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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Mona Horncastle

Margarete Schütte-Lihotzky. Architektin, Widerstandskämpferin, Aktivistin

Wien 2019, Molden, 287 S. m. Abb., ISBN 978-3-222-15036-4


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000) wird immer dann genannt, wenn es um die von ihr entworfene „Frankfurter Küche“ geht. Diese gilt als die erste Einbauküche weltweit. Sie wurde nach den arbeitsökonomischen Prinzipien Frederick Winslow Taylors (1856–1915) geplant und über 10 000 Mal im sogenannten „Neuen Frankfurt“ in den 1920er Jahren verbaut und auch weltweit im Wohnungsbau eingesetzt. Sicher besteht ein Verdienst von Margarete Schütte-Lihotzky darin, in der Küchenplanung pionierhaft gewirkt zu haben, doch die Wienerin hat viel mehr geleistet. Sie wollte zeitlebens auch nicht auf diese Küche reduziert und immer wieder auf sie angesprochen werden. Schütte-Lihotzky wirkte nach ihrem Studium als Architektin, zunächst in ihrer Geburtsstadt Wien, wo sie Siedlungen konzipierte. Schon hier waren die Kennzeichen ihrer Architektur sichtbar: „systematisch, effizient, kostenbewusst, raumoptimierend, typisierend und somit tauglich für die Massenproduktion“ (28), schreibt die Autorin der vorliegenden Biografie, die Kunsthistorikerin Mona Horncastle. Mit dieser Arbeitsweise empfahl sich Schütte-Lihotzky für eine Tätigkeit bei Ernst May (1886–1970), dem Leiter des Siedlungsamtes in Frankfurt am Main ab 1925. Unter seiner Ägide entstanden mit dem „Neuen Frankfurt“ mehr als 12 000 Wohnungen. Mit der „Brigade May“ gingen Margarete Schütte-Lihotzky, ihr Mann Wilhelm Schütte (1900–1968) und circa dreißig weitere Planer*innen mit ihrem Chef, Ernst May, ab 1930 in die Sowjetunion, um hunderte (!) von Industrie- und Arbeiterstädten zu bauen. Sie errichteten dort im großen Stil Wohnungen, Schulen (Schütte) und Kindertagesstätten (Schütte-Lihotzky). Es galt, durch Architektur zu erziehen, um die russischen Bauern zu Arbeitern zu machen. Mit den Worten „es war hochinteressant – und sehr kompliziert“ (88) fasste Margarete Schütte-Lihotzky diese Jahre zwischen 1930 und 1937 zusammen. Als Kapazitäten in der Stadtplanung beriet das Paar weitere Regierungen in China, Japan und der Türkei jeweils beim Aufbau neuer Städte und damit auch neuer Gesellschaften.

Die bekennende Sozialistin und ab 1939 Parteimitglied der Kommunistischen Partei Österreichs wollte dezidiert dazu beitragen, durch Architektur Gesellschaft neu zu formen und zu verändern. Die soziale Frage stand bei ihr stets vor der architektonischen. Ihr Anspruch bestand darin, sozialgerecht(er) zu bauen, um „ein harmonisches, ästhetisches und gesundes Leben zu ermöglichen: kostengünstiges Material, optimale Raumausnutzung, praktische und einfach zu reinigende Möbelelemente“ (26). Auch die „Frankfurter Küche“ lässt sich so verstehen – eine bis ins Detail durchdachte Kücheneinrichtung, um Frauen das Hauswirtschaften zu erleichtern und ihnen damit die Basis dafür zu schaffen, berufstätig und von ihren Männern unabhängiger zu sein. Architektur gerät so einerseits zur Erleichterung des Lebens, andererseits – wie bei den sowjetischen Arbeiterstädten – verbirgt sich in ihr aber auch eine gewisse Bevormundung, wenn es darum geht, durch neues Wohnen „neue Menschen“ zu erziehen.

Margarete Schütte-Lihotzky führte ein selbstbestimmtes Leben als Kosmopolitin im 20. Jahrhundert, weiteren Generationen von Frauen den Weg bahnend: als eine der ersten Architektinnen im deutschsprachigen Raum, als international agierende Stadtplanerin, aber auch – und das ist bisher weitgehend unbekannt gewesen – als Widerstandskämpferin, fünf Jahre in Gefängnissen in Wien und Aichach inhaftiert, wie auch ab den 1950er Jahren als Aktivistin der KPÖ für Frauenrechte in der Nachkriegszeit. „Sie, deren politische Überzeugungen aus Opposition zu Adolf Hitler erwachsen sind, ist hoch sensibilisiert für jede Form der Ausgrenzung.“ (216) Die reaktionären Entwicklungen in Österreich in der Nachkriegszeit hatten zur Folge, dass Margarete Schütte-Lihotzky sich ganz dem politischen Aktivismus widmete.

Der Wert der vorliegenden Biografie von Mona Horncastle liegt einmal darin, alle Facetten von Margarete Schütte-Lihotzky in den Blick zu nehmen – ein Leben, das mit einer liberal-bürgerlichen Prägung im Wiener Elternhaus begann, über die Schul- und Ausbildungszeit bis zu den verschiedenen Arbeits- und Lebenszusammenhängen führte und dann eine dezidiert politische Ausrichtung nahm. Des Weiteren überzeugen die zeitgeschichtlichen Ausführungen, zum Beispiel zur Wohnungsnot in den Großstädten vor und nach dem Ersten Weltkrieg, über die Umstände der Errichtung der sowjetischen Trabantenstädte, die Einblicke in die kommunistische Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg in der Türkei und in Wien oder auch die Schilderungen aus den Gefängnissen. Die Kunsthistorikerin Mona Horncastle arbeitet breit Material ein: zahlreiche Ego-Dokumente, allen voran zum Teil bisher unveröffentlichte Briefe von und an Margarete Schütte-Lihotzky, ebenso zeitgenössische Fotos aus dem Besitz oder dem Umfeld der Architektin. Vorzügliche Lesbarkeit, differenzierte Nachweise und ein ausführliches Register zu den erwähnten Personen sind weitere Kennzeichen eines Bandes, der Margarete Schütte-Lihotzky sehr gerecht wird: als Zeugin eines Jahrhunderts, aber auch als Gestalterin dieser Zeit mit ihrem neuen, seriellen und standardisierten Bauen, das uns bis heute begleitet und mehr denn je gefragt ist.