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Anne Münch

Häusliche Pflege am Limit. Zur Situation pflegender Angehöriger von Menschen mit Demenz

(Care - Forschung und Praxis 6), Bielefeld 2021, transcript, 291 S., ISBN 978-3-8376-5554-4


Rezensiert von Valerie Keller
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Der Traum der „späten Freiheit“,[1] eine arbeitsam verdiente Zeit der Erholung am Lebensende, scheint einer immer größeren Gruppe von Rentner*innen nicht vergönnt zu sein. Anne Münch beleuchtet in „Pflege am Limit“ die Lebenssituation von alten und älteren Menschen, die sich in ihrem Ruhestand von eben diesem Narrativ verabschieden müssen: Die Rede ist von pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz.

Ihre Studie beginnt Münch mit dem Argument, dass in Deutschland heute mehr als drei Viertel aller Pflegebedürftigen zuhause versorgt würden. Trotzdem bliebe außer Acht, dass alte Menschen nicht nur Hilfe empfangen, sondern sie auch leisten würden. Dies sei insbesondere dem Umstand geschuldet, dass die häusliche Pflege von Angehörigen viel Zeit in Anspruch nehme, sodass den Pflegenden die Kraft fehle, sich zu organisieren und sich in die Debatte zum Pflegenotstand einzubringen. Vor diesem Hintergrund ist die Arbeit Münchs von hoher gesellschaftlicher Relevanz einzuschätzen, wenn sie das Ziel verfolgt, „einen Beitrag zur Sichtbarkeit der Lebenssituation pflegender Angehöriger zu leisten“ (15).

Die Autorin nähert sich ihrem Untersuchungsfeld zunächst mit einer offenen Forschungsfrage an, indem sie herausfinden möchte, „was es bedeutet, im Ruhestand seine*n Partner*in mit Demenz zu pflegen“ (17). Zur Beantwortung dieser Frage führte sie 16 problemzentrierte Interviews mit pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz, die sie nach dem Codierungsverfahren der Grounded Theory und mithilfe der Situationsanalyse nach Adele E. Clarke[2] auswertete. Dabei nimmt sie stets eine praxeologische Perspektive auf die Pflege ein und rahmt diese theoretisch mit den von Frank Hillebrandt[3] ausformulierten Paradigmen der Ereignishaftigkeit, der Materialität, des Sinns sowie der Praxisformation und erweitert diesen theoretischen Rahmen – angeregt durch ihre eigenen empirischen Befunde – durch das Affektparadigma.

Nach einem kurzen Aufriss, der räumliche Pflege-Arenen und ihre Akteur*innen skizziert, führt Münch in die Schlüsselkategorie für die weitere Analyse ihres Materials ein – die Grenze. Der Annahme folgend, dass Grenzen sozial konstruiert, stets verhandelbar und nicht selten umkämpft sind, drehen sich die nachfolgenden Ausführungen konsequent um zeitliche sowie vergeschlechtlichte Praktiken der Be- und Entgrenzung von Pflegeaufgaben. Unter diesem Fokus liefert Münch eine quellennahe Darstellung von Praktiken der häuslichen Demenzpflege, die dicht an den alltäglichen Sorgen und Nöten von pflegenden Angehörigen arbeitet. Es gelingt ihr, verschiedene Tendenzen von Grenzbearbeitungen innerhalb von Pflegesituationen aufzuzeigen, ohne jedoch Widersprüchlichkeiten auszuklammern oder die subjektive Perspektive von sich als Forscherin sowie die Wechselbeziehungen zwischen Forscherin und Beforschten in der Interpretation der Forschungsresultate zu vernachlässigen.

Die Ausführungen zur zeitlichen Be- und Entgrenzung der häuslichen Demenzpflege beginnt konsequent mit einer theoretischen Herleitung von Zeit als soziales Konstrukt und der beispielhaften Ausführung dazu, wie der Mensch die Zeit für seine Zwecke nutzt. Dieser Perspektive folgend schließt die empirische Studie an und portraitiert zwei Fälle, die hinsichtlich der ausgeübten Pflegzeit unterschiedlicher nicht sein könnten. Damit gelingt es Münch gleich zu Beginn, den Spielraum abzustecken, der sich aus den im Untersuchungssample vorgefundenen Extremen von Begrenzung und Entgrenzung der Pflegezeit in der häuslichen Demenzpflege ableiten lässt. Mit viel Feingespür für das narrative Detail nähert sich Münch sodann an die verschiedenen Zeiterfahrungen ihrer Interviewpartner*innen und an die damit verbundenen Praktiken im Umgang mit Pflegezeit an. In mikrosoziologischer Analyse leitet sie her, wie etwa „Zeitnot“ und gleichzeitig das Gefühl aufkommen, für subjektiv unsinnig gewertete Handlungen Zeit zu „verschwenden“, wie Aus- und Eigenzeiten „verloren gehen“, wie das „Diktat der Uhr“ überhandnimmt oder der Eindruck entsteht, erneut in einer Arbeitswoche zu stecken. Vor diesem Hintergrund arbeitet Münch Zeit entgrenzende Praktiken heraus, die etwa mit verfrühtem Aufstehen einhergehen oder darauf hinauslaufen, sich neue Zukunftsvorstellungen auszumalen, auf eigene Bedürfnisse zu verzichten und sich damit zu trösten, dass alles, was zurzeit keinen Platz hat, später nachgeholt werde. In Münchs Analysen wird die Zeit „totgeschlagen“ und „ausgefüllt“, doch wird sie auch immer wieder „umstrukturiert“ und „(zurück)gestohlen“, sobald die selbstverständlich gerahmte Bereitschaft zur Übernahme der Pflege an Grenzen stößt. Durch den Einsatz von Pflegediensten, aufgrund einer abnehmenden Mobilität der Partner*innen oder mithilfe von Praktiken der „Beschäftigung“ dieser, tauchen plötzlich „Inseln der Eigenzeit“ auf, auf denen eigene Bedürfnisse wieder in den Blick genommen werden können. Diese eindrückliche Schilderung dynamischer Kippmomente zwischen entgrenzenden und begrenzenden Momenten der Pflegepraxis schließt Münch mit der Erkenntnis, dass zwar im Fortschreiten einer demenziellen Entwicklung eine „generelle Tendenz zur Entgrenzung“ (149) bestehe, dass diese aber nicht linear steige, sondern wellenförmig verlaufe. Diese Form erklärt sie über „das handlungspraktische Changieren zwischen der Tendenz zur zeitlichen Entgrenzung der zunehmenden Sorgearbeiten und dem Versuch, die Zeiten der Pflege auf unterschiedlichste Art und Weise sowohl alltags- als auch lebenszeitlich ein Stück weit zu begrenzen“ (149).

Nach einer eingehenden Betrachtung von zeitlichen Grenzbearbeitungen legt Münch einen zweiten Schwerpunkt auf die empirische Untersuchung von vergeschlechtlichten Praktiken der häuslichen Demenzpflege. Die Konzepte Doing Gender[4] sowie Geschlechterwissen[5] wirken darin als theoretisches Fundament. Ähnlich wie im voranstehenden Kapitel beginnt auch hier die empirische Analyse mit zwei Kontrastbeispielen, anhand derer Münch zeigt, dass das Verständnis von Pflegeaufgaben und die Grenzziehungen innerhalb derer eine klare vergeschlechtlichte Prägung tragen. Während weiblich sozialisierte Interviewpartnerinnen die Hausarbeit als Auszeit der Pflege und Rückzugsort für Eigenzeit werten, beginnt die Pflegearbeit für männlich sozialisierte Interviewpartner schon bei der Übernahme einzelner Haushaltstätigkeiten. Die bereits hier ansetzende Entgrenzung bisheriger Zuständigkeitsbereiche scheint zu begrenzenden Pflegepraktiken zu berechtigen, da die Pflegearbeit als doppelte Belastung verstanden wird – die interviewten Männer pflegen nicht nur ihre Ehefrauen, sondern übernehmen auch die Arbeit im Haushalt, die diese bisher ausgeführt hatten. Spannend wird es zudem, wenn Münch die Sozialisierung von Affekten in ihre Analyse miteinbezieht und zeigt, inwiefern „männlicher“ Ekel vor Körperpflege Grenzziehungen legitimiert, wohingegen „weibliche“ Wut über die Situation nachträgliche Entgrenzungen begünstigen, da die Wut nicht selten mit schlechtem Gewissen einhergeht. Folgeschwer ist in diesem Kapitel ihre Erkenntnis, dass weibliche Sozialisierung entgrenzende Pflegepraktiken befördern, während männliche Sozialisierung zu Begrenzungen der Pflegearbeit ermutigt. Der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Befunds ist sich Münch durchaus bewusst, wenn sie darauf hinweist, dass Angebotsstrukturen für häusliche Pflege nur dann unterstützen, wenn sie der Sozialisierung entsprechend auch angenommen werden können, ohne soziale Sanktionen nach sich zu ziehen.

Anne Münchs Studie zur „Pflege am Limit“ gibt in flüssiger, gut verständlicher Sprache einen theoretisch fundierten, in den Sozialwissenschaften bisher fehlenden Einblick in die Pflegesituation älterer Angehöriger von Menschen mit Demenz. Über die Heuristik der Grenze gelingt es ihr, die Dynamik zwischen Fremd- und Selbstsorge in anschaulicher Weise darzustellen und bietet damit eine Grundlage für gesellschaftliche Transformationsprozesse zugunsten der Lebensqualität von pflegenden Angehörigen. Zu wünschen wäre an dieser Stelle jedoch eine Öffnung des Analysefokus und der Miteinbezug von Stimmen der demenzbetroffenen Partner*innen, die in der Studie von Münch lediglich als implizite Akteur*innen auftreten. Es ließe sich die Frage stellen, inwiefern bestehende Grenzen einer Pflegepraxis immer schon Resultat einer Aushandlung innerhalb einer Pflegebeziehung sind, auf das auch das gepflegte Gegenüber Einfluss nimmt. Obwohl Münch Grenzen als „Bestandteil der Vollzugspraxis sozialer Beziehungen“ (89) versteht, beantwortet sie die Frage nach be- und entgrenzenden Praktiken nicht anhand der Analyse von Beziehungen, sondern ausschließlich anhand von Erzählungen pflegender Angehöriger über ihre eigene Lebenssituation. Dieser analytischen Beschränkung ist sich Münch durchaus bewusst, wenn sie selbstkritisch anmerkt, dass ihre Fokussierung auf die Situation von Angehörigen diejenigen Menschen zum Schweigen bringt, die bereits keine Stimme mehr haben. Gerade deshalb wäre der Fokus auf die begrenzenden und entgrenzenden Praktiken innerhalb von Pflegebeziehungen eine erwünschte Erweiterung der vorliegenden Studie.

Anmerkungen

[1] Rosenmayr, Leopold: Die späte Freiheit. Das Alter, ein Stück bewußt gelebten Lebens. Berlin 1983.

[2] Clarke, Adele: Von der Grounded-Theory-Methodologie zur Situationsanalyse. In: Günter Mey u. Katja Mruck (Hg.): Grounded Theory Reader. Wiesbaden 2011, S. 207–229.

[3] Hillebrandt, Frank: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung. Wiesbaden 2014; ders.: Was ist Gegenstand einer Soziologie der Praxis? In: Franka Schäfer, Anne Daniel u. Frank Hillebrandt (Hg.): Methoden einer Soziologie der Praxis. Bielefeld 2015, S. 15–36; ders.: Die Soziologie der Praxis als poststrukturalistischer Materialismus. In: Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld 2016, S. 71–94.

[4] Candance West u. Don Zimmerman: Doing Gender. In: Gender & Society 1 (2) 1987, S. 125–151.

[5] Dölling, Irene: „Geschlechter-Wissen“ – ein nützlicher Begriff für die „verstehende“ Analyse von Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien 23 (1+2) 2005, S. 44–62.