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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Stefan Groth/Sarah May/Johannes Müske (Hg.)

Vernetzt, entgrenzt, prekär? Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Arbeit im Wandel

(Arbeit und Alltag 17), Frankfurt am Main 2020, Campus, 304 S. m. Abb., ISBN 978-3-593-51155-9


Rezensiert von Petra Schmidt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Der von Stefan Groth, Sarah May und Johannes Müske herausgegebene Sammelband „Vernetzt, entgrenzt, prekär?“ entstand im Rahmen der 19. Tagung der dgv-Kommission Arbeitskulturen 2018 in Zürich und Winterthur. Die Veranstalter*innen setzten sich zum Ziel, aus fünf Perspektiven (1. Entgrenzte und prekäre Arbeit; 2. Organisation von Arbeit; 3. Musealisierung von Arbeit; 4. Muße, Balance und Glück; 5. Erwartungen und Zukunft) einen Querschnitt aktueller Forschungsinteressen des Faches sowie die thematische Entwicklung der Kommission Arbeiterkulturen/Arbeitskulturen zu präsentieren.

Der erste Teilabschnitt des Bandes zeigt Entgrenzungs- und Prekaritätsphänome aus Tätigkeitsfeldern, die vielleicht nicht auf Anhieb als besonders entgrenzt oder prekär anmuten. Gerade deswegen sind die Innensichten und Verhandlungsstrategien von Lehrer*innen (Lina Franken), UN-Praktikant*innen (Linda M. Mülli) sowie von Landwirt*innen/Saisonarbeiter*innen (Judith Schmidt) besonders spannend. Mikroperspektivisch werden die Handlungspraktiken und -spielräume analysiert und es eröffnen sich überraschende Ergebnisse: Lina Franken arbeitet die Auswirkungen immaterieller Arbeit von Lehrer*innen heraus und zeigt den flexiblen Umgang mit individuellen Ansprüchen und Umsetzungen vor dem Hintergrund der eigenen Lebenssituation. Linda M. Mülli legt den Widerspruch zwischen Privilegiertheit und Prekarität offen. Privilegierte UN-Mitarbeiter*innen verhandeln ihren prekären Status „privilegiert moralisch“ unter dem Leitmotiv „Gutes zu tun“. Judith Schmidt, dritte Beitragende in diesem Kapitel, stellt die Kalkulationsdimensionen von in Deutschland ansässigen Landwirt*innen und rumänischen Saisonarbeiter*innen gegenüber und zeigt deren unterschiedliche Handlungsspielräume auf. Schmidt zeigt: Wer viel hat, hat viel zu verlieren, wer wenig hat, hat weniger zu verlieren. Die saisonalen Landarbeiter*innen erweisen sich als souveräne Kalkulier*innen ihrer Existenz, während die Landwirt*innen Deprivationsempfindungen begleiten.

Im zweiten Themenkapitel des Buches werden wiederum aus sehr unterschiedlichen sozialen Positionen (niedriges und hohes Lohnniveau) Ethnografien über Praktiken der Arbeitsorganisation vorgestellt, die Einblicke in die Arbeitswelten von Manager*innen (Micheal Maile), von Softwareentwickler*innen (Roman Tischberger) und Logistikarbeiter*innen (Clément Barbier und Cécile Cuny) vermitteln. Hier werden besonders die persönlichen Herausforderungen, die die Optimierung von Produktionsabläufen begleiten, deutlich. Michael Maile analysiert zum Beispiel die Motivations- und Führungsstrategien im Change Management, bei denen es darum geht organisationale Veränderungsprozesse einzuleiten. Hierfür nimmt er „die Passage des Dazwischen […], zwischen der Aufgabe des Alten und der Annahme des Neuen“ ins Visier (94). Dabei kommen Anstrengungen der Selbstoptimierung und Selbststeuerung zu Tage. Die Führungskräfte werden „Change Manager ihrer Selbst“, um Veränderungen erfolgreich umzusetzen (106). Roman Tischberger beschäftigt sich mit der Alltäglichkeit und Wirkmacht von Fehlern bei Softwareschaffenden und wie diese deren Arbeitsorganisation beeinflussen. Fehler zwingen Softwarearbeitende dazu, auf sie zu reagieren, sie zu lösen und mit ihnen umzugehen und beeinflussen so die Organisation und Anpassung von Arbeitsabläufen („agile Methode“, 111). Tischberger zeigt mit seinem Beitrag auch den Umdeutungsprozess von Fehlern auf, die sich von etwas „Falschem“ und Ungewolltem zu einem produktiven Impulsgeber für die Optimierung der Arbeitsorganisation verändern.

Clément Barbier und Cécile Cuny untersuchen die Arbeitsorganisation von Logistikarbeiter*innen im nationalen Vergleich Deutschland/Frankreich. Hier erweist sich, dass Leiharbeiter*innen in Deutschland sich aufgrund eines relativ starren Systems der Arbeitsorganisation tendenziell selbst prekarisieren beziehungsweise strukturell prekarisiert werden, während die französische Arbeiterschaft ihre prekäre Arbeitssituation tendenziell multidimensional und flexibler verhandelt: Logistikarbeiter*innen in Frankreich gleichen als Leiharbeiter*innen die für sie am besten passenden Arbeitsbedingungen (z. B. Lohnhöhe, Atmosphäre, Fahrweg) flexibel an – allerdings spielt hier die Dichte von Jobangeboten in den jeweiligen Untersuchungsgebieten eine wichtige Rolle für das Prekaritätsempfinden.

Der dritte Abschnitt des Bandes wurde thematisch als „Musealisierung von Arbeit“ gefasst. Masterstudierende eines gemeinsamen Lernforschungsprojektes der Universitäten Tübingen und Freiburg (Nathalie Feldmann, Ophelia Gartze, Katharina Löw, Catharina Rische und Tim Schaffarczik) realisierten die Ausstellung „Arbeit... ist Arbeit... ist Arbeit“ mit Arbeitsobjekten aus Sammlungen und Archiven des Landes Baden-Württemberg. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Praxis des Sammelns (von Arbeitsobjekten) je nach Kontextualisierung neue Bedeutungsstrukturen für die Objekte hervorbringt. Simone Egger gibt aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive einen Einblick in den Aufbau des Museums Wattens in Tirol (2014–2018). Dabei bezieht sie die Kontexte, Relationen und Bedeutungen von Wattens und seiner Arbeitskultur ein, indem sie zum Beispiel von Exportgeschäften einer ansässigen Papierfabrik, die die transnationalen Verflechtungen des Ortes aufzeigen, berichtet (177 f.). Wie ein roter Faden werden die Epochen der vorindustriellen agrarischen Arbeit, der industriellen Arbeit sowie des Fordismus und Postfordismus, die sich durch die Geschichte von Wattens ziehen, museal dargestellt und machen vor allem eins: Lust darauf die Ausstellung zu besuchen.

Das darauffolgende Themenkapitel „Muße, Balance und Glück“ stellt Forschungen vor, die sich mit der Verhandlung von Arbeit in Bezug auf die individuelle Selbstausgeglichenheit beschäftigen. Inga Wilke behandelt Entgrenzungs- und Abgrenzungserfahrungen von Menschen in Hinblick auf Arbeit und Nicht-Arbeit. Hierfür untersuchte sie Kurse, in denen Muße revitalisiert wird, und stellt fest, dass die Sphäre Arbeit stets als Vergleichsfolie für Erfahrungen von Muße beziehungsweise Nicht-Arbeit hinzugezogen wird, es führt sozusagen „kein Weg an der Arbeit vorbei“ (207). Eine anders gelagerte Perspektive in Bezug auf die Entgrenzung von „Arbeit“ und „Leben“, nämlich wie Menschen im Zuge wachsender Entgrenzungsprozesse zwischen Heteronomiegefahr und Autonomiepotenzial (Klaus Schönberger) jonglieren, um sozial einer gesellschaftlichen Mitte zugehörig zu sein, beschäftigt Stefan Groth. Arbeitende erhalten laut Groth durch ein optimiertes Selbstmanagement „ein besseres Selbstverhältnis zu Arbeit und Nicht-Arbeit“, so dass eine gelungene Work-Life-Balance wie eine Ressource funktioniert (220). Die Handlungsorientierung „Work-Life-Balance“ wird als Motivation und Arbeitsaufgabe verstanden, der Mitte entweder zugehörig zu bleiben oder sich der Mitte anzunähern. Dorothee Hemme und Ann-Kathrin Blankenberg stellen das trans- und interdisziplinäre Forschungsprojekt zu Glück im Handwerk „Handwerkstolz.de“ vor. Kern der großangelegten quantitativen Fragebogenstudie ist, den Zusammenhang zwischen Arbeits- und Lebenszufriedenheit und Handwerk tiefergehend zu beforschen. Allerdings offenbaren die Fragen der Studie bereits die positive Denkrichtung der Forscher*innen zum Thema, wenn die Gewerksleute nach Stolz, Genuss oder Respekt im Zusammenhang mit der handwerklichen Tätigkeit befragt werden (242). Im Kontext des Kapitelthemas Work-Life-Balance machen die Autorinnen deutlich, dass Handwerker*innen kein extra Selbstmanagement in Form „buddhistischer“ Kurse aufzusuchen brauchen, denn das ausgeübte Gewerk bereitet den Aussagen zufolge an sich Lebens- und Arbeitszufriedenheit aufgrund von Könnerschaft, Kreativität und Innovation, die die handwerkliche Praxis begleiten (239).

Den Abschluss des Sammelbandes bilden zwei Aufsätze zum Thema „Erwartungen und Zukunft“. Manfred Seifert untersucht die Arbeitseinstellung und Berufsorientierung von Professionals zwischen 18 und 44 Jahren, die sich in einem Bewerbungsprozess befinden. Der Beitrag zeigt: Überraschenderweise tendieren gerade jüngere Erwachsene, insbesondere wenn Familienplanung, Elternzeit beziehungsweise eine Elternschaft anstehen, zu fordistischen Arbeitseinstellungen. Monika Litscher vermittelt auf der Basis wirtschaftswissenschaftlicher Studien, statistischer Daten und eigener Erhebungen Einblicke in Arbeitskulturen in Liechtenstein und plädiert für eine menschenzentriete Untersuchungsmethode, um die Zukunftsfähigkeit und die Problematiken liechtensteinischer Arbeitskulturen zu diskutieren. In ihrem Beitrag berücksichtigt sie sowohl strukturelle Daten wie etwa Erwerbsquoten, Firmenabwanderungen in Billiglohnländer oder berufliche Qualifizierung junger Erwachsener, als auch Aspekte wie zum Beispiel Ängste, Hoffnungen und Erwartungen und stellt dabei auch „neue“ zukunftsweisende Entwicklungen in den Arbeitskulturen in Liechtenstein fest. Junge, berufstätige Menschen sehen ihre Arbeitszukunft immer häufiger abseits der zentral regulierten Geldwirtschaft in beispielsweise sozial-innovativen, kreativen Communities (292) oder aber in einer tech-affinen Erwerbssphäre, deren Geschäftsmodelle an die Blockchain-Technologie andocken (293). Der Beitrag zeigt so anschaulich die lokalen, globalen, individuellen und qualifikatorischen Verquickungen und Herausforderungen, mit denen Arbeitskulturen in Liechtenstein aktuell und zukünftig konfrontiert sind.

Insgesamt gibt der Sammelband einen breitgefächerten Überblick über derzeitige Forschungsinteressen und die thematische Entwicklung der Kommission Arbeitskulturen/Arbeiterkulturenforschung zu Arbeit und Gesellschaft, Arbeit und Subjekt, Arbeit und Betriebe, Arbeit und Informatisierung, Arbeit und Globalisierung, Arbeit und Bildung sowie Arbeit und Innovation. Die einzelnen Beiträge nehmen die Leser*innen in die Arbeits- und Lebenswelten von Menschen – ihre Einstellungen, Handlungs- und Denkweisen, Umgangsstrategien sowie ihre (markt)strukturellen, geografischen und sozialen Kontexte – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit. Zudem bietet der Band methodisch, etwa mit Simone Eggers Beitrag zur Musealisierung von Arbeit, interessante arbeitspraktische Anregungen für Wissenschaftler*innen und Studierende der Empirischen Kulturwissenschaften und Beschäftigte im Museumswesen. Auch wenn die vollständige Abbildung der Forschungsinteressen nicht das Ziel dieses Bandes sein will und kann, wäre eine Ergänzung dieser abwechslungsreichen und lesenswerten Zusammenschau in die Arbeitskulturenforschung um die zentrale Kategorie „Geschlecht und Arbeit“ (z. B. im Kontext von Carearbeit oder Digitalisierung) wichtig gewesen, da sie gerade vor dem Hintergrund von Vernetzung, Entgrenzung und Prekarität eine elementare Forschungsperspektive auf Arbeitskulturen darstellt.