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Laura K. Otto

Junge Geflüchtete an der Grenze. Eine Ethnografie zu Altersaushandlungen

Frankfurt am Main 2020, Campus, 423 S. m. Abb., ISBN 978-3-593-51307-2


Rezensiert von Charlotte Röhner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Die mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien ausgezeichnete Ethnografie Laura K. Ottos zu Altersaushandlungen bei jungen Geflüchteten ist eine in vielfacher Weise bemerkenswerte Studie, die den Alltag junger Geflüchteter im Grenzregime Maltas erhebt und in einer intersektional wie subjektivierungs- und raumtheoretisch orientierten und mit postkolonialen Theoriediskursen verknüpften Perspektive untersucht. Grundlegend ist die Annahme, dass Grenzen als Kontaktzonen und als Ergebnis sozialer Praktiken unterschiedlicher Akteur*innen zu verstehen sind. Die Untersuchungsgruppe stellen junge Geflüchtete aus Somalia/Somaliland dar, die über ein Altersfeststellungsverfahren als „unaccompanied minors“ („UAM“) klassifiziert und in maltesischen Einrichtungen für junge unbegleitete Flüchtlinge untergebracht sind. Im Fokus der Untersuchung steht die Frage, „wie das dynamische Mit- und Gegeneinander der geflüchteten und nicht-geflüchteten Akteur*innen im Kontext der Flucht_Migration ausgehandelt“ (27) wird. Nicht verhandelbar ist im europäischen Grenzregime das Altersfeststellungsverfahren, das in Malta über Interviews, eine Inaugenscheinnahme des Körpers sowie durch das umstrittene, fehleranfällige Handwurzelknochenröntgen durchgeführt wird. Das „age assessment“ entscheidet über Status, Mobilität, juristischen und sozialen Stand im Grenzregime und adressiert die jungen Geflüchteten als schutzbedürftig im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention, der sich auch Malta verpflichtet sieht. Da die Klassifizierung als „UAM“ einen zentralen Gegenstand der Aushandlungsprozesse zwischen den jungen Geflüchteten und den institutionellen Akteursgruppen im Grenzregime Maltas darstellte, richtet Otto ihre Forschungsfragestellungen auf die Analyse der Altersaushandlungen und untersucht diese im Theorierahmen eines dekonstruktiv-postkolonialen Intersektionalitätsverständnisses, das nach der Bedeutung sozialer Zuschreibungen für Subjektivierungsprozesse fragt und diese jenseits von Essentialisierungen der Kategorien gender/class/race für die Analyse gesellschaftlicher Positionierungen im sozialen Raum bereitstellt. Otto bezieht sich dabei auf den relationalen Raumbegriff der Soziologie, der die Bedeutung der handelnden Subjekte im Raum betont und daher für ihre Studie als besonders aufschlussreich erscheint. Sie verbindet den soziologischen Raumbegriff mit der postkolonialen Theorie des Dritten Raums nach Homi K. Bhabha und geht davon aus, dass (Un-)Möglichkeitsräume ein immanenter Bestandteil der Aushandlungsprozesse im Grenzregime sind, in dem Subjekte, Struktur und Agency aufeinandertreffen und diese Facetten verhandeln. Die Subjektposition der jungen Geflüchteten als Ausgangspunkt und Fokus der Analyse wird im Kontext postkolonial-migrationstheoretischer Diskurse in Abhängigkeit von Zuweisungen, Ablehnungen und Neuschaffungen von Subjektpositionen bestimmt, die kanalisierend wie limitierend und ermöglichend wirken. Dabei machen die jungen Geflüchteten von ihrer Agency Gebrauch, die relational als Wechselspiel von Struktur und individueller Selbstbestimmung theoretisiert und in die Studie eingebracht wird.

In einem fokussiert adressatenorientierten Forschungszugang zu den jungen Geflüchteten, der über mehrere Aufenthalte in der Heimunterbringung erfolgte und insgesamt 32 Wochen vor Ort im Zeitraum von 2013 bis 2018 umfasste, nahm Laura K. Otto im Modus des „doing ethnography“ eine aktive und interaktive Tätigkeit mit den Geflüchteten auf. In der methodischen Form einer „Dichten Teilnahme“ wurden intensive zwischenmenschliche Begegnungen und situationsnahe Beobachtungen ermöglicht, die informelle Zugänge zu dem Wissen der Geflüchteten schufen. Im Sinne eines multiakteurischen Forschungsansatzes wurden alle am Grenzregime beteiligten Subjekte in den Forschungsprozess einbezogen und informelle Beobachtungen und Gespräche sowie narrative Interviews mit den nicht-geflüchteten Akteur*innen im Feld, mit Sozialarbeitenden, Ministeriumsangestellten und NGO-Mitarbeitenden, durchgeführt. Konstitutiv ist ein Verständnis ethnografischer Forschung, das sich situativ–forschungspraktisch den Verhältnissen im Feld entsprechend anpasst und den Forschungsprozess aus Erhebung, Analyse und Theoretisierung eng miteinander verknüpft. Diese Forschungsstrategie schlägt sich in der Anlage und Präsentation der Studie nieder, in der die theoretischen und methodologisch-methodischen Perspektiven aus der forschenden Praxis und Empirie heraus entwickelt und in die Analyse und Auswertung des Datenmaterials eingebracht werden. Das umfangreiche Datenmaterial ist in Form einer Mehrebenenanalyse aufbereitet und wird in einem Nexus von postkolonial inspirierter Intersektionalität und ethnografischer Methodologie machtkritisch gedeutet. Dabei werden fortlaufend auch die Verstrickungen der Forschenden in den Prozess von Datenerhebung und -analyse ethnopsychoanalytisch reflektiert und in der Perspektive der „critical whiteness“ analysiert. Die Auswertung und Analyse des umfangreichen ethnografischen Datenmaterials erfolgt nicht chronologisch, sondern inhaltlich-thematisch strukturiert nach zentralen Ergebnissen der Grenzregimeanalyse.

Die Befundlage der Studie zur zentralen Frage der Altersaushandlungen im Grenzregime kann wie folgt dargestellt werden: Wie Laura K. Otto am Material detailreich belegen kann, beruht das Verfahren des „age assessment“ auf kulturalistisch-westlichen Zuschreibungen und Normierungen von Kindheit, die von den geflüchteten wie nicht-geflüchteten Forschungsteilnehmer*innen vielfach relevant gemacht wurden und die Dynamiken und Aushandlungsprozesse zwischen den unterschiedlichen Akteursgruppen bestimmten – allerdings aus je unterschiedlichen Machtpositionen und Verortungen der verschiedenen Akteursgruppen im Grenzregime. Entgegen der in internationalen Richtlinien vorgenommenen Klassifizierung von „UAMs“ als vulnerabler Gruppe, wurde die Schutzbedürftigkeit junger Geflüchteter von den institutionellen Akteur*innen immer wieder in Frage gestellt, da nach Einschätzung der Betreuenden die Jugendlichen ihre Flucht selbstständig geschafft hätten und ihr Leben eigenständig regelten. Gleichzeitig kann eine Umkehrung der Schutzbedürftigkeit aufgezeigt werden, da die institutionellen Akteur*innen die „maltesische Kultur“ und „Identität“ als von den jungen Geflüchteten bedroht und besonders schützenswert bezeichneten. Flexible Selbst- und Fremdpositionierungen bei der zentralen Kategorie „Alter“ wurden auch von den jungen Geflüchteten vorgenommen. Während einzelne Jugendliche die gegenüber ihnen vorgenommene Klassifizierung als vulnerables Kind im „age assessment“ in Frage stellten und um die Anerkennung eines höheren Altersstatus kämpften, um schneller den Status des abhängigen Jugendlichen verlassen und ein selbstständiges Leben führen zu können, beriefen sich andere Jugendliche auf die Alterskategorie und forderten entsprechend behandelt zu werden. Die Alterskategorie wurde von den Betreuenden situationsabhängig wiederum auch gegen die jungen Geflüchteten verwendet, wenn ihnen beispielsweise eine Unterstützung ihrer Bildungsaspiration mit Hinweis auf ihre reife Handlungskompetenz in der selbstständigen Gestaltung ihres Lebens versagt wurde. Im komplexen Zusammenspiel der Selbst- und Fremdpositionierungen versuchten die Jugendlichen sich Möglichkeitsräume für ihr aktuelles und zukünftiges Leben zu eröffnen und ihre inferiore Positionierung im Grenzregime zu überwinden. Im Befund bilanziert Otto eine ambivalente Konstruktion von „adult minors“ und eine verschwommene Grenze zwischen „Kind- und Erwachsen-Sein“, die das westliche Verständnis von Kindheit und Jugend in Frage stellt und zu einer grundlagentheoretischen Reflexion und Revision des Konzepts von Jugend als psychosozialem Moratorium aufruft.

Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass es die besondere wissenschaftliche Leistung der ethnografischen Studie Laura K. Ottos ist, über die Alterskategorie hinaus das Zusammenspiel der Kategorien race/class/gender in den Selbst- und Fremdpositionierungen junger Geflüchteter im Grenzregime Maltas empiriehaltig zu belegen und einer intersektional-machttheoretisch versierten Analyse zuzuführen. Rassistische und genderbezogene Kategorisierungen sind nach dem Befund im Alltag der jungen Geflüchteten allgegenwärtig und positionieren sie als inferior, „verandert“ im Sinne des Othering und ausgegrenzt von der maltesischen Gesellschaft. Der Analysewert der Studie ist als wissenschaftlich hoch und weiterführend zu bewerten. Die in Form einer ethnografischen Langzeitstudie angelegte Untersuchung eröffnet eine analytische Tiefendimension in die alltäglichen Praktiken der Aushandlung von Selbst- und Fremdpositionierungen junger Geflüchteter im europäischen Grenzregime, wie sie über konventionelle Methoden der Kultur- und Sozialforschung nicht zu erreichen ist. Sie besticht durch ihren empirischen Materialreichtum, der ebenso transparent wie stimmig und kohärent erschlossen und der wissenschaftlichen Community in seinen Deutungen und theoretischen Analysen zugänglich gemacht wird. Die stringente Verknüpfung von Erhebung, Analyse und Theoretisierung, die Ottos ethnografische Studie auszeichnet, gelingt überzeugend und macht sie zu einer wissenschaftlich spannenden Lektüre. Überzeugend auch die durchgängig selbstkritische Reflexion als weiß markierte Forschende, die forschungsethische Fragen berücksichtigt und um die Limitierungen ihrer Forschung weiß. Die zugewandte Weise, in der Laura K. Otto die Lebenswege ihrer jungen Forschungsteilnehmer*innen auch über den Untersuchungszeitraum hinaus verfolgt, macht deutlich, dass sie die jungen Geflüchteten als individuelle Personen aus eigenem Recht sieht, die Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben haben. Auch in dieser von Anerkennung und Wertschätzung getragenen Perspektive auf die jungen Geflüchteten ist dies eine bemerkenswerte, überaus lesenswerte Studie, die unser akademisches Wissen um die Lebenswege und Biografien transmigrantischer Jugendlicher maßgeblich bereichert und dazu auffordert die Menschenrechte junger Geflüchteter anzuerkennen.