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Tobias G. Eule/Lisa Marie Borrelli/Annika Lindberg/Anna Wyss

Hinter der Grenze, vor dem Gesetz. Eine Ethnografie des europäischen Migrationsregimes

Hamburg 2020, Hamburger Edition, 341 S., ISBN 978-3-86854-339-1


Rezensiert von Lisa Riedner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

Im Buch „Hinter der Grenze, vor dem Gesetz. Eine Ethnografie des europäischen Migrationsregimes“ nehmen Tobias G. Eule, Lisa Marie Borrelli, Annika Lindberg und Anna Wyss die Migrationskontrolle innerhalb des EU-europäischen Territoriums als Gegenstand, um zum Verständnis von Staat, Recht und Gesetz beizutragen. Auf Grundlage einer breit aufgestellten ethnografischen Empirie untersuchen sie konkrete Auseinandersetzungen um den Aufenthalt von Menschen mit irregulärem Status in acht Mitgliedsstaaten der EU. Konkret gehen die Autor*innen Fragen wie den Folgenden nach: Wie wird Migrationskontrolle im Alltag gemacht? Welche Rolle spielen Gesetze und Rechtsprechung in der Praxis von Grenzbeamt*innen? Wie nehmen Migrant*innen auf Recht und Gesetz Bezug? Wo und wie wird Verantwortung verortet und (nicht) wahrgenommen? Die Parabel „Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka aus dem Jahr 1915 leiht dem Buch nicht nur den Titel, sondern dient auch als Leitmotiv. In der Parabel steht ein „Mann vom Lande“ einem Grenzwächter gegenüber, der den Zugang zum Gesetz bewacht: geduldig wartend, alle seine Habseligkeiten aufgebend, ohne Einblick in die Entscheidungsprozesse, bis zum Tod. Ganz ähnlich, so die Autor*innen, stellte sich ihnen die Migrationskontrolle in der EU dar. Sie zeichnen ein Bild der Fragmentierung, des Chaos, der „vielen Hände“ und des Zufalls. Dabei entstehe allerdings „gerade aus der Informalität und Unlesbarkeit eine beinahe magische Ordnung“ (270). Das Webersche Bild eines einheitlichen Staates des geordneten Machtvollzugs widerlegen sie, zeigen aber gleichzeitig auch die Wirkmächtigkeit dieser ideologischen Figur als Folie, vor der sowohl Bürokrat*innen, wie auch zivilgesellschaftliche Akteur*innen und irreguläre Migrant*innen handeln.

Die institutionelle Ethnografie eignet sich als Forschungsmethode sehr gut, um in die Komplexität und Kontingenz von Aushandlungen um die Kontrolle irregulärer Migrant*innen einzutauchen. Die Autor*innen waren zwischen 2015 und 2018 als teilnehmende Beobachter*innen aktiv und haben Interviews in Migrationsämtern, Polizeibehörden und Abschiebehaftanstalten, mit zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie mit Migrant*innen mit prekärem Rechtsstatus und weiteren Akteur*innen in Dänemark, Schweden, Deutschland, der Schweiz, Österreich, Italien, Lettland und Litauen geführt.

Anstatt diese multilokale Empirie in länderspezifische Fallstudien aufzuteilen und nach deren jeweiligen historischen Gegebenheiten und Unterschieden zu fragen, organisieren sie ihr breites ethnografisches Material anhand verschiedener analytischer Schwerpunktthemen. Es entsteht eine Assemblage aus ethnografischen Vignetten, Interviewzitaten und analytischen Theoriebezügen, die ein überzeugendes Bild ergibt. Die analyseorientierte Organisation der weitläufigen Empirie führt allerdings auch dazu, dass ich als Leserin teils tiefere Einsichten in die jeweiligen lokalen Dynamiken und ethnografische Dichte vermisst habe. Die Schauplätze verschwimmen fast zu einem Ort – ohne dass allerdings der Eindruck erweckt wird, sie seien austauschbar. Andererseits ermöglicht genau diese Zusammenschau, analytisch über die einzelnen Schauplätze hinauszugehen. Zudem illustriert die Form auf geschickte Weise den Inhalt: Auf ähnliche Weise, wie aus der fragmentierten und mehrschichtigen Rechtsordnung in der Praxis Sinn produziert wird, fügen sich die Fragmente kaleidoskopartig zu einem erhellenden Bild zusammen. Die vier Autor*innen sprechen mit einer einheitlichen und äußerst überzeugend argumentierenden auktorialen Stimme. Dass die bildhafte, mit kreativen Neologismen (z. B. „Unlesbarkeitseffekt“, 140, oder „Zuständigkeits-Verschiebebahnhof“, 239) arbeitende Sprache auch in der deutschen Übersetzung des englischsprachigen Originals, das im Jahr 2018 unter dem Titel „Migrants Before the Law“ bei Palgrave erschienen ist, bei einer Tendenz zu Wiederholungen, insgesamt sehr angenehm zu lesen ist, ist keine Selbstverständlichkeit angesichts der doch sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Stile der englisch- und deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft. Hier ist neben der kollektiven Analyse- und Schreibleistung der Autor*innen die Arbeit des Übersetzers Hans-Peter Remmler positiv hervorzuheben.

Von der Form zum Inhalt: Nach der Einleitung steckt Kapitel 2 den Rahmen des Buches ab, indem es die Entwicklungen der Migrationskontrolle innerhalb des Schengenraums zwischen 2015 und 2018 skizziert und die jeweiligen nationalen Kontexte darstellt. Dabei geht es vor allem auf die Vielschichtigkeit des Migrationsrechts am Beispiel des Dublin-Systems ein, das einen „juristischen Schwebezustand“ zum Effekt hat. Das Dublin-Übereinkommen sollte festlegen, welcher EU-Mitgliedsstaat jeweils zuständig ist, wenn Menschen in der Europäischen Union Asyl beantragen. In der Praxis gestaltet sich die Zuweisung und Bearbeitung der Asylanträge, wie die vorliegende Studie zeigt, aber kompliziert. Darüber hinaus positioniert das zweite Kapitel die Forschung in der Rechtssoziologie, der politischen Anthropologie und der Migrationsforschung. Die Autor*innen skizzieren ein praxisorientiertes Forschungsprogramm, in dem es um die Begegnungen zwischen Streetlevel-Bürokrat*innen, nichtstaatlichen Organisationen und Migrant*innen geht. Für die Autor*innen ist Migrationskontrolle weniger „eine Arena, in der absolute Gegenpole aufeinandertreffen, sondern vielmehr ein Raum, in dem verschiedene Akteur*innen mit unterschiedlichem Einfluss und unterschiedlicher Macht interagieren und aushandeln“ (84 f.). In Anlehnung an die Migrations- und Grenzregimeanalyse wählen Eule et al. eine machtanalytische Perspektive, die Aushandlungsräume als ungleich und vermachtet begreift. Während es ihnen darum geht, Migrant*innen nicht nur als Opfer und Staatsangestellte nicht nur als die Bösen zu zeichnen, zeigen sie eindrücklich, dass die Handlungsmöglichkeiten und vor allem ihre Effekte zu Ungunsten von irregulären Migrant*innen verteilt sind.

Kapitel 3 nimmt die vielschichtigen und komplexen migrationsrechtlichen Regelungen und ihre Umsetzung in der EU-europäischen Migrationskontrolle in den Fokus. Die Autor*innen zeichnen nach, wie Bürokrat*innen zu ihren Entscheidungen kommen, wie sie dabei auf Recht Bezug nehmen und mit Ermessenspielräumen umgehen. Sie verstehen „Recht als eine Art Spielfeld, auf dem verschiedene, oft gegensätzliche Akteur*innen versuchen, das Recht in ihrem Sinne zum Funktionieren zu bringen“ (94) – mit und auch gegen das Gesetz. „Scheiß auf das abgelaufene Visa, ich habe hier das sagen! Ich mache das!“ (111) erklärte die Leiterin eines Migrationsamtes im Gespräch mit anderen Staatsangestellten beispielsweise. Ein schwedischer Grenzpolizist beschrieb die Arbeit mit dem Recht als „Schwimmen im Nebel“ (119). Als zentrales Merkmal der Migrationskontrolle machen die Autor*innen die „Flickschusterei“ mit dem Recht aus. Tatsächlich werde Recht gerade durch Ermessen funktionsfähig, da sich konkrete Einzelfälle nicht nach Gesetzesnormen richten (74). Deswegen muss das Recht „in Relation zu jeder konkreten Situation ausgerichtet und angepasst werden“ (123). Staatsangestellte orientieren sich dabei nicht zuletzt an der eigenen Bequemlichkeit und Effizienz (124), aber auch an moralischen Überlegungen. Diese Improvisationsleistungen gingen damit einher, dass die Entscheidungsfindungen uneinheitlich, schwer nachvollziehbar und kaum vorhersehbar erscheinen.

Im vierten Kapitel geht es dann auch genau um diese „Unlesbarkeitseffekte“ (nach Veena Das) als Effekte der Flickschusterei. Weil seine Anwendung nicht nachvollziehbar ist, erhält das Gesetz eine fast „magische Macht“, so dass sich „Migrant*innen dem Gesetz gänzlich machtlos ausgeliefert fühlen“ (132). Gerüchte, ungesicherte Informationen und „erfundene Traditionen“ (173) bestimmen dabei nicht nur die Erfahrungen von Migrant*innen, sondern auch für die staatlichen und anderen Akteur*innen hat „‚das Recht‘ ziemlich viel Distanz zum gedruckten Text“ (131). Auch für seine Angestellten sei der Staat nicht evident, sondern ein durch Vorstellungen und die alltägliche Auslegung von Recht in der alltäglichen bürokratischen Routine in die Praxis umgesetztes ideologisches Projekt. Der Staat bleibt eine Vorstellung, zu der sie „einen gewissen Abstand halten“ (276) mit geradezu einem „mythischen Charakter“ (277). Nicht nur Staatsangestellte und Hilfsorganisationen, sondern auch irregularisierte Migrant*innen antizipieren und nutzen das Gesetz.

Im fünften Kapitel geht es um den Umgang mit der Zeit als Handlungsspielraum verschiedener Akteur*innen. Anhand von Auseinandersetzungen um Zeit wird deutlich gemacht, wie widersprüchlich und konfliktiv Migrationsregime sind. Warten lassen, Abschiebungen vorantreiben oder herauszögern, Fristen kurz setzen oder verlängern sind Handlungsmöglichkeiten der Grenzbeamt*innen, die ihnen gegenüber dem Gesetz und Anweisungen von oben viel Spielraum geben. Migrant*innen mit prekärem Status beschrieben dagegen immer wieder, dass ihr Leben von fast unerträglichem Warten geprägt sei. Gleichzeitig ist Warten in Kämpfen gegen Abschiebungen auch eine Strategie, auf mehr Zeit zu spielen und Entscheidungen hinauszuschieben. Die Kontrolle von Migration ist also stark von der Beschleunigung oder Verlangsamung von Zeit geprägt.

Das sechste Kapitel handelt von Verantwortlichkeit. Die Autor*innen untersuchen emische Verständnisse von Verantwortung und Verantwortungslosigkeit. Außerdem positionieren sie sich selbst, indem sie betonen, dass Akteur*innen der Migrationskontrolle – gerade durch die beschriebenen Handlungsspielräume – die Verantwortung für das Schicksal irregulärer Migrant*innen in sehr ungleichen Machtverhältnissen übernehmen. Die Wortschöpfungen der Untertitel geben Einblick in die Inhalte des Kapitels: „Migrationsregime der vielen Hände“ glichen „Verantwortungs-Verschiebebahnhöfen“ (243) und zeichneten sich durch „Zuständigkeitsflucht“ (247) aus. Die genaue Zuweisung von Verantwortung ist dabei schwer. Sowohl Bürokrat*innen, die Verantwortung von sich weisen, als auch solche, die versuchen, verantwortlich zu handeln, reproduzieren „den Staat als umkämpftes Spielfeld von Hoffnungen, Erwartungen und Ängsten“ (269).

Abschließend ist hervorzuheben, dass das Buch abstrakt-ideelle und materielle Ebenen mit Leichtigkeit und sehr überzeugend miteinander verknüpft. Es zeigt, wie sich Vorstellungen von Staat und Gesetz in alltäglichen Handlungen von Staatsangestellten, irregularisierten Personen und weiteren Akteur*innen materialisieren und gleichzeitig kommunikativ erst konstruiert werden müssen. Die ethnografische Perspektive ermöglicht zu zeigen, dass der Staat und das Recht chaotisch, unberechenbar und fragmentiert funktionieren. Die auch in der kritischen Migrationsforschung teils verbreitete Vorstellung, das Scheitern der staatlichen Migrationskontrolle sei allein ein „Effekt des Widerstands von Migrant*innen“, entpuppt sich so als falsch. Das Buch zeigt, dass „Grenzen der staatlichen Kontrolle aus dem Inneren genauso erwachsen wie aus dem Gesetz“ (281).

Die Autor*innen leisten einen sehr wertvollen Beitrag sowohl zur Migrations- und Grenzregimeforschung wie auch zu interdisziplinären Debatten um Staat und Recht. Sie machen ein Stück weit transparent, wie Akteur*innen der Migrationskontrolle in ihrem Alltag handeln und wie Recht, Staat und Gesetz in der Praxis (nicht) funktionieren. Die Autor*innen zeigen, dass Aushandlungen um Migrationskontrolle ein sehr geeignetes Forschungsfeld zur Untersuchung von Staat und Recht bieten. So ist das Buch ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Migrationsforschung als Gesellschaftsforschung betrieben werden kann.

Das englischsprachige Original ist 2018 erschienen. Das war das Jahr des Urteils im Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund in Deutschland, das eine wichtige Zäsur in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte um die Verstrickung extrem rechter Strukturen mit Staatsbehörden und rassistischer Polizeigewalt markiert. Diese Debatte gewann mit den antirassistischen Bewegungen, die auf die rassistischen und antisemitischen Anschläge von Halle (2019) und Hanau (2020) reagierten und an die transnationale Black-Lives-Matter-Bewegung anknüpften, weiter an Fahrt. Aus heutiger Perspektive wäre es höchst spannend, die Argumente und Ergebnisse des Buches in diese Debatten einzubinden. Die Autor*innen betonen die ungleiche Verteilung von Macht und machen die unmenschlichen Effekte staatlicher Praktiken auf das Leben irregularisierter Personen deutlich, lassen aber extrem rechte, explizit rassistische und tödliche Eckpunkte des Polizierens migrantisierter und von Rassismus betroffener Personen außen vor. Im Resümee des Buches skizzieren die Autor*innen das Desiderat, ihre rechtssoziologische und politisch-anthropologische Forschung zu Migrationskontrolle in Dialog mit postkolonialen Debatten zu bringen. Die kolonialen Genealogien von Polizei und Grenze und ihre Rollen in heutigen globalen Machtverhältnissen sowie die aktuellen Debatten um Abolitionismus könnten in sehr produktiven Dialog mit den genauen Beobachtungen des Buches gesetzt werden. Um über Alternativen nachzudenken, ist es wichtig zu verstehen, wie staatliche Macht und Gewalt heute ausgeübt und herausgefordert wird.