Aktuelle Rezensionen
Sebastian Dümling/Johannes Springer (Hg.)
Die „einfachen Leute“ des Populismus – Erzählungen, Bilder, Motive
(Schweizerisches Archiv für Volkskunde 116/1), Zürich 2020, Chronos, 156 S., ISBN 978-3-0340-1602-5
Rezensiert von Marketa Spiritova
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022
„Die ‚einfachen Leute‘ des Populismus“, herausgegeben von Sebastian Dümling u. Johannes Springer als thematisches Heft des Schweizerischen Archivs für Volkskunde (herausgegeben von Sabine Eggmann und Konrad J. Kuhn), versammelt sechs Beiträge, die „das Phänomen des […] Populismus als auch dessen Erzählungen innerhalb verschiedener zeitgenössischer europäischer [sowie auch außereuropäischer, M.S.] Gesellschaften“ (7) behandeln. Den Einstieg macht Sebastian Dümling mit einer „einführenden Skizze“ über den Konstruktionscharakter der kulturellen Figur der „einfachen Leute“, die einer „Elite“ gegenüberstellt wird. Es ist eine Figur, die in den vergangenen Jahrzehnten einen Paradigmenwechsel erfahren hat – vom „Working Class Hero“ hin zur kleinbürgerlichen, vom Abstieg bedrohten Mittelschicht, vom Labour-Wähler hin zum Brexit-Befürworter, vom Malocher zum AfD-Anhänger. Dabei hinterfragt Dümling mit Rückgriff auf Ernesto Laclau und Chantal Mouffe kritisch die diskursiv konstruierten Oppositionen und Distinktionen, über die die „einfachen Leute“ definiert werden. Er veranschaulicht dies anhand des Songs „Common People“ der britischen Band Pulp aus dem Jahr 1995, in dem die „einfachen Leute“ – wie einst das „authentische Volksleben“ von Volkskundler*innen – ge- beziehungsweise erfunden wird (16). Damit stellt er, anstatt danach zu fragen, wer die „einfachen Leute“ sind, die richtige(re) Frage: „Wer hat die Macht, zu bestimmen, wer die ‚einfachen Leute‘ sind?“ (9) Es geht ihm – und damit gibt er die Richtung des Bandes vor – um das performative Machen und Hervorbringen dieser kulturellen Figur durch eine Deutungselite und darum, „welche Hoffnungen, Ängste, Wünsche, Begierden mit ihrer Anrufung verbunden werden“ (17). Auf Dümlings Einstieg folgen fünf Beiträge, die verschiedene Akteur*innen und geografische wie kulturelle Kontexte, in denen Populismus eine wirkmächtige Kategorie darstellt, in den Blick nehmen.
Jens Wietschorke diskutiert die politischen Konjunkturen von „Spaltungsnarrativen“ in Europa und den USA, denen – wie schon im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – vor allem eine „Kulturalisierung des Sozialen“ zugrunde liege (22). Soziale Ungleichheit, bedingt durch ungleiche Verteilung von ökonomischem oder/und kulturellem Kapital, ist das Kernthema zeitgenössischer „Gap-Diagnosen“, die besonders rechtspopulistische Akteure für sich zu nutzen wissen: die „‚liberalen Eliten‘ mit kosmopolitischer Einstellung“ hier, die „‚abgehängten‘ Globalisierungsverlierer“ (25) dort. Dabei lasse sich mit Rekurs auf Andreas Reckwitz, Cornelia Koppetsch, David Goodhart & Co. beobachten, dass es sich bei Letzteren „auch und gerade um kulturelle Klassen“ handle, „Dimensionen von Bildung, Kultur und Lebenswelt [haben sich] in den Vordergrund geschoben“ (25). Die gegenwärtige Konjunktur dieser dichotomen Kulturkampf- und Cultural Cleavage-Diagnosen auch und vor allem in linksliberalen (Wissens-)Milieus unterzieht Wietschorke einer gründlichen Kritik. Mit Stephan Lessenich verweist er dabei etwa auf die „komplexe Dynamik sozialer Schließungen“ (28), die neben „oben“/„unten“, „rechts“/„links“ Unterschiede und Kämpfe in Hinblick auf Geschlecht, Alter und andere Kategorien einbezieht; er erinnert daran, das Phänomen des Populismus in seinen nationalen, regionalen und lokalen Bezügen zu betrachten und benennt eine Reihe von Problematiken, die Spaltungserzählungen in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten mit sich bringen, etwa den „elitären Paternalismus“ (30) oder allzu pauschalisierende Aussagen über die „common people“, die vorschnell (oder gar fälschlich) als die „Provinziellen“, der „White Trash“ identifiziert werden, die den Rechtspopulisten in Massen in die Arme laufen. So würden die Akteur*innen Gefahr laufen, die Narrative der Rechtspopulisten zu übernehmen, mehr noch: diese selbst mit hervorzubringen. Mit einem Verweis auf die Zeit um 1900 greift Wietschorke wieder die zentrale Frage des Bandes auf: Wer ist die Deutungselite, die über Spaltungserzählungen früher das „Volk“, heute die „einfachen Leute“ und damit sich selbst identifiziert? Und er kommt dabei zu einem zwar bekannten, doch immer wieder erinnernswerten Schluss: „Die Diskurs- und Wahrnehmungsgeschichte der ‚common people‘ ist also immer auch ein Stück Intellektuellengeschichte. Und sie ist – vielleicht insbesondere – ein Stück Sozial- und Wissensgeschichte der Volkskunde.“ (35)
Jelena Salmi analysiert die Fernsehansprache des indischen Premierministers Narendra Modi zur Demonetisierung (demonetization), in der er 2016 zur Bekämpfung von Korruption und Schattenwirtschaft die 500- und 1000-Rupien-Scheine von heute auf morgen entwerten ließ. In Salmis Untersuchung geht es um das in der Rede zentrale Motiv der „einfachen Leute“ und „about the role of emotions in populist politics“ sowie darum, „on how state-citizen relations are constructed and sustained through affective, visceral language“ (40). In seiner Rede behauptet Modi den „common man“ als einen ehrlichen, reinen, sozialen und national gesinnten Hindu, dem die Geldreform zugutekäme. Diesem stellt er, ganz im Sinne des (Rechts-)Populismus, „certain classes of people“ – „political, academic, media entertainment and business elites“ – und „enemies entering across the borders“ – das sind in der Regel die muslimischen „foreigners“, „infiltrators“ und „even termites“ gegenüber (46 f.). Mit Rückgriff auf George Lakoff analysiert Salmi das von Modi verwendete metaphorische Vokabular aus Religion, Hygiene und Militär, mit dem die Demonetisierung vom Sprecher geframt wird (z.B. Korruption als „disease“, „cancer“; Demonetisierung als „cleaning“, „purification“, „war“) und mit dem sich Modi „as a masculine national hero“ (49) inszeniert, der die „common people“ beschütze.
Daniel Bodén untersucht die rechtspopulistische Facebook-Gruppe „Stand up for Sweden“, die im Verlauf des Wahljahres 2018 den Mythos des neoliberalen Strukturen und migrationspolitischen Maßnahmen geschuldeten „Niedergangs des schwedischen Volkes“ heraufbeschwört. Hier werden die „ordinary people“ von den User*innen in erster Linie als „ethnic Swedes“ definiert, denen der Staat aufgrund seiner verfehlten, weil islamfreundlichen Einwanderungspolitik „feindselig“ gegenüberstünde (52). Dies stellen die Gruppenmitglieder in ihren Posts mit der Beschreibung persönlicher Erfahrungen unter Beweis. Drei Narrative macht Bodén dabei aus: „Das Gesundheitswesen als Todesfalle“, den „armen Rentner“ und die „unkontrollierte Kriminalität“. Wie auch andernorts sind es die Politiker*innen und deren Institutionen, die sich nicht um die Belange der Bürger*innen kümmerten, sich nur selbst bereicherten und von den „einfachen Leuten“ zusehends entfremdeten. Während in den Erzählungen konkrete, persönliche Erlebnisse geschildert werden, identifiziert Bodén in den Kommentaren „a bigger issue“: Die „testimonies served as building blocks for the construction of a wider problem“ (62). Dieses Problem verlange, so die Kommentator*innen, nach Lösungen: „Aufstehen“, „Sich Auflehnen“, „Rechts Wählen“ (damit also die Schwedendemokraten), „Nicht Jammern“, Swexit (63). Dieses symbolische soziale Handeln – Erzählung traumatischer Erlebnisse, Reaktion in den Kommentaren, Problembeschreibung, Lösung(sangebot) – habe, so der Autor, auch therapeutische Funktion. Ferner diagnostiziert er eine Entwicklung, die vielerorts zu beobachten ist: Der Aufstieg der Nationalisten und ihrer Anhänger*innen sei darauf zurückzuführen, dass die neoliberalen Eliten eine Wertediskussion führen (etwa in Hinblick auf Diversität) anstatt über die Probleme der „einfachen Leute“, die Postfordismus, Globalisierung etc. gebracht haben, zu sprechen und sie zu lösen. Und Facebook-Gruppen wie „Stand up for Sweden“ kanalisierten diese Erfahrungen und trügen bisweilen zur Entstehung sogenannter „alternative facts“ bei (68).
Mirko Uhlig und Deborah Wolf untersuchen mediale Repräsentationen von Verschwörungstheoretiker*innen am Beispiel der non-fiktionalen Filme „Behind the Curve“ (2018) über die Flacherde-Szene und „The Obama Deception“ (2009) über die New World Order-Verschwörungstheorie. In „Behind the Curve“ geht es um die subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Anhänger*innen der Szene aus einer beobachtenden, etischen Perspektive. Der Film spürt dem „common man“ der Flacherde-Gemeinschaft nach – einer Gemeinschaft, die in den Augen der Akteur*innen einschließend und solidarisch ist sowie vor sozialer Stigmatisierung, Verschwörer*innen und „dem Bösen“ schützt. Dabei befinden sich die „einfachen Leute“ stets in einer ambivalenten Position: Sie sind Außenseiter und Außererwählte zugleich, stehen jedoch immer auch einer „Elite“ gegenüber. Der ethnografisch-dokumentarische Film deutet die Interviewaussagen der Flacherdler*innen zum einen als „Antworten auf die Herausforderungen der Spätmoderne“, und darauf, den Wunsch nach Orientierung, Gemeinschaft und „den eigenen Platz in einer multioptionalen Welt zu finden“ (79), aber auch von der Mehrheitsgesellschaft (und auch der „Scientific Community“) mehr akzeptiert zu werden (83). Zum anderen zeigen die Erzählungen – wie alle Erzählungen der „common people“ – Misstrauen und das Gefühl von Medien, Politiker*innen und „Experten“ „betrogen“ worden zu sein, verbunden mit dem Wunsch, „das eigene Schicksal selbst in die Hand [zu] nehmen, sich gegen falsche Autoritäten zu stellen“ und so eine „erfolgreiche Agency-Erzählung“ zu „artikulieren“ (86). Das zweite Fallbeispiel ist ein Film von Anhängern der bisweilen radikalen New World Order-Verschwörungstheorie, die den damaligen US-Präsidenten als „Marionette“ (88) geheimer Organisationen begreift, die planen, die Weltmacht zu übernehmen, und gegen die man, notfalls mit Gewalt, kämpfen müsse. Uhlig und Wolf interessieren sich hier für den Echokammer- und Filterblaseneffekt, der durch die Remedialisierung der Verschwörungstheorie und ihre Rezeption entsteht, das „patriotische framing“ (96) der Erzählungen und die filmische Perspektive, die im Gegensatz zum ersten Beispiel, das Verschwörungstheoretiker*innen aus verschiedenen Blickwinkeln beobachtete, den „Eindruck eines unmittelbaren Involvements“ (97) vermittelt.
Der Aufsatzteil des Themenhefts schließt mit einem Beitrag von Volodymyr Artiukh zu populistischen Politiken in Zusammenhang mit dem „Social Parasite Law“ in Belarus, das Arbeitslose und Freischaffende zu einer steuerlichen Abgabe verpflichtet und sie damit zum einen finanziell stark belastet und zum anderen zu „Sozialschmarotzern“ degradiert. Anhand von Interviews mit Aktivist*innen der Proteste gegen das Gesetz zeigt der Autor, wie hier die Figur „einfache Leute“ sowohl vom Staat als auch von der vor allem 2017 gegen das Gesetz protestierenden politischen Opposition, den Gewerkschaften und weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen als Argument und Instrument für ihre Politik der Mobilisierung vereinnahmt wurde. Dabei kommt er unter anderem zum Ergebnis, dass es den die Proteste dominierenden Gewerkschaften zwar zunächst gelungen sei, eine große Zahl an Demonstrierenden zu gewinnen, „but [they] failed to transform the popular ,passion-feeling‘ into a political program capable of competing with the dominant populist ideology, borrowing instead the libearal-nationalist agenda“ (110).
Sebastian Dümling und Johannes Springer ist ein spannender Band gelungen, nicht nur weil er die richtigen Fragen stellt, sondern auch weil er die komplexen und vielfältigen Kontexte des „Populismus der kleinen Leute“ in Hinblick auf verschiedene Akteur*innen, Orte, Medien und Praktiken in theoretisch fundierten wie empirischen dichten Beiträgen auslotet. Gleichzeitig kann das Themenheft als Aufforderung an die Scientific Community gelesen werden, ihre Forschungen zu beziehungsweise über die „common people“ kritisch zu hinterfragen.