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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Axel Winzer

Permanente Metamorphosen. Neues zur Verlags- und Editionsgeschichte der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm

Marburg 2021, Büchner, 330 S. m. Abb., ISBN 978-3-96317-259-5


Rezensiert von Helge Gerndt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Dieses klar geschriebene und brillant ausgestattete Buch ist ein kulturwissenschaftliches Meisterstück, das aus guten Gründen mit dem neu geschaffenen „Grimm-Preis der Märchen-Stiftung Walter Kahn“ ausgezeichnet worden ist. Hier wird ein Bereich der Grimm-Philologie, der im Wesentlichen ausdiskutiert schien, neu beleuchtet und in die Debatte zurückgeholt. Axel Winzer gelingt es, nicht nur die Editionsgeschichte der Grimmschen Märchen präzis zu schildern und substantiell zu bereichern, sondern auch die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, allen voran Heinz Röllekes grundlegende Studien, sowohl vielfältig zu ergänzen als auch in einem zentralen Punkt, der weit und breit Konsens gefunden hat, zu korrigieren. Er zeigt, dass die Entwicklung der Kinder- und Hausmärchen-Edition in den ersten hundert Jahren nämlich durchaus keine Erfolgsgeschichte ist, und als das Werk dann im 20. Jahrhundert in der Tat weltweit zum Bestseller der deutschen Literatur wird, da liegt das nicht etwa an der Originalität und Qualität seines wissenschaftlichen Konzepts, sondern an dem poetischen Feingefühl Wilhelm Grimms. Dessen schriftstellerisches Ingenium und Selbstbewusstsein wird hier minutiös dargelegt und in die persönlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit eingeordnet.

Das Zentrum der literatur- und buchwissenschaftlichen Detailanalysen bilden zwei Phasen der Werkgeschichte, die bisher wenig betrachtet wurden und jeweils eine editorische Neuorientierung einleiten: 1. zwischen 1819 und 1937, in denen die „Kleinen Ausgaben“ der KHM von 1825 bis 1836 sehr erhellend als „Textlabore“ dienen, und 2. zwischen 1840 und 1843, wo eine „Zwillingsedition“ der „Großen Ausgabe“ erstmals detailliert nach den (forschungsgeschichtlichen) Auswirkungen druckinterner Satzvarianten befragt wird. Außerdem wird intensiv diskutiert (und dokumentiert), dass auch die Illustrationen aus dem Buchinneren der KHM als ein nicht abtrennbarer Bestandteil der Editionsgeschichte gelten müssen. Eingebunden sind diese Untersuchungen in beachtliche und umsichtige Erörterungen der kulturgeschichtlichen Kontexte, speziell in die Vorgeschichte der Märcheneditionen des 18. Jahrhunderts einerseits und in den Zusammenhang mit den zahlreichen, teils entschieden erfolgreicheren Märcheneditions-Konkurrenten, etwa Johannes Löhr oder Ludwig Bechstein, innerhalb des literarischen Erfahrungshorizonts des 19. Jahrhunderts andererseits. Schließlich ist die pointierte (bescheiden „Schlussbemerkung“ genannte) Zusammenfassung und Wertung der Ergebnisse samt Ausblick auf 25 einsichtsvoll illustrierten Seiten hervorzuheben.

Man kann dem Verfasser zu dieser Forschungs- und Präsentationsleistung nur gratulieren. Es ist eine in vielerlei Hinsicht ergebnisreiche und vorbildliche Studie, und da scheint es unbillig, weitere Wünsche anzumelden. Aber wenn man den Kontext der Grimmschen Märchenarbeit noch stimmiger ausloten will, dann darf man – zumindest für die Zeit vor der zweiten Auflage der KHM 1819 – die „Deutschen Sagen“ der Brüder Grimm (und vielleicht auch deren ambivalente Wirkungsgeschichte im 19. Jahrhundert) nicht vernachlässigen. Denn die Sagen sind in den Grimmschen Anfängen kaum lösbar mit deren (diffusen) Märchenvorstellungen verwoben; eine „exakte Abgrenzung“ der Textsorten gelang den Brüdern, anders als Winzer (nachvollziehbar) abkürzend konstatiert (276), auch in diesem Fall nicht.