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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Christian Packheiser

Heimaturlaub. Soldaten zwischen Front, Familie und NS-Regime

(Das Private im Nationalsozialismus 1), Göttingen 2020, Wallstein, 533 S. m. Abb., ISBN 978-3-8353-3675-9


Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Im Rahmen eines anspruchsvollen Forschungsprojekts am Institut für Zeitgeschichte (München/Berlin) zur Erkundung des Verhältnisses zwischen den privaten und öffentlichen Lebensbereichen während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur hat sich Christian Packheiser in seiner Münchener geschichtswissenschaftlichen Dissertation das Phänomen des Heimaturlaubs (oder Fronturlaubs) vorgenommen, um – erstmalig – einen gewissermaßen ganzheitlichen Einblick in dieses Handlungsfeld zu ermöglichen. Die Untersuchung erfolgt auf der Basis eines ganzen Bündels von Forschungsfragen, die sich auf alle drei Akteure beziehen, auf das NS-Regime, die Wehrmacht sowie die Soldaten einschließlich ihrer Familien, konkret auf die jeweiligen Interessen, Einflüsse, Kontrollmechanismen, Bewertungen, Problem- und Konfliktfelder, auf Vorgänge der Aushandlung, normative Grundlagen und insgesamt die Funktion(en) der Aktivitäten rund um diese Form von miteinander verschlungener systemischer und lebensweltlicher Praxis. Die dazugehörigen Ausführungen werden in drei übergreifenden Teilen präsentiert.

Der erste Teil, „Entwicklung und Ordnung des Fronturlaubs“, liefert die Ausgangs- und Ansatzpunkte für die Untersuchung, und er ist komparatistisch angelegt: Da geht es um das Geschehen während des Ersten Weltkriegs ebenso wie um jenes während der NS-Zeit ebenso wie um jenes bei den alliierten Streitkräften. Unter anderem gelangt eine Stichprobe von 408 Soldbüchern von Mannschaftssoldaten und Unteroffizieren während der Jahre 1939 bis 1945 zur statistischen Auswertung hinsichtlich Einziehung zum Wehrdienst, Anzahl der Urlaube, Anteile der Urlaubsarten, Lazarettaufenthalte, Urlaubsarten nach Familienstand, Wartezeiten auf Fronturlaub, was insgesamt zu der Schlussfolgerung führt, „dass ein großer Teil der Soldaten wenigstens einmal im Laufe des Krieges überdurchschnittlich lange von Heim und Familie getrennt war. Vor allem betraf dies Frontverbände.“ (91)

Der zweite Teil, „Urlauber an der Heimatfront“, befasst sich mit Vorgängen des Transports und der Betreuung der Hin- und Rückreisenden, mit deren Disziplin und einschlägigen Maßregelungen, mit realen und vermeintlichen Freiräumen während des Reisens, mit Strapazen und Gefahren, schließlich mit Abläufen der eigenen seelischen Transformation während des Unterwegsseins. Es geht ferner um die Beschaffung (Kauf versus Requirierung) von für die Familie mitzubringenden Waren (Versorgung) und Geschenken, um die Inszenierungspraktiken der Fronturlauber durch die NS-Propaganda, um deren Umgang mit dem Kriegsgeschehen, um die Bedeutung des Uniformtragens auch in der (vermeintlich privaten) Urlaubszeit, um das Verhältnis von offizieller Konzession und gleichzeitiger Ausübung von Kontrolle den Urlaubern gegenüber (Fürsorge und Überwachung, Belohnung und Steuerung, Hilfestellung und Bevormundung), insgesamt also um den Kampf um die Grenzziehung zwischen öffentlichen und privaten Lebensbereichen, um Deutungshoheit, auch um Normbrüche wie zum Beispiel Erschleichung oder Übertretung von Urlaub.

Der dritte Teil, „Soldatenbeziehungen und staatliche Interventionen“, ist eher aus der Sicht von unten angelegt, wenn der Autor Themen behandelt wie die konkreten Trennungserfahrungen, die soldatischen Erlebnisse während des Kampfeinsatzes, die keineswegs konfliktlose Gruppendynamik innerhalb der einzelnen Einheiten, die Kontakte zur weiblichen Zivilbevölkerung, die Lockerung der Sexualmoral hier wie dort, das hierarchisierte Familienleben unter besonderer Betonung der männlich-soldatischen Rollen, den Umgang der Akteure mit den bevölkerungspolitischen Ansprüchen des Regimes sowie, nicht zuletzt, den Bedeutungswandel dieser Funktionen im weiteren Verlauf des Krieges.

Christian Packheiser hat Archivbestände aus Institutionen in Deutschland, Großbritannien, Österreich und den USA ausgewertet, und zwar nicht nur offizielle Dokumente wie beispielsweise unterschiedliche Urlaubsordnungen zu unterschiedlichen „Urlaubsarten“ (Erholungs-, Sonder-, Sport-, Tages- und Nachturlaub, Arbeitsurlaub etc.) aus verschiedenen Jahren, sondern auch Soldbücher der Soldaten sowie weitere Quellen, um die inoffiziell-private Seite des Kriegsgeschehens zur Geltung zu bringen. Dazu gehören hauptsächlich jede Menge Ego-Dokumente in Form von Kriegstagebüchern, Memoiren, Feldbriefserien, aus denen ausführlich zitiert wird, und nicht zuletzt Fotografien. Es ist auf diese Weise ein anschauliches Gesamtbild von jenen Praktiken, Taktiken und Strategien entstanden, mit denen die Akteursgruppen ihre jeweiligen Ziele zu erreichen versuchen. Und die Leistung des Autors besteht darin, detailliert vorzuführen, dass und vor allem wie und aus welchen Beweggründen die jeweiligen Handlungsweisen und die dazugehörigen Ideologien sich situativ bedingt immer wieder von Neuem zwischen den Polen des Miteinanders und des Gegeneinanders hin und her bewegen und somit eine möglicherweise unerwartete Dynamik aufweisen.