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Michael Angern/Thomas Klie (Hg.)

Wunderkammern des Lebens. Das Kolumbarium DIE EICHE wird zum Erinnerungsort für eine neue Abschiedskultur. Fachtagung unter dem Titel: „Wunderkammern des Lebens – das Kolumbarium Die Eiche als musealer Friedhof“

(Edition Die Eiche 1), Lübeck 2020, Michael Angern, Edition Die Eiche, 94 S. m. Abb., ISBN 978-3-948867-00-3


Rezensiert von Barbara Happe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Im Jahr 2019 fand in der EICHE, einem außergewöhnlichen Bestattungsort, ein Symposion zu „Wunderkammern des Lebens“ statt. Die EICHE ist ein historischer Kornspeicher, der 1873 von dem Kaufmann und späteren Senator Thomas Johann Heinrich (Henry) Mann, dem Vater von Thomas und Heinrich Mann in Lübeck erbaut wurde. Dort haben die mutigen Unternehmer und Designer Michael Angern und Peggy Morenz begonnen, ein phantastisches Kolumbarium einzurichten. Im imposanten siebengeschossigen Speicher mit gotisierender Backsteinfassade ist ein Urnenfriedhof mit seelsorgerischem Konzept entstanden. Die Initiatoren sind von dem tiefen Wunsch erfüllt, zu einer Erneuerung der Abschieds- und Bestattungskultur beizutragen und sie haben ihre gestalterische Kompetenz in dieses Projekt gesteckt. Michael Angern hat 2014 das denkmalgeschützte Objekt erworben und es mit seiner Partnerin mit Verve zu einer Stätte des persönlichen Totengedenkens mit großem finanziellen und schöpferischen Aufwand umgebaut. Die Gründer werden das Kolumbarium unter der Trägerschaft der Heilsarmee betreiben und etwaige erwirtschaftete Überschüsse einer gemeinnützigen Stiftung zuführen. Was den Ort neben vielen anderen Details auszeichnet, sind die Urnenfächer, in deren Vorkammern sich Angehörigen oder im Vorgriff auf die eigene Bestattung dort die seltene Möglichkeit bietet, das Andenken selbst zu gestalten. Das Symposion sollte die Umwidmung des Gebäudes „wissenschaftlich beleuchten und in einen größeren historischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Kontext stellen“ (8), heißt es in der Vorbemerkung.

Sieglinde Klie gibt in ihrem Beitrag „Von Tauben und Toten“ einen instruktiven kulturhistorischen Überblick über die Gestaltung und Nutzung von Kolumbarien von der Antike bis in die Gegenwart. Die doppelte Bedeutung des Begriffs Kolumbarium erklärt sich durch die ähnliche Formgebung von Taubenschlägen beziehungsweise altrömischen Grabkammern, die in der Regel der Aufbewahrung von Urnen dienten. Klie macht drei Epochen dieser Art der Urnenbestattung aus, nämlich vom 1. Jahrhundert vor bis 200 nach Christi Geburt, dann die Zeit der Wiedereinführung der Feuerbestattung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und schließlich seit den 1970er Jahren. Dabei sucht sie in jeder Epoche nach Anknüpfungspunkten mit dem Konzept der EICHE. So zieht sie eine überzeugende Verbindungslinie zwischen der EICHE und der Gestaltung der Kolumbarien der römischen Antike, die der Beisetzung der sozialen Elite dienten und mit ihrer reichhaltigen und aufwändigen Ausstattung eine „Vergemeinschaftung im Reich der Toten“ (23) erzeugte.

Auch in der zweiten Epoche findet sie Übereinstimmungen zwischen der berühmten Urnenhalle in Gotha und der EICHE. Hier sind es die florale Ästhetik, der skulpturale Schmuck oder die Votivtafeln der oberirdisch präsentierten Urnen, die den Grabplatz zu einem veritablen „Erinnerungsmal“ machen (26). In der Epoche der „spätmodernen Kolumbarien“, in der allerdings zumeist die vorfabrizierten Urnenwände auf den Friedhöfen dominieren, kommt seit 2004 ein gänzlich neuer Typus auf, nämlich die teilweise ästhetisch höchst ambitionierten Urnenkirchen. Sieglinde Klie zieht auch hier wieder eine Parallele zur EICHE, indem die Urnenkirchen sich als architektonischer Schutzraum für die Trauernden erweisen. Mit den als Lebenszeichen benannten Artefakten in der EICHE werde der Tendenz zur Anonymisierung entgegengearbeitet. Die Ästhetik wird somit zum entscheidenden Vehikel für die Trauerarbeit.

Die in der EICHE als Kuratorin wirkende Alina Kokoschka stimmt in ihrem Beitrag „Das große Verschwinden“ in das bekannte Klagelied von der Verdrängung des Todes in der Industriegesellschaft ein. Sie „diagnostiziert“ den Niedergang des Abschiednehmens vom Ich und beobachtet, dass je mehr das Ich gehegt und gepflegt werde, desto weniger Beachtung finde es, wenn es im Schwinden begriffen sei (32). Gleichzeitig erkennt sie Gegentendenzen zu dieser recht plakativen Zustandsbeschreibung und nennt die Hospizbewegung oder „Todes-Cafés“ an Friedhöfen. Zudem gebe es ein Bedürfnis, mit der Unsichtbarkeit des Todes zu brechen. Dieses verortet sie überraschender Weise in einer eklektischen Auswahl internationaler Weltliteratur, aber ist das existentielle Thema Tod und Vergänglichkeit nicht von jeher ein zentraler Topos der Literatur und kein Spezifikum der Gegenwart? Nach Kokoschka trage das Kolumbarium die EICHE dem Bedürfnis nach einer persönlichen Bestattung Rechnung. Hier werde dem Tod als Gesprächspartner begegnet, indem das Lebenszeichen als materielles „Unikat“ der Erinnerung einen Dialog mit dem eigenen Leben oder dem bevorstehenden Tod die Angst vor dem Tod in schützende Schranken verweise (37).

Norbert Fischer schreibt über die „Entfesselung der Trauerkultur“. Er konstatiert einen Funktionsverlust des traditionellen Friedhofes und legt Wert auf neue Formen des Trauerns etwa an Unfallstellen, welche die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit genießen. In einem Parforceritt gibt er einen Abriss über die vielfältigen Gegenwartstendenzen des Trauerns und Gedenkens zumeist jenseits des Friedhofes. Er zeigt an unterschiedlichen Beispielen, wie die Trauer in den öffentlichen Raum einkehrt, ganz im Gegenteil zu der auch durch Wiederholung nicht wahr werdenden Ansicht von der zunehmenden Verdrängung des Todes. So muss doch die EICHE selbst als eine kolossale Rückkehr des Totengedenkens und der Bestattung in die alltägliche Nähe gesehen werden.

Antje Mickan reflektiert in „Sterblichkeit und Lebensfluss“ über das besondere Potential bildender Kunst als Medium der Erinnerung im funeralen Kontext. Und es geht um die „Funktionsweisen und Eigenheiten des menschlichen Gedächtnisses“ (54). So zeigt sie etwa am Beispiel des berühmten und seinerzeit umstrittenen Gemäldezyklus „18. Oktober 1977“ von Gerhard Richter (1988) anlässlich des Todes der führenden RAF-Mitglieder im Gefängnis von Stammheim wie sich das Gedächtnis im Laufe der Zeit verändert und immer wieder neue Schichten, Eindrücke und Assoziationen eine Gedächtnisneukonstitution bewirken. Das Gleiche ereigne sich auch im Kontext von Trauerfeiern, wenn sie in „einem ungewöhnlichen Ambiente stattfinden und in neuer Weise mit kulturell bedeutsamen Zeichen operieren“ (56).

Thomas Klie postuliert eine „neue Buntheit der Bestattungskultur“, die sich von den klassischen Erdbestattungen abhebe. An die Stelle des „Hinnehmenmüssens“ – was immer er darunter versteht – trete die „Vielfalt der Wahlmöglichkeiten“ (65). So macht er drei „sepulkrale Codes“ (Passwörter?) aus – einen naturreligiösen, einen ästhetischen und einen anonymisierenden. Der naturreligiöse Code greife im Friedwald. Dagegen stehe der ästhetische, der in „besonderer Weise bei den sogenannten Erinnerungsdiamanten“, einer Marginalie der heutigen Bestattungskultur, zum Ausdruck komme, aber auch bei der „opulenten Erdbestattung mit allem Drum und Dran“ (67). Dies gelte insbesondere für die „stilbildenden Promi-Bestattungen wie von Lady Di“ (68), wobei unklar bleibt, was hier unter „stilbildend“ verstanden wird, etwa das Abstellen von Teelichtern oder Blumensträußen wie bei den verbrannten Menschenaffen in Krefeld. Eine „harte Kontrastfolie“ (68) zu diesen beiden Codes sei der anonymisierende, der mit einem schleichenden Rückzug der Toten aus der Öffentlichkeit einhergehe. Leider suggeriert Klie, dass Friedhöfe nur mehr selten „angewählt“ (66) werden, was dem Umstand, dass nach wie vor 95 Prozent aller Bestattungen auf den traditionellen Friedhöfen stattfinden, fundamental widerspricht.

In ihrem zweiten Beitrag „Lebenszeichen auf dem Friedhof“ erläutert Alina Kokoschka umfänglich das kuratorische Konzept der Lebenszeichen. Mit ihrer Hilfe soll ein gestalteter Nachruf auf das eigene Leben erfolgen. Mittels künstlerischer Arrangements, welche hochwertige Erinnerungsobjekte inszenieren, wird der Rückblick auf das eigene Leben beziehungsweise das eines geliebten Verstorbenen ermöglicht. Künstlerische Artefakte würden den Weg zum eigenen Ich ebnen. Mit dieser intensiven Rückschau verbindet sich ein seelsorgerischer Anspruch der sowohl prä- als auch postmortal sein könne. Die Lebenszeichen werden hier, in nicht weiter begründeter Übertragung der höfischen Wunderkammern ebenso bezeichnet, was zum Titel des ganzen Symposions führte. Trauernde und Besucher*innen sollen in der von professionellen Gestalter*innen und Künstler*innen geschaffenen Ästhetik Trost erfahren. Und nicht zuletzt soll hier das „Werden und Vergehen“ zum „Vergehen und Werden“ (75) werden, der Tod wird nicht als Endpunkt sondern als Ausgangspunkt für etwas Neues gesehen. Das ehrgeizige kuratorische Ziel, der EICHE eine museale Qualität zu verleihen, kann diesen eindrucksvollen und sensiblen Ort mit zu vielen Festschreibungen überfrachten.

Was bleibt: Die Rezensentin hat sich vor der Abfassung der Besprechung dieses Bandes selbst einen Eindruck von dem Kolumbarium verschafft. Sie war fasziniert von der Aura, die diesem einmaligen Ort innewohnt. Dieses Werk ist allein der Kreativität und der Leistung der beiden Gründer zu verdanken, die mit ungeheurer Schaffenskraft und Kenntnis dieses grandiose Ensemble erschaffen haben. Die sieben Beiträge im Tagungsband, die der EICHE eigentlich gewidmet sind, nehmen darauf leider nur bedingt direkten Bezug, was die Strahlkraft des Ortes aber nicht mindert.