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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Dennis Eckhardt/Sarah May/Martina Röthl/Roman Tischberger (Hg.)

Digitale Arbeitskulturen. Rahmungen, Effekte, Herausforderungen

(Berliner Blätter 82), Berlin 2020, Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin, 150 S. m. Abb., PDF/open access, ISSN (Online) 2702-2536


Rezensiert von Stefan Groth
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Über digitale Dimensionen des Arbeitens ist seit Beginn der COVID-19-Pandemie in Deutschland Anfang 2020 viel geredet worden. Home-Office-Pflicht, die Nutzung von Videokonferenz-Software und anderen kollaborativen Tools, der Umgang mit digitalen Gesundheitsdaten oder Tracing-Apps in der Gastronomie haben die vielfältigen Verflechtungen zwischen Arbeit und Digitalität in einer Intensität greifbar gemacht, die vor Corona in den meisten Alltagen nur Teil von Zukunftsprojektionen gewesen sein dürfte. Insofern kommt der Ende 2020 erschienene Band der Berliner Blätter (open-access und nur digital erhältlich) zu digitalen Arbeitskulturen zur rechten Zeit, um diese Dimensionen auch empirisch-kulturwissenschaftlich zu diskutieren. Die vier Herausgeber*innen – Dennis Eckhardt, Sarah May, Martina Röthl und Roman Tischberger – sehen mit der Pandemie einen „Digitalisierungsimperativ“ (11) einhergehen, der in gesetzlichen Maßnahmen ebenso begründet liegt wie in gesellschaftlichen Debatten über Arbeit. Die „Kämpfe“ um die „Neubewertung von Arbeit“ (ebd.) in diesem Kontext bedürften einer „wachsamen“ Diskussion, um zumindest offenzuzulegen, wie in Folge von gegenwärtigen Transformationsprozessen soziale Ungleichheiten verschärft werden. Dies, so machen die Herausgeber*innen deutlich, könne durch eine kulturanalytische Perspektive erreicht werden, die „transformierende Subjektkonstitutionen und Lebenszusammenhänge“ ebenso wie die „Wirk- und Gestaltungsmacht von Akteur*innen“ (12) differenziert in den Blick nimmt. In den elf Beiträgen des Bandes, der in die Sektionen „Rahmungen“, „Effekte“ und „Herausforderungen“ eingeteilt ist, gehen die Autor*innen exemplarisch einigen Fragen um das wechselseitige Verhältnis von Arbeit und Digitalität nach.

In ihrer instruktiven, abstrakt bleibenden Einleitung verweisen Eckhardt et al. darauf, dass europäisch-ethnologische Annäherungen an dieses Verhältnis drei sich überlappenden und ergänzenden Szenarien folgen und erstens den Einfluss von Digitalisierungsprozessen auf Arbeitskulturen, zweitens die digitalisierenden Effekte von Arbeit und drittens Formen der digitalen Arbeit in den Blick nehmen könnten (8 f.). Für alle diese Annäherungen, dafür plädieren die Herausgeber*innen auf Grundlage einer kursorischen Diskussion von Ansätzen und Themen der Medien- und Digitalanthropologie und der Arbeitskulturenforschung, sei forschungspragmatisch eine Zusammenarbeit der beiden entsprechenden Kommissionen in der dgv (seit 2021 dgekw) angezeigt. Der Band liefert hierfür gute Grundlagen.

Heiner Heiland beschäftigt sich im ersten thematischen Beitrag mit Fahrradkurier*innen von zwei großen Essenslieferdiensten. In seiner Forschung kombiniert er teilnehmende Beobachtung, beobachtende Teilnahme und digitale Ethnografie, um den „strukturellen Unterschieden, die durch die differente Kopplung zwischen Plattformen und Arbeitenden – selbstständig oder angestellt – entstehen“ (22), nachzugehen. So wird deutlich, dass der individuelle Umgang mit digitalen Arbeitsprozessen entscheidend durch das Verhältnis von Kurier*innen und Plattformen geprägt ist und Angestellten beispielsweise größere Freiräume zur Verfügung stehen. Der Beitrag von Johannes Müske diskutiert den Begriff der „Arbeit 4.0“ am Beispiel der Logistik; es geht ihm um die zentrale Rolle von Disziplinierung für den Diskurs wie für Alltagserzählungen von Arbeiter*innen. Der dritte Beitrag der Sektion „Rahmungen“ ist ein Gespräch von Dennis Eckhardt mit Moritz Altenried, Manuela Bojadžijev und Mira Wallis über deren Forschungsprojekt zu „Digitalisierung von Arbeit und Migration“; thematisiert werden hier Begriffsfragen um den „digitalen Kapitalismus“ ebenso wie Konzepte von Infrastruktur und Logistik, das Verhältnis von Privatheit und (digitaler) Arbeit sowie der Topos digitale Migration.

In der zweiten Sektion zu „Effekten“ berichtet Petra Schmidt über bloggende Mütter als „Form der Unternehmer*innenschaft“, bei der „die Darstellung der eigenen Subjektivität und des eigenen Lebensstils neben Motiven wie Unterhaltung, Selbstverwirklichung, Bestrebungen nach Deutungsmacht und Anerkennung im sozialen Raum“ im Vordergrund stünden (55). Mit dieser Aufzählung wird bereits die Komplexität des Verhältnisses zwischen Arbeit und digitalen Praktiken deutlich, das Schmidt unter anderem als „Chance für den Wiedereinstieg in eine sogenannte kreative Erwerbsarbeit“ (64) versteht. Eindrücklich zeigt der Beitrag, wie der Versuch, in den Blogs ästhetische Differenz als Alleinstellungsmerkmal zu produzieren, auf unterschiedliche Kompetenzen und Ressourcen zurückgreift und dabei „Interessantes“ aus der persönlichen Sphäre inszeniert, um soziales und ökonomisches Kapital zu schaffen (ebd.). Der Beitrag von René Umlauf beschäftigt sich mit „digitaler Fabrikarbeit“ im Sinne der massenhaften Bearbeitung digitaler Daten, die getaggt oder in Datenbanken eingepflegt werden. Umlauf greift auf Forschungen über die Aktivitäten einer Non-Profit-Organisation in Uganda zurück, die Fragen nach digitaler „Mikroarbeit“ (69) durch meist ungeschulte Arbeiter*innen, nach deren geografischer Verteilung und Auswirkungen auf lokale Arbeitsmärkte aufwerfen. Der dritte Beitrag dieser Sektion von Anna Oechslen wirft einen Blick auf das ähnlich gelagerte Phänomen der Crowdwork von Designer*innen in Indien, die über verschiedene Online-Plattformen Aufträge annehmen. Oechslen argumentiert unter anderem dafür, einen stärkeren Fokus auf Interaktionen zwischen Auftraggeber*innen und -nehmer*innen zu legen, um Emotionsmanagement und Vertrauensarbeit bei solchen Formen der Plattformarbeit analysieren zu können.

Die dritte Sektion über „Herausforderungen“ versammelt Beiträge über die (digitale) Nutzer*innenbeteiligung bei der Trainingsplanerstellung eines Fitnessunternehmens, die den Ausgangspunkt für methodologische Überlegungen bildet (Tilo Grenz), über digitale Dimensionen des empirisch-kulturwissenschaftlichen Arbeitsprozesses (Lina Franken), über die Entwicklung und Möglichkeiten eines Software-Tools für die analytische Annotation von Schulbüchern (Sedef Neitmann und Christian Scheel über ein Projekt am Georg-Eckert-Institut) sowie über subjektive Erfahrungen mit einer Freelancer-Plattform für Texter*innen (Nikolaus Lehner). Besonders der Beitrag von Lina Franken ist hier hervorzuheben, der die vielfach fehlende Reflexion über den Einfluss von digitalen Tools auf unterschiedliche Phasen des Forschungsprozesses moniert und dies mit der geringen Rezeption von Forschungsansätzen aus den Digital Humanities oder den Computational Social Sciences ins Verhältnis setzt. Damit sind nicht nur Fragen der Sichtbarkeit von Arbeitsschritten, sondern auch der digitalen „literacy“ im Fachdiskurs angesprochen.

Mit „Digitale Arbeitskulturen“ liegt ein Band vor, der auf mehreren Ebenen zu einer größeren Sichtbarkeit von digitalen Dimensionen des Arbeitens beiträgt, indem er Impulse für methodologische und forschungspragmatische Diskussionen gibt und mit seinen empirischen Beispielen die Komplexität des Themas greifbar macht.