld 2021, transcript, 242 S. m. Abb., ISBN 978-3-8376-5307-6


Rezensiert von Stefan Groth
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Mit „Ausgrenzungsapparat Schule“ legt Stefan Wellgraf eine institutionelle Ethnografie (IE) im Sinne Dorothy E. Smiths vor – ein Ansatz, der in der Empirischen Kulturwissenschaft zwar durchaus rezipiert wird, jedoch selten als zentraler methodologischer Bezug Anwendung findet. Die mit dem Ansatz verbundenen Prämissen spiegeln sich bereits deutlich in Titel und Untertitel des Buches wider, das zeigen will, „wie unser Bildungssystem soziale Spaltungen verschärft“. Es geht demnach weniger um subjektive Deutungsweisen, sondern um die soziale Organisation in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen und wie diese prägend für Akteur*innen sind. Die Feldforschungen an zwei Berliner Schulen, auf denen Wellgrafs Studie (ebenso wie die beiden vorangehenden Bücher „Hauptschüler: Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung“, 2012, und „Schule der Gefühle: Zur emotionalen Erfahrung von Minderwertigkeit in neoliberalen Zeiten“, 2018) beruht, sind in ihrer Aussagekraft nach dieser Sichtweise nicht auf die zwei konkreten Organisationen beschränkt, sondern beziehen sich auf ein weiteres Verständnis von Institutionen im Sinne des Neo-Institutionalismus (13). Die einleitenden Gedanken zu dieser Herangehensweise sind instruktiv, fallen aber leider etwas knapp aus. Gerade mit Bezug auf die Reichweite der Aussagen, die Wellgraf aus seinem anschaulich präsentierten Feldforschungsmaterial herauspräpariert, wünscht man sich teils genauere oder differenzierte Ausführungen zu epistemologischen Annahmen und Argumentationsweisen, wie dies im Rahmen der IE häufig praktiziert wird.

Das trifft auf die thesenstarke Rahmung des „Ausgrenzungsapparates“ (16 f.) ebenso wie auf Aussagen über „rassistische Strukturen des deutschen Schulsystems“ (20) zu, die jeweils kenntnisreich in der Forschungsliteratur verortet, aber nicht en detail am Beispiel der eigenen Forschung argumentiert werden. So wird, um ein Beispiel zu nennen, die Dominanz eines monolingualen Habitus am Beispiel einer Studie als „institutionelle Problematisierung von nicht-deutscher Herrschaft“ (31) konstatiert, aber nicht weiter mit den eigenen Forschungen in Beziehung gesetzt – hier und an anderen Stellen bleiben so Desiderate, zum Beispiel über die gut erforschte Rolle von Sprachideologien für Normierungsprozesse und Diskriminierungsweisen. In quasi umgekehrter Richtung liefern die ausführlicheren Interviewpassagen im Kapitel „Ethnische Identifikationen“ (58–67) zwar Beispiele dafür, wie die von Wellgraf befragten Akteur*innen institutionelle Erinnerungskonflikte mit Bezug auf biografische, mediale und politische Dimensionen navigieren, beziehen sich aber nur implizit auf die Institution Schule. Der grundsätzlichen Argumentation ist dies insofern nicht abträglich, als die Breite der diskutietren Themenkomplexe solche Leerstellen zu kompensieren vermag und anschaulich macht, wie Schüler*innen und Lehrer*innen von institutionellen Ordnungen affiziert werden und wie diese auch andere gesellschaftliche Diskurse berühren. Hier zeigt sich eine der Stärken des Ansatzes, der es vermag, Phänomene in der Zusammenstellung unterschiedlicher Perspektiven und Debatten zu diskutieren und dabei ontologische Unterscheidungen zwischen Mikrokontexten und Makroprozessen vermeidet. Hier ist einzig anzumerken, dass der IE-typische Bezug auf textbasierte Formen der Koordination weitgehend außen vor bleibt. Insbesondere im Abschnitt zu „Rechtfertigungsordnungen“ (96–107) hätte dies eine gewinnbringende ergänzende Perspektive sein können, die Regelungen, Leistungseinordnungen und Protokollformen bezüglich textlicher Praktiken befragt.

„Ausgrenzungsapparat Schule“ ist in dreifacher Hinsicht zu empfehlen: Erstens wird hier im Rahmen der Empirischen Kulturwissenschaft die Herangehensweise der IE am Beispiel der Schulforschung demonstriert, was eine anschauliche Ergänzung zu einleitenden Literaturen zu diesem Ansatz darstellt. Zweitens bietet der Band einen detaillierten Überblick über Themen und Ansätze nicht nur der Schulforschung, sondern auch der Beschäftigung mit daran angrenzenden Themen der Diskriminierung, Religion, Sozialarbeit, politischen Regulierung etc. Und drittens wird auf breiter empirischer Basis gezeigt, wie Ausgrenzung im schulischen Bereich in ganz unterschiedlichen Dimensionen angelegt ist und von Schüler*innen erfahren wird.