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Wolfgang Brückner
Ein religiöser Hype aus Polen. Entkitschungserkundungen
Dettelbach 2020, J. H. Röll, 68 S. m. Abb., ISBN 978-3-89754-591-5
Rezensiert von Konrad Vanja
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022
Allüberall kann man seit einigen Jahren in katholischen Kirchen in Polen, Deutschland, Italien und seit einiger Zeit auch in Frankreich, so die Beobachtungen des Rezensenten, einen neuen Bildtypus eines segnenden und erbarmenden Christus, den „Barmherzigen Jesus“, sehen. Dem Volkskundler auffallend, entspricht er einem weiblichen Pendant, nämlich der segnenden Maria in dem visionär erschienen Bild der Médaille Miraculeuse der Catherine Labouré von 1830. Diesem Bild der segnenden Hände, die Gnadenstrahlen all denen reichen, die Maria mit Zuversicht und Inbrunst darum bitten, so der umlaufende französische Text, gesellt sich fast genau ein Jahrhundert später (1931) durch die Nonne Faustyna Kowalska ein ebenso visionär erschienenes Christusbild hinzu, dessen Gnadenstrahlen dem Herzen Jesu für all diejenigen entspringen, die auf ihn vertrauen, wie es in zugehöriger Textzeile auf Polnisch lautet: „Jezu, ufam tobie“ (Jesus, ich vertraue auf Dich). Beiden Bildern gemeinsam ist, dass sie in einer Vision erschienen mit dem Auftrag verbunden sind, das Bild zur Gnade der Menschheit zu verbreiten. Dem neuentstandenen Bild aus Polen widmet sich Wolfgang Brückner, der in seiner Studie dessen visionärer Entstehung, seiner bildlichen Umsetzung, seiner Verbreitung und schlussendlich seiner Popularisierung im Geflecht von Kirchenrecht und Kirchenorganisation, Empathie eines polnischen Papstes und einer breiten Frömmigkeitsbewegung nachgeht.
Der Rezensent hielt 2002 zum ersten Mal dieses Andachtsbildchen der 2000 heiliggesprochenen Schwester Maria Faustyna Kowalska in Händen, es war das Geschenk eines katholischen Pfarrers aus der kleinen katholisierten, ehemals protestantischen Gemeinde von Wałbrzych, dem früheren Waldenburg, in Niederschlesien. Gemeinsam mit der Tochter des früheren evangelischen Pfarrers dieser Gemeinde hatten wir die Kirche ihres Vaters besucht. Dabei wurde sie von dem sichtlich berührten Pfarrer als Tochter seines verehrten Vorgängers umarmt und erhielt wie auch ich ein Bild des Barmherzigen Jesus, das datiert und mit seiner Unterschrift versehen wurde. Ich ahnte damals noch nicht die Dimension, die diese Begegnung wie das Motiv des Barmherzigen Jesus in den folgenden zwei Jahrzehnten auch für mich persönlich haben sollte: Einmal damit befasst, begegnete es mir in Polen, aber vor allem damals auch in Italien an zahlreichen Orten beim Besuch von Kirchen und Andachtsstätten immer wieder. Gesammelt habe ich seitdem alles an Kleinschriften und Andachtsbildchen, die ich entdeckte, erschienen in einer spannenden Vielzahl und Unterschiedlichkeit, die faszinierte. Dazu kam neben fotografischer Dokumentation auch ein Objekt der polnischen „Volkskunst“, eine Holzskulptur der heiligen Nonne. Auffallend war, wie verspätet dieses Motiv in Deutschland und meines Erachtens noch geringer in Frankreich Verbreitung fand. Heute ist diese Sammlung Teil der Andachtsbildersammlung des Diözesanmuseums Freising.
Umso erstaunter und zugleich erfreuter war der Rezensent, auf dieses Thema bei Wolfgang Brückner zu stoßen, lag diese neue „polnische Bildformulierung“ doch nicht im bislang so weitgefächerten Forschungsgebiet des Doyens der Frömmigkeitsforschung in Mitteleuropa, übersähe man nicht seine Aufmerksamkeit für das Strahlenmotiv im Rahmen eines Beitrages „Marianischer Kult und Ikonographie im 19. Jahrhundert. Himmelblaue Immaculata – Handgestus und Strahlensymbolik – Wundertätige Medaille und Bildverbreitung – Hinterglasmotiv“ im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde (2003, S. 35–63). Dennoch und gerade wegen dieses durch die Frömmigkeitsgeschichte geprägten Themas des Erbarmenden und Barmherzigen Christus der Sorora Faustyna Kowalska aus Krakau und seiner so weitläufigen Verbreitung ist der „Hype“ ein Teil dieser und auch unserer Frömmigkeitslandschaft geworden. Sich diesem Feld einer „Frömmigkeit der Gegenwart“ zu nähern als einer Gläubigkeit unserer jüngeren Geschichte – Brückner vermerkt die späten Forschungen in der Volkskunde/Europäischen Ethnologie zu den im 19. Jahrhundert neu entstandenen und bis heute weithin so lebendigen Verehrungsorten Lourdes oder den der Médaille Miraculeuse in der Pariser Rue du Bac (die Beispiele ließen sich im 20. Jahrhundert über Heroldsbach u.a. erweitern) – sollte Aufgabe moderner volkskundlicher Arbeit in und für die Gesellschaft sein, dies mit Verweis auf die englische Soziologie und Neuere Geschichte, die sich unter dem Stichwort „lived religion“ in „Urbanität und Globalität“ dieses Themas aus Polen als Teil der polnischen Immigrantenbevölkerung Großbritanniens angenommen hat (8).
Im Geflecht von „Kitschzuweisungen“ des heute allgemein bekannten süßlichen Erscheinungsbildes Christi in der späteren, zweiten Bild-Formulierung von 1943, die heute weitgehend verbreitet ist, und skeptischer Betrachtung visionärer Erscheinungsformen mit dem für die persönliche Glaubenserfahrung von Johannes Paul II. so einschlägigen beliebten wie dubiosen Pater Pio, wendet sich Brückner den Ursprüngen und der Verbreitungsgeschichte dieser Verehrung im Feld unterschiedlichster Quellengattungen zu: Internetrecherchen, gedruckte und redigierte Tagebücher, kirchliche Verlautbarungen etc.; ein Wagnis wegen fehlender Originalunterlagen, die vielleicht einmal einer späteren Forschergeneration zur Verfügung stehen. In klassischer Legendenbildung gestaltet sich das in kirchlich redigierten und teilweise aus dem Gedächtnis nachgeschriebenen Tagebüchern vorgeführte Leben der Helena Kowalska (1905–1938). Brückner zeichnet den bewegten geistlichen Weg der „Seherin“ und „Hörerin“ mit frühen „Gesichten“ in einer Klosterlaufbahn zwischen dem litauischen Wilna, dem polnischen Warschau und schließlich dem alten Königsort Krakau nach, der von Wegweisern und Beichtvätern geprägt wurde. Krakau sollte auch der Ort sein, an dem der junge Karol Wojtyła und spätere Kardinal von Krakau mit dem Wirken der früh verstorbenen Visionärin in Kontakt kam. Es war eine geistliche Begegnung, die er als Papst Johannes Paul II. mit der Selig- und Heiligsprechung im Jahr 2000 abschließen konnte. Brückner erzählt diese Geschichte kommentierend in kirchengeschichtlichen Zusammenhängen von Parallelen und Besonderheiten, wie sie ein Land wie Polen mit seiner zerrissenen und von den Nachbarländern bedrängten Geschichte prägt. Dahinter ist zu vermerken: Die Trennung Litauens von Polen, den alten Stammländern der Rzeczpospolita, dem Polnisch-Litauischen Großreich, Holocaust und Verbundenheit polnischer Identität von Staat und Kirche sind Hintergründe des nur scheinbar abgeschiedenen Lebens einer polnischen Nonne, die im kirchlichen Verfahren ihrer Visionen zu einer der prägendsten Heiligenfiguren in der Amtszeit des Papstes Johannes Paul II. werden sollte.
Aus der inneren Geschichte der Nonne Faustyna von den ersten Visionen, der Erscheinung Christi und seinem Auftrag, ein Bild von ihm mit der Unterschrift „Jesus, ich vertraue auf Dich“ zu malen, das in ihrer Kapelle und dann auf der ganzen Welt verehrt wird (1931), bis hin zur malerischen Umsetzung 1934 nach den Erinnerungen in ihrem später rekonstruierten Tagebuch, entstehen zwei Abbildungen des Barmherzigen Jesu, die die Maler Eugeniusz Kazimirowski 1934 und Adolf Hyła 1943 (dies in der heute populären Fassung) in Altarbilder umsetzen. Später werden Andachtsbildchen nach den Gemälden gedruckt. Die Parallele, so Brückner, zu den Segensstrahlen der Wundertätigen Medaille aus Paris ist erkennbar. Die Medaille liegt ebenso im Seh- und Erfahrungsbereich der Warschauer Kongregation der Schwestern der Muttergottes der Barmherzigkeit (eine französische Ausgründung in Polen), der die junge Seherin Faustyna zugehörte, wie die hervorstechenden Farben des Barmherzigen Jesus in rot und weiß, die der Nationalflagge Polens entsprechen. Faustynas früher Tod 1938 beendete keineswegs den Rezeptionsprozess ihrer ins Bild umgesetzten Vision: Ihre Beichtväter zum einen und zum anderen die von dem Maler Hyła 1943 geschaffene wesentlich gefälligere Fassung des Visionsbildes, entstanden während der Zeit des brutalen deutschen Regimes im Generalgouvernement von Hans Frank auf dem Wawel von Krakau, mögen trotz kirchlicher Einsprüche die Verehrung als Gnadenbild verstärkt haben.
Das Christusbild von Hyła mit dem leicht geneigten „Schlafzimmerblick“ – hier ist auf die Forschungen Brückners zur „Bilderfabrik“ des 19. und 20. Jahrhunderts (1973) zu verweisen – löste zwar Kontroversen in Krakau aus, blieb jedoch die Vorlage aller später genutzten Abbildungen im Zusammenhang der Visionen Faustynas. Daneben wurden nach einer der wenigen vorhandenen Fotografien der Nonne in ihrer Tracht Andachtsbildchen als Porträts gedruckt (übrigens lange Zeit auch als Fotoabzüge, nicht als Drucke). In Krakau-Łagiewniki entstand nach der politischen Wende 1989 eine große Wallfahrtskirche der göttlichen Barmherzigkeit, deren Weihe durch Johannes Paul II. 2002, zwei Jahre nach der Heiligsprechung, vorgenommen wurde. Brückner verfolgt die baulichen Wirkungen, die von deren Popularität ausgingen, in weitere gerade auch im Lokalen verankerte Kirchenbauten für den beliebten Papst (unweit des Krakauer Klosters oder der gigantomanische Neubau der „Basilika der Muttergottes von Lichén“ östlich von Posen; ähnlich wäre auf die überdimensionierte Christusfigur bei Świebodzin, früher Schwiebus, von 2010 hinzuweisen, die mit 36 Metern höher als der Christus von Rio de Janeiro ist).
Dem „Hype“ um dieses Frömmigkeitsphänomen, dessen sich die Kirche auch unter Johannes Paul II. trotz Einführung eines Barmherzigkeitssonntags 2000 im Verbund mit der Heiligsprechung Faustynas nur zurückhaltend bediente, dürfte bis heute keine Grenze gesetzt sein. Der Unterstützerkreis in aller Welt scheint hier eher weiter zu wachsen, wie man das den Schriftenständen in katholischen Kirchen entnehmen kann. Lokale Versuche, dem „Kitsch“ dieses Bilds des Barmherzigen Jesus zu entgehen, wie etwa in Würzburg mit der Beauftragung eines renommierten Künstlers, bleiben wohl die Ausnahme. Der Frömmigkeitsforscher stellt sich der Aufgabe des Beobachters, der den wechselnden „Hypes“ seine sachkundige Interpretation zur Seite stellt.
Eine Beobachtung der vergangenen Jahre möchte ich dieser verdienstvollen Studie noch hinzufügen, die vielleicht einen verborgenen Bereich der Popularität Faustynas berührt und die zu recherchieren und zu ergänzen lohnen würde: Ich konnte sowohl in polnischen als auch in italienischen Kirchen feststellen, dass vielfach Bilder von Johannes Paul II., der Hl. Faustyna und dem heiliggesprochenen Pater Pio in einem Blickzusammenhang gleich einer Verehrungsgemeinschaft aufgebaut worden sind. Daraus möchte ich eine Hypothese für die Weissagungen von Faustyna wie von Pater Pio in Bezug auf Johannes Paul II. einbringen, der es um die Widergabe der besonderen Liebe von Christus zu Polen geht. „Ich hege eine besondere Liebe zu Polen, und wenn es Meinem Willen gehorcht, werde Ich es in Macht und Heiligkeit erhöhen. Aus ihr wird der Funke hervorgehen, der die Welt auf Mein letztes Kommen vorbereiten wird,“ steht im Notizbuch der Faustyna (VI 1732). Die Äußerung bezieht man gerne auf die Inthronisierung des ersten polnischen Papstes und dessen Bedeutung für die Freiheit Polens; in diesem Zusammenhang ist die Pater Pio zugeschriebene Weissagung an den jungen Karol Wojtyła zu sehen, dem er 1947 sowohl die Wahl zum Papst als auch das Attentat von 1981 vorausgesagt haben soll. Zusammen ergibt sich schließlich eine synthetisierende und plausible Erfolgsgeschichte abseits quellenkritischer Kontrollen zugunsten aller drei Heiligenviten.
Abschließend: Sich mit einer Materie religiöser Vergewisserung zu befassen, ich denke hier insbesondere an die umfängliche Traktatliteratur, eröffnet in historischer, kultur- und frömmigkeitsgeschichtlicher Begleitung von Wolfgang Brückner klare und nüchterne Erkenntnisse, sofern man sich überhaupt auf einen solchen Gang gegenwärtiger populärer Glaubenswelten einlassen möchte. Sein Ziel, dadurch eine „Entkitschung“ im Dunstbereich des Geglaubten zu ermöglichen, hat er mit dieser Miniatur mit Wissen, Kritik, aber auch mit Empathie erreicht. Der Gewinn für die Leserschaft besteht darin, eine Visionärin in ihrem Lebens- und Glaubensbereich eingebettet zu sehen abseits des „kitschig“ gemalten populären Bildchens.