Aktuelle Rezensionen
Anna Braun
Von ‚Art School‘ bis ‚Underground Club‘. Räume der Interaktion von visueller Kunst und Popmusik im London der 1960er Jahre
(Populäre Kultur und Musik 31), Münster 2021, Waxmann, 510 S. m. zahlr. Abb., ISBN 978-3-8309-4239-9
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022
Anzuzeigen ist eine bei Charlotte Klonk und Peter Wicke entstandene „kunsthistorische Arbeit“ (17), die auf jeden Fall nicht minder als kulturhistorische Dissertation durchgehen könnte. Im Zentrum des Interesses steht die Erkundung jener Verbindungen von visueller Kunst und Popmusik, wie sie sich im London der 1960er Jahre in exzeptioneller Art und Weise in Szene setzten. Dort nämlich lässt sich ein „intensiver Austausch beider Bereiche“ (13) registrieren, was dazu führt, dass die Autorin Anna Braun innerhalb des Rahmens einer fast schon als klassisch zu bezeichnenden Kombination aus Sachanalyse (Inhalte, Formen, Medien) und Situationsanalyse (zeitliche, räumliche, soziale, funktionale Aspekte) einen Beitrag zur multidisziplinären und multiperspektivischen Soziokulturforschung erarbeitet. Die genannten Verbindungen werden, so die dazugehörige Hypothese, „durch besondere Räume hervorgebracht, die das Zusammenkommen der Kunstformen nicht nur beförderten, sondern überhaupt erst ermöglichten“, weswegen sie von Braun auch als „Interaktionsräume“ bezeichnet werden (16). Konkret konzentriert sich die Autorin auf die Entwicklung der Kunsthochschulen, der Galerien sowie auf jene avantgardistischen Kulturaktivitäten, die mithilfe des aus dem New York der frühen 1960er Jahre stammenden Begriffs „Underground“ gekennzeichnet wurden.
Die Studie ist so aufgebaut, dass im Anschluss an die einleitenden Bemerkungen zum theoretischen Hintergrund, dem Quellenkorpus (Ausstellungskataloge, Text- und Bildmaterialien von Institutionen, Nachlässe, Interviews, E-Mail-Kommunikation) sowie der angewandten Methodik in drei reich gegliederten Großkapiteln die einzelnen Handlungsbereiche zur Beschreibung und Analyse gelangen, wobei jeweils in einem ersten Schritt eine exemplarische, möglicherweise gar provokative Form von Hinführung stattfindet, bevor in einem zweiten Schritt, ausgesprochen ausführlich, die jeweiligen Themen differenziert zur Betrachtung kommen.
„Breeding ground: Art Schools“ – Ausgehend von Pete Townshends Gitarrenzerstörungsaktionen während öffentlicher Auftritte seiner Popgruppe „The Who“ als Produkt der Auseinandersetzung mit dem radikalen Kunst-, Werk- und Aktionskonzept Gustav Metzgers, „Auto-destructive Art“ genannt, nimmt sich Anna Braun verschiedene künstlerische Ausbildungsgänge im Vereinigten Königreich vor und vergleicht sie mit Praxisformen der einstigen Ausbildung am Bauhaus, konkret mit dessen allgemeinem, zentrale Grundlagen vermittelnden „Vorkurs“, der peu à peu als Vorbild für den britischen „Basic-Design“-Kurs genommen und dort weiterentwickelt wurde. Dies geschah im Rahmen einer Umstrukturierung und Liberalisierung der Kunsthochschulen, was unter anderem zur Folge hatte, dass auch, vermittelt über den Jazz, das Betreiben von Popmusik Einzug in dieselben hielt. Insgesamt ist die Rede von der „Art School als Sozial-, Frei- und Inspirationsraum“ (103).
„Expanded Artspaces: Galleries“ – Ausgehend von verschiedenen Langspielplattenhüllen der „Beatles“, welche von britischen Künstlern gestaltet worden waren, setzt sich die Autorin mit den einschlägigen Praktiken in vergangenen Jahrzehnten auseinander; sie beschreibt Tendenzen aus der Nachkriegszeit, denen zufolge die Arbeit von Gebrauchsgrafikern nun zum Teil von Künstlern übernommen wurde, wodurch sich auch Möglichkeiten der Ausstellbarkeit der Entwürfe im kommerziellen Galeriewesen ergaben, dies einschließlich der Herausbildung neuer sozial-kultureller Treffpunkte. Exemplifiziert wird diese Entwicklung anhand zweier Galerien, „Robert Fraser Gallery“ und „Indica Gallery“, die zwar nur einige wenige Jahre existierten, aber eindeutig für den neuen Trend standen.
„All art under one roof: Underground Clubs und Labs“ – Ausgehend von bestimmten rockmusikalischen Gruppen und deren Bühnengestaltung, speziell sogenannter „Lightshows“, nimmt sich Anna Braun Konzepte und Praxisformen weit radikalerer und experimentellerer künstlerisch-sozialer Interaktionsräume vor, konkretisiert am Beispiel des „UFO Club“ und des „Arts Lab“, an denen sich, noch deutlicher als im Fall der untersuchten Galerien, Auf- und Abstiegsentwicklungen gegenkultureller Bewegungen sowie Institutionalisierungen demonstrieren lassen.
Der Autorin gelingt es, ganzheitlich und detailliert, konkret und anschaulich vorzuführen, welche Praxisformen als Vorbilder für britische Szenen der 1960er Jahre in Frage kommen und wie mit ihnen umgegangen wird, dies durch welche Mittler, mit welchen Modifikationen und aus welchen Begründungszusammenhängen. Stets geht es darum, vorzuführen, wie die Vorgänge rund um die neuen Entwicklungen genau ablaufen. Die drei behandelten Raumtypen weisen – in ihrer Umfunktionierung zu weitgefassten, auf interdisziplinärem Austausch basierenden Interaktionsräumen – durchaus vergleichbare Charakteristika auf, nur bleibt die Frage letztlich unbeantwortet, ob sich die dort stattfindenden Aktivitäten ebenso als „Austausch“-Aktivitäten bewerten lassen. Nicht von ungefähr zitiert die Autorin gegen Ende ihrer eigenen Darstellung den Musiker und Aktivisten David Bowie: „People didn’t come along to take part in any of the activities. They came along to be entertained.“ (468)