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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Michaela Eigmüller/Mathilde Wohlgemuth (Hg.)

Schützen. Das Buch. 500 Jahre Kulturgeschichte in Süddeutschland

Kronburg 2021, Zweckverband Schwäbisches Bauernhofmuseum Illerbeuren, 336 S. m. Abb., ISBN 978-3-931915-15-5


Rezensiert von Jonas Leineweber
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 25.08.2022

„Schützen spielen als gesellschaftliche Größe eine wichtige Rolle im deutschsprachigen Raum“ (6), heißt es in der Einführung des Sammelbandes „Schützen. Das Buch. 500 Jahre Kulturgeschichte in Süddeutschland“, herausgegeben von Michaela Eigmüller und Mathilde Wohlgemuth. Inwiefern die Rolle der Schützen aus kulturhistorischer Perspektive eine bedeutende ist, wann und warum erste Schützengesellschaften entstanden, welch hoher Stellenwert Schützenfesten in der Frühen Neuzeit beigemessen wurde, wie sich Schützenvereine bis heute weiterentwickelt haben und welche Zusammenhänge mit dem süddeutschen Raum bestehen, sind die selbstformulierten Leitfragen des Bandes. Ursprünglich sollten diese aber nicht in Form einer Publikation, sondern im Rahmen einer bis heute wegen bautechnischer Mängel nicht eröffneten Ausstellung im Haus der Schützenkultur Illerbeuren reflektiert werden.

Vor diesem Hintergrund kann der reich bebilderte Band zu Teilen auch als Ausstellungskatalog verstanden werden, der verschiedene Objekte der Sammlung präsentiert, dokumentiert und einordnet. Die von zahlreichen Institutionen geförderte Publikation bietet somit eine „Anlaufstelle und Fundgrube für Schützenfachleute, aber auch interessierte Laien“ (9). Sie macht vielfältige Archiv- und Bildquellen wie Satzungen, Plakate, Postkarten, Fotografien, Zeichnungen sowie Abbildungen von Schützenscheiben und Fahnen für ein breites Publikum zugänglich. Kontextualisiert und perspektiviert werden die Darstellungen neben den Beiträgen der Herausgeberinnen und durch Aufsätze von elf Autorinnen und Autoren. Aus verschiedenen kulturwissenschaftlichen Fachrichtungen und Subdisziplinen der Geschichte, Europäischen Ethnologie und Germanistik haben sie sich dem Schützenwesen und seiner kulturhistorischen Entwicklung genähert.

„Aufmerksamkeit verdient diese Bearbeitung“, wie die Herausgerberinnen betonen, „weil das Schützenwesen bislang in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen wenig oder nur dezidiert im Rahmen der Landesgeschichte beachtet wurde“ (6). So reiht sich diese Publikation in aktuelle Bestrebungen ein, diese Forschungslücke zu schließen und leistet insbesondere für den süddeutschen Raum einen wertvollen Beitrag. Dies gelingt bereits durch das zugänglich gemachte Quellenmaterial, das Anlass und Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen bieten wird. Neben der Präsentation und Dokumentation der Objekte und Quellen besteht das Ziel des Bandes darin, die „Hintergründe, Zusammenhänge und regionalen wie überregionalen Beziehungsgeschichten offenzulegen“, dem „interessierten Laien die Welt der Schützen nahe zu bringen“ und „die Lebendigkeit dieses reichen und vielseitigen Kulturphänomens […] einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen“ (6 f.).

Gemäß dieser Zielsetzung ist die Publikation chronologisch in sechs Kapitel gegliedert. Von Teil eins bis fünf werden die Epochen des Mittelalters, der Frühen Neuzeit, des Langen 19. Jahrhunderts bis hin zur Weimarer Republik und des Nationalsozialismus beleuchtet. Der sechste Teil, mit der wohl am ehesten auf die Gegenwart gerichteten Kategorie „Sport“, fällt aus diesem Schema und ist mit den darin versammelten Beiträgen auch eher als Komposita zu verstehen. Eingeleitet werden die einzelnen Kapitel mit Überblicksdarstellungen zu den jeweils betrachteten Zeiträumen, ehe die Beiträge der Autorinnen und Autoren aus ihren jeweiligen fachwissenschaftlichen Perspektiven folgen. Angereichert und erweitert werden die einzelnen Kapitel durch die Rubrik „Geschichte der Waffen“ sowie durch eingewobene Infoboxen, die ergänzenden, definitorischen oder anekdotischen Charakter haben.

Im ersten Teil „Stadtverteidigung und Kurzweil“ werden Entstehung und Entwicklung des mittelalterlichen Schützenwesens im südlichen Heiligen Römischen Reich im 14. und 15. Jahrhundert anhand lokaler und regionaler Archivquellen anschaulich dargestellt. Christian Chandon arbeitet in seinem Beitrag darüber hinaus die Funktionen, Aufgabenbereiche und Verfasstheit der Schützengesellschaften heraus. Dabei ist insbesondere seine quellenkritische Analyse vermeintlich früher Nachweise von korporativen Organisationen und Schützenfesten wertvoll – eben jene abwägende Beurteilung, die zahlreiche populärwissenschaftliche Publikationen vermissen lassen. In diesem auf die Entstehung des Schützenwesens gerichteten ersten Teil fehlt allerdings ein Verweis auf die flandrische Ursprungsregion und die von diesem Gebiet ausgehende Verbreitung des Schützenwesens in Mitteleuropa. Eine solche transregionale Einordnung und Verortung wäre gerade für die in der Einleitung adressierte Leserschaft ohne Fachkenntnisse wertvoll gewesen. Erst im dritten Teil wird dieser Aspekt im Beitrag von Ulrike Götz erwähnt. Das erste Kapitel abschließend beleuchten Johannes Willers und Michaela Eigmüller die Herstellung und den Verkauf der Waffen in der dafür bekannten Stadt Nürnberg. Der aus einer Publikation von 2002 entnommene Beitrag stellt allerdings nur spärliche Bezüge zum Schützenwesen und zum Gesamtkontext des Bandes her. Eine zusammenfassende Einbindung in die bereits ausführlich beleuchte „Geschichte der Waffen“ wäre hier kontextuell und konzeptuell nachvollziehbarer gewesen.

Im zweiten Teil „Rauschende Feste“ rekonstruiert Jean-Dominique Delle Luche auf Grundlage vielschichtiger Quellen wie Schützenbriefen, Ratsprotokollen, Rechnungen und Chroniken die wirtschaftlichen, sportlichen und gesellschaftlichen Dimensionen der Schützenfeste zu Beginn der Frühen Neuzeit. Anhand der Zusammenführung der Quellen stellt Delle Luche heraus, dass die Schützenfeste in Süddeutschland im „15. und 16. Jahrhundert die häufigste Form von Wettbewerben und offiziellen Vergnügungen“ darstellten sowie „Höhepunkte eines gemeinsamen Erfahrungsraumes“ waren, der auch „durch regionale und religiöse Identitäten geprägt wurde“ (118). Gleichzeitig verweist er auf die „anachronistischen heutigen Interpretationen“ und ideologische Vereinnahmung und Verzerrung des Schützenwesens im 20. und 21. Jahrhundert (118). Ein wichtiger Hinweis, dem in weiterführenden Untersuchungen größere Aufmerksamkeit zu wünschen ist.

Einleitend in den dritten Teil arbeiten zunächst die Herausgeberinnen „Niedergang und Wandel“ der Schützengesellschaften während und nach dem Dreißigjährigen Krieg heraus. Nicht nur die militärische Funktion der Schützen wurde mehr und mehr obsolet, auch ihre Schützenfeste konnten nicht mehr an ihre vormalige Größe und gesellschaftliche Bedeutung anknüpfen. Im Zeitalter der Aufklärung, der französischen Revolution, der napoleonischen Herrschaft und der Mediatisierung ging auch der Stellenwert der nun häufig als „altväterlich und überflüssig“ (141) empfundenen Schützengesellschaften stark zurück. Ulrike Götz bereichert den betrachteten Zeitraum nicht nur durch ihre Ausführungen zum Phänomen der bemalten Schützenscheiben, sondern insbesondere auch durch ihre Einordnung in die Genese des Schützenwesens im Vergleich zum nord- und westdeutschen Raum. Die Schützenscheibe als charakteristisches Medium der Selbstdarstellung und als bemalter Repräsentationsgegenstand der Schützen verstanden, spiegele mit ihrer „historischen Aussagekraft“ (156) politische, gesellschaftliche, kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen und Prägungen mit lokalen und regionalen Bezügen wider. Einem konkreten Beispiel widmet sich Christoph Engelhard in seinem Aufsatz über die Scheiben-Galerie der Memminger Bolzschützen-Gesellschaft aus lokalhistorischer Perspektive.

Sowohl die Kapiteleinführung als auch der Aufsatz von Regina Ille-Kopp im vierten Teil des Bandes vermitteln einen guten, quellennahen Einblick in die Phase der „Einigung und Polarisierung“ des Schützenwesens von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. Dabei wird insbesondere der nationale Einigungsgedanke anhand der Gründung des Deutschen Schützenbundes 1862 in Gotha sowie der folgenden Bundesschießen mittels zeitgenössischer Beobachtungen und Aussagen verdeutlicht und auch mit den gleichzeitigen Bestrebungen der Sänger und Turner in Verbindung gesetzt. Über die Symbolik der historischen Schützenfahnen führt Urte Evert in ihrem Aufsatz die Entwicklung des Schützenwesens in den verschiedenen Phasen zusammen und zeigt dabei die Verflechtung von gewählten Symbolen und den mit ihnen verbundenen Idealen und Bestrebungen der Schützen innerhalb eines bestimmten Zeitgeistes – wie beispielsweise die bis heute gängige Rezeption der Symbolik des Eichenlaubs seit dem 19. Jahrhundert als „Hinwendung zu einer idealisierten deutsch-mittelalterlichen Vergangenheit“ (230).

Unter den Schlagworten „Gleichschaltung und Instrumentalisierung“ widmen sich die Herausgeberinnen und Stefan Henricks im fünften Teil der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Die wenigen bisherigen Untersuchungen zu der Rolle der Schützenvereine im „Dritten Reich“, insbesondere die bedeutende Studie von Henning Borggräfe „Schützenvereine im Nationalsozialismus. Pflege der ‚Volksgemeinschaft‘ und Vorbereitung auf den Krieg (1933–1945)“, erschienen 2010, können hier allerdings nicht durch neue Erkenntnisse erweitert, allenfalls in Teilen mit regionalen Verweisen bestätigt werden. Hier wäre eine Erweiterung der Fallbeispiele neben Bamberg auf weitere Städte oder Regionen in Süddeutschland wünschenswert gewesen. So wurden die in erster Linie auf Westfalen bezogenen Studienergebnisse Borggräfes eher auf die süddeutsche Region übertragen. Damit bleibt die Auseinandersetzung mit den Schützenvereinen im „Dritten Reich“ auch und insbesondere für die süddeutsche Region ein wichtiger Forschungsauftrag.

Im sechsten Teil „Sport“ wird unter anderem die Ausrichtung des Schützenwesens nach dem Zweiten Weltkrieg in den Blick genommen. In Süddeutschland scheint die Fokussierung des Schießsports für die Wiederaufnahme der kulturellen Praxis der Vereine weitaus entscheidender zu sein als beispielsweise im Rheinland und in Westfalen, wo weniger eine sportliche als eine kirchliche Verklammerung forciert wurde, um die Vereinstätigkeiten in den Besatzungszonen wiederaufnehmen zu können. Die 2015 erfolgte Aufnahme des Schützenwesens in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes (nicht Weltkulturerbe) blieb sehr kurzgehalten und hätte der Publikation noch weiterführende Forschungsperspektiven eröffnen können. Der sprachwissenschaftliche Beitrag von Damaris Nübling und Rudolf Steffens zeigt, inwieweit sich die Begriffe „Schütze“, „schießen“, „schützen“ in Familiennamen und Redewendungen widerspiegeln. Nicht alle aufgeführten Beispiele sind dabei genuin auf die Praxis der Schützengesellschaften zurückzuführen, sondern waren in vielen Fällen weitaus stärker – wie die Autoren selbst herausstellen – militärisch oder von Berufsbezeichnungen geprägt. Einige bis heute beliebte Redensarten gehen allerdings eindeutig auf das Schützenwesen zurück (z. B. „Schützenfest“ als Bezeichnung für ein torreiches Fußballspiel, „Rest vom Schützenfest“, „den Vogel abschießen“). Abschließend nimmt Britta Spies die verschiedenen Modi des Vogel- und Scheibenschießens in den Blick und arbeitet dabei regionale Unterschiede und Eigenarten in Süd- und Norddeutschland heraus. Diese regionale Vergleichsperspektive scheint auch für die vorherigen Beiträge ein lohnender und weiterführender Forschungsansatz zu sein.

Obgleich das präsentierte vielfältige Quellenmaterial einen sehr großen Mehrwert bietet, sind wohl kleinere formale Einbußen auf die Fülle der Darstellungen zurückzuführen. So sind einige Bilder abgeschnitten abgebildet oder aber unterbrechen den Fließtext inmitten eines Satzes für mehre Seiten. Nicht berücksichtigt wurde Regina Ille-Kopp im Autorenverzeichnis. Inhaltlich bleibt anzumerken, dass es wiederkehrend zu Redundanzen zwischen den Kapiteleinführungen und den Aufsätzen kommt. In diesen Fällen wären eine Zusammenführung oder Spezialisierungen der Beiträge ergiebiger gewesen. Für wissenschaftliche Leserinnen und Leser wäre es hilfreich, wenn die als Überblicksdarstellungen gelungenen Kapiteleinführungen mit Fußnoten ausgestattet wären. Von diesen Einschränkungen abgesehen, wird die quellengesättigte Publikation ihrer Zielsetzung gerecht, „die Lebendigkeit dieses reichen und vielseitigen Kulturphänomens […] einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen“ (6).