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Laura Wehr

Geteiltes Land, gespaltene Familien? Eine Oral History der DDR-Ausreise von Familien

Berlin 2020, Ch. Links Verlag, 283 S., ISBN 978-3-96289-106-0


Rezensiert von Hanna Haag
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Etwa eine halbe Million Menschen haben über einen Ausreiseantrag die DDR vorzeitig verlassen. Betrachtet man diese doch recht beachtliche Zahl, so ist es durchaus verwunderlich, dass ihre Geschichten gerade auch mit Blick auf familiäre und damit kollektive Erfahrungen im sozialen Gedächtnis des wiedervereinigten Deutschlands nahezu ins Vergessen gerieten. Laura Wehr widmet sich dieses Randthemas deutsch-deutscher Geschichte in ihrer Monografie aus der Perspektive der Oral History und geht der Frage nach, welche Spuren die Emigration in den betroffenen Familien hinterlassen hat. Während spektakuläre Fluchtgeschichten Teil der historischen Aufarbeitung des DDR-Regimes geworden sind und medial wie wissenschaftlich gut aufbereitet wurden, findet sich die Gruppe der stillen Migrant*innen in einer, wie Wehr es schreibt, doppelten Schattenexistenz wieder: Zum einen zählen sie zu einer in der öffentlichen Wahrnehmung marginalisierten Gruppe unter den DDR-Migrant*innen; zum anderen blieb insbesondere die familiäre Perspektive bislang unbeachtet. Laura Wehr schließt mit ihrer Forschung somit eine doppelte Lücke und knüpft zugleich an die Forschung zu Flucht und Migration aus der DDR an.[1] Dabei richtet sie den Fokus jedoch bewusst auf kollektive Erfahrungen im familiären Raum und ergründet anhand lebensgeschichtlicher Einzel- und Paarinterviews die Prozesshaftigkeit des Ausreisens und Ankommens sowie der familialen Verarbeitung jener Umbrüche aus einer retrospektiven Perspektive. Ausgangspunkt der Überlegung bildet die Annahme, die innerdeutsche Migrationserfahrung habe die biografischen Lebensentwürfe, familialen Beziehungen und identitären Verortungen der Akteur*innen nachhaltig geprägt und fungiere gewissermaßen als „familienbiographische Zäsur im familialen Gedächtnis“ (25).

Als Grundlage für die Publikation dient das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Forschungsprojekt „Geteiltes Land – geteilte Familien“, das neben der Bearbeitung des bereits skizzierten blinden Flecks in der deutsch-deutschen Geschichtsaufarbeitung auch in methodischer Hinsicht mit Hilfe der intergenerationalen Familienforschung in Verbindung mit der akteurszentrierten Migrationsforschung neue Erkenntnisse über die Schnittstelle zwischen „Familie“ und „Migration“ erzielt. Laura Wehr legt dabei eine sehr fundierte Beschreibung und Analyse der Familienbiografien der von ihr interviewten DDR-Ausreisenden vor. Auf die prägnante Ausführung der Forschungsfrage im ersten Teil des Buches folgt zunächst eine gelungene Darstellung methodischer und methodologischer Überlegungen und Anknüpfungspunkte der empirischen Arbeit, die als „Beitrag zu einer Oral History der gelebten DDR-(Emigrations-)Erfahrungen gelesen werden“ (35) kann. Bemerkenswert ist, wie detailliert sich die Autorin nachfolgend mit den, wie sie es nennt, „Beziehungsgeschichten“ (43) auseinandersetzt und dabei sichtbare und latente Differenzen etwa mit Bezug auf Nähe und Distanz oder wechselseitige Rollenverhältnisse thematisiert. Es zeigt sich, dass die DDR-Ausreise sowohl im innerdeutschen Kontext, als auch unter den Familienangehörigen ein weitgehend verschwiegenes Thema ist, das zu „innerfamiliärer Sprachlosigkeit“ (59) führt. Trotz des kollektiven Schweigens finden sich Erinnerungsrahmen, die auf geteilte Erfahrungen und die transgenerationale Wissensweitergabe verweisen. Wehr knüpft an die Theorie zum Familiengedächtnis an,[2] das sich im Unterschied zum artifiziellen kollektiven Gedächtnis aus der Lebendigkeit seiner Träger*innen und der jeweils individuellen Familiengeschichte speist. Ein wenig überrascht, dass sich die Autorin bei ihren Ausführungen zu den Interpretationsspielräumen zwar auf lebensgeschichtliche und damit biografische Daten und deren Konstruktionscharakter bezieht, die Biografieforschung als methodologisches Programm in diesem Kontext jedoch unerwähnt bleibt. Auch die Rückbindung an die Theorie sozialer Gedächtnisse[3] findet nur vereinzelt statt, was vor dem Hintergrund der Fragestellung verwundert.

Den Kern der Arbeit bilden zweifelsohne die im dritten Teil herausgearbeiteten Migrationsverläufe der neun interviewten Familien im Portrait und die sich daran anschließende Analyse des Materials entlang der erzählten Migrationserfahrungen und den darin aufscheinenden Beziehungsgeschichten. Eindrucksvoll schildert Wehr die zurückgelegten Etappen der Familien, die in der DDR beginnen und über den Weg der Übersiedlung bis zum Ankommen im Westen vor 1989 und die Erfahrungen durch die Wiedervereinigung reichen. Die Erzählungen enthalten sowohl Verbindendes als auch Trennendes, was die Ambivalenz der Ausreise und deren Nachwirkung auf innerfamiliale Prozesse verdeutlicht. In den Dynamiken, welche die Ausreise in den Familien(-geschichten) und insbesondere zwischen den Generationen freisetzt und dies auch nach mehr als 30 Jahren, sieht Wehr ihre Hypothese der familienbiografischen Zäsur bestätigt (266). Darin offenbart sich das bereits bei Wohlrab-Sahr u. a. identifizierte spannungsreiche Verhältnis zwischen der integrativen Funktion transgenerationaler Wissenstradierung einerseits und dem Streben nach Individuation und Ablöse der jüngeren Generation von den Älteren andererseits,[4] die etwa Vera King in ihren Ausführungen über die Generativität im Kontext der Adoleszenz herausarbeitet.[5] Gerade diese Verschränkung in inhaltlich-theoretischer sowie methodisch-konzeptioneller Weise macht die Originalität der Arbeit aus. Denn durch den Einbezug der familiären Migrationserfahrungen lassen sich Verbindungen zur Generationenforschung[6] mit Blick auf die DDR und das Nachwende-Deutschland ziehen, was wiederum Rückschlüsse auf Verarbeitungsprozesse des sozialen Wandels ermöglicht. Gleichzeitig stellt die Autorin die Akteur*innen durch die Bezugnahme auf die Erfahrungsgemeinschaft der Familie und das Konzept der Generation in einen Wirkzusammenhang im Sinne transgenerationaler Erfahrungsweitergabe. Die Generationen spiegeln demnach einerseits die jeweilige historische Lagerung wieder und fungieren gleichzeitig innerhalb der Familie in ihrer jeweiligen Positionierung, was Gabriele Rosenthal als das Zusammenspiel historischer und familialer Generationen beschreibt.[7] Verwunderlich ist an dieser Stelle jedoch, dass die Analyse transgenerationaler Dynamiken ohne Bezug auf Karl Mannheims (1928/1964) Generationentheorie auskommt, die eine wichtige Grundlage der Ausführung bildet.

Das Buch von Laura Wehr leistet zweifelsohne einen bedeutenden Beitrag zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte und berücksichtigt mit den Ausreisefamilien eine bis dato marginalisierte Gruppe, deren Stimmen in der Studie zur Sprache kommen.

Anmerkungen

[1] Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. München 2019.

[2] Harald Welzer, Sabine Moller u. a.: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main 2002.

[3] Oliver Dimbath u. Michael Heinlein: Die Sozialität des Erinnerns. Wiesbaden 2014.

[4] Monika Wohlrab-Sahr, Uta Karstein u. Thomas Schmidt-Lux: Forcierte Säkularität. Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands. Frankfurt am Main 2009.

[5] Vera King: Intergenerationalität. Theoretische und methodische Perspektiven. In: Kathrin Böker u. Janina Zölch (Hg.): Intergenerationale, qualitative Forschung. Theoretische und methodische Perspektiven. Wiesbaden 2017, S. 13–32.

[6] Thomas Ahbe u. Rainer Gries: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. theoretische und methodische Überlegungen am Beispiel der DDR. In: Annegret Schüle (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur. Leipzig 2006, S. 475-571.

[7] Gabriele Rosenthal: Historische und familiale Generationenabfolge. In: Martin Kohli u. Marc Szydlik (Hg.): Generationen in Familie und Gesellschaft. Opladen 2000, S. 162–178.