Aktuelle Rezensionen
Tanja Theißen
Von Jagenden und Gejagten. Die Jagd als humanimalische Praxis in Deutschland
(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2021, transcript, 335 S. m. Abb., ISBN 978-3-8376-5412-7
Rezensiert von Jadon Nisly-Goretzki
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022
Kaum ein Thema der Tier-Mensch-Interaktionen hat so viel geistes- und sozialwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren wie die Jagd, aber die hier besprochene Dissertation von Tanja Theißen betritt trotzdem neuen Grund. Lange gab es grob zwei Forschungsrichtungen zur Jagd: In der Kulturanthropologie wurde zur Jagd bei indigenen Bevölkerungsgruppen geforscht, deren Praktiken und Einstellungen häufig als eine Art Alternativentwurf von Tierverständnissen behandelt wurden, die wiederum in Kontrast zu einem Domestikationsverhältnis gesetzt wurden, das als westlich und/oder monotheistisch geprägt wahrgenommen wurde. In literatur- oder geschichtswissenschaftlichen Forschungen ging es lange Zeit gar nicht um die Tiere, sondern in erster Linie um Rituale, Adel oder soziale Spannungen, später auch um Männlichkeitsbilder und koloniale Machtverhältnisse. Dabei war die Jagd lange Zeit fast das einzige Gebiet, auf dem sich die Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt mit Tieren beschäftigten. Theißens Buch ist eine der ersten Monografien, die an die Multispezies Ethnografie anknüpft. Hier geht es um gejagte und jagende Tiere als Akteur*innen und deren Interaktion mit menschlichen Jagenden in einem Jagdrevier in der Nordeifel.
Der im Titel genannte Leitbegriff „humanimalische Praxis“ nimmt nicht nur die „Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten, sondern […] auch Landschaft, Wind und Wetter […] als lebendige Umwelt“ in den Blick. Es werden also Impulse einer „anthropology beyond the human“ aufgenommen, wenn es um „mehr-als-menschliche Einflüsse“ geht (10). Als Vorteil des Konzeptes „humanimalisch“ hebt Theißen jedoch die Fokussierung auf „spezifisch human-animalische Beziehungen“ hervor (10). Angesichts der Begriffswahl ist es eher überraschend, dass Rainer E. Wiedenmann im Literaturverzeichnis nicht zu finden ist. Der Begriff „humanimalisch“ wurde direkt aus dem Englischen entlehnt, von der prominenten „critical-animal-studies“ Forscherin Nik Taylor (fälschlich Nick genannt). Allerdings distanziert sich Theißen bewusst von den politisch-emanzipatorischen Dimensionen des Begriffs bei Taylor (10).
Phänomenologie als theoretischer Zugriff auf die Jagd bietet sich an, da Tim Ingold bereits in seiner einflussreichen Jagdforschung damit arbeitet. Mit Theißens Studie und Thorsten Giesers ähnlichen Forschungen können Aspekte von Ingolds Überlegungen in einem sehr anderen Kontext geprüft werden. Wie inzwischen in den Human-Animal-Studies allgemein, grenzt sich Theißen von Bruno Latours Agency-Begriff ab. Die Agency der „Wind-und-Wetter-Welt“ wird als Wirkungsmacht definiert, während nicht-menschliche Tiere als intentionale Akteur*innen mit Handlungsmacht wahrgenommen werden (14 f.). In humanimalischer Relationalität ist eine gegenseitige Wahrnehmung miteinbegriffen, und dies wird empirisch bestätigt: Die Studie enthält „zahlreiche Beispiele dafür, wie die Jagenden und die Gejagten die Situation […] gemeinsam prägen und sich gegenseitig als handelnde Lebewesen wahrnehmen“ (298). Gegenseitige Wahrnehmung wird auch überzeugend mit dem Konzept der Leiblichkeit erklärt: Die ihnen gemeinsam eigene Körperlichkeit ist Voraussetzung für die intersubjektive Kommunikation zwischen Jagenden und Gejagten (114 f.).
Die Studie ist anhand der unterschiedlichen Akteursgruppen gegliedert. Theißen beginnt mit der Landschaft, der sie am wenigsten Agency zuschreibt. Darauf folgen die handelnden Tiere, im vierten Kapitel dann die machtstärksten Handelnden, die Jagenden. Das Kapitel über das Jagdrevier als Raum beginnt mit einer gründlichen methodischen Selbstverortung. Theißen nahm an der Jagd teil, was ethische Fragen aufwirft, die allgemein für die teilnehmende Beobachtung in der Multispezies Ethnografie gelten. Bei der sogenannten Massentierhaltung werden zum Beispiel beide Wege gewählt: Barbara Wittmann hat jüngst Schweine- und Geflügelstallanlagen mit ihren Gesprächspartner*innen besucht, aber nicht mitgearbeitet. Alex Blanchette dagegen arbeitete mehrere Jahre heimlich in Schweineställen. Während Theißen die autoethnografischen Aspekte dieser Entscheidung grundlegend theoretisch einordnet, werden die ethischen Fragen eher beiläufig als Teil der gesamten Arbeit diskutiert. Aufgrund des Zugangs über Leiblichkeit war es beispielsweise von Vorteil, sich selbst körperlich zu beteiligen (37). Insbesondere ist aber hervorzuheben, dass ihre aktive Teilnahme an einem Hobby, das gesellschaftlich sehr umstritten ist, entscheidende Auswirkungen auf ihren Zugang zum Feld hatte. Dass Theißen einen Jagdschein besitzt vermittelte ihre Gesprächspartner*innen das Gefühl, die Forscherin wäre moralisch mit der Jagd einverstanden (11). Dies wiederum öffnete zweifellos viele Türe, die sonst der Beobachtung verschlossen geblieben wären (50 f.). Das Kapitel schließt mit einer überzeugenden Analyse der leiblichen Erfahrung der „Wind-und-Wetter Welt“ mit Zugriff auf Ingolds Konzept von „dwelling“ (74 f.).
Das Kapitel über die Tiere öffnet mit Ausführungen über die historisch konstruierten Kategorisierungen von Wild. Hier treten die Tiere allenfalls als Objekte auf, wobei dies die Machtasymmetrien im Blick fokussiert (112). Dann verlässt das Kapitel die normative Ebene und geht ins Feld, wo die Phänomenologie herangezogen wird, um die Begegnung zwischen zwei handelnden Lebewesen bei der Jagd zu beschreiben. Hier wird überzeugend argumentiert, dass diese gegenseitige Wahrnehmung die Möglichkeiten und Grenzen der speziesübergreifenden Empathie aufzeigt. Genau dieser Perspektivenwechsel und das Einfühlen werden dazu eingesetzt, um erfolgreicher töten zu können (118 f.). Rhoda Wilkie beobachtete ein ähnliches Paradox in ihrer Multispezies Ethnografie der Nutztierhaltung aus dem Jahr 2010. Die Rolle der mitjagenden Hunde ist zwiespältig: Sie werden einerseits als halbwilde, natürliche Jäger gesehen, aber auch als rationalisierte Rassetiere, die genau für bestimmte Einsatzwecke gezüchtet werden.
Im nächsten Kapitel führt Theißen in das ethisch-moralische Rahmenkonstrukt der Jagd ein, die sogenannte Weidgerechtigkeit. Neben rechtlichen Normen besteht sie hauptsächlich aus einer Art „Ehrenkodex“ (185). Hier geht es unter anderem darum, eine Antwort auf den häufigen geäußerten Vorwurf von außen zu finden: Wie können Jagende Tiere als leidfähige Individuen anerkennen und „respektieren“, aber sie dennoch töten? (234) Ähnliche Fragen werden ja auch an landwirtschaftliche Tierhalter*innen gestellt, und die ethisch-moralische Antwort darauf gestaltet sich verblüffend ähnlich. Das Töten muss zum richtigen Zeitpunkt und zum richtigen Zweck erfolgen (211). Der gesellschaftliche Blick auf die landwirtschaftliche Tierhaltung wird aber nicht erwähnt, außer von Gesprächspartnern, die sich von der „Massentierhaltung“ abzugrenzen versuchen und argumentieren, dass die Wildtiere beispielsweise bis zu ihrem Abschuss ein „ganz freies Leben“ hätten (212). Theißen stellt überzeugend dar, wie die bekannten Rituale um die Jagd, wie „Strecke legen und Verblasen“, als kulturelle Träger dieser moralischen Rechtfertigung fungieren. Jedoch wäre es wünschenswert, die Abgrenzung zur Landwirtschaft mehr zu thematisieren (230 f.), da die gesellschaftliche Kritik trotz wichtiger Unterschiede doch Gemeinsamkeiten aufweist. Theißen liefert genüg Belege dafür, wie „unnatürlich“ die Wildtiere leben: Es gibt beispielsweise viel Infrastruktur (Pirschwege, Hochsitze, Lockfütterung) im Wald (77‒84) und die Tiere passen ihr Verhalten sehr an die regelmäßigen Begegnungen mit Jagenden an (115 f.).
Wie fast alle westlichen Jagenden, betonten Theißens Gesprächspartner*innen, dass der wichtigste Aspekt der Jagd nicht das Töten an sich sei. Die Jagd sei „vor allem“ (238) eine ruhige, kontemplative Auszeit in der Natur. Die Autorin erklärt die Besonderheit dieser Naturerfahrung teilweise dadurch, dass visuelle Aufmerksamkeit und visuelles Wissen über die Tiere besonders wichtig seien (242‒251). Es sei „ein Draußen-Sein, das ihnen etwas abverlangt“ (251). Dieser Ansatz kann aber die Anziehungskraft der Jagd nicht ausreichend erklären: Eine ähnliche Kombination von Ruhe und visueller Aufmerksamkeit wäre bei der Vogelbeobachtung denkbar. Theißen stellt klar, dass es bei der Jagd „eben doch nicht nur um ein mehr oder weniger kontemplatives Erleben“ (309) gehe, da man „Beute“ mache (270). Genau in diesem Kontext sind die Anmerkungen zu technischen Hilfsmitteln wie Nachtsichtgeräten besonders spannend (266 ff.). Diese werfen vor allem ethische Fragen auf, die aber im Rahmen des Weidgerechtigkeitskonstrukts (zum Beispiel sichere Schüsse) von den Jagenden gerechtfertigt werden. Auch gibt es eine zunehmende Technisierung der „Schlachtung“, bei der „zentral aufgebrochen“ wird, was heißt, dass getötete Tiere in Räume mit hydraulischen Hebevorrichtungen, gefliesten Wänden usw. gebracht werden. Die Arbeit wird dadurch „nicht nur erleichtert, sondern oft auch hygienischer“ (285). Die Entfernung der Jagd von einem Naturerlebnis wird dadurch unterstrichen, dass die Jagenden die Tiere oft nicht mehr zerlegen, sondern sie direkt nach der Entnahme der Eingeweide an Metzger liefern (291).
Diese sehr lesenswerte Studie liefert spannende theoretische Überlegungen über mögliche Zugänge zu Mensch-Tier-Beziehungen ebenso wie auch wichtiges empirisches Material zu Praktiken der Jagd im 21. Jahrhundert. Manchmal wäre ein noch kritischerer Umgang mit Aussagen der Gesprächspartner*innen wünschenswert. Das historische Bewusstsein, das die Studie grundiert, ist lobenswert: Insbesondere die Situiertheit und Entwicklung der Weidgerechtigkeit wird immer wieder betont. Zusammenfassend ist der Verfasserin zuzustimmen, wenn sie schreibt, dass die bisherigen Analysen der Jagd als „Spiel oder Ritual herrschaftlicher Machtdemonstration“ zwar nicht falsch sind, aber dass diese eben nur einen Aspekt der Jagd begreifen. Solche Analysen können nicht erklären, „wie fundamental die gejagten Tiere die Jagd mitprägen“ (113). Ihre Studie beleuchtet diese machtasymmetrische Relationalität in anregender Art und Weise.