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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Flurina Graf

Migration in den Alpen. Handlungsspielräume und Perspektiven

(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2021, transcript, 226 S. m. Abb., ISBN 978-3-8376-5564-3


Rezensiert von Tobias Boos
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Nachdem der Alpenraum in der Bevölkerungsforschung bis in die 2000er Jahre als ein in weiten Teilgebieten durch Auswanderung charakterisiertes Areal beschrieben wurde, gelangt seit rund zwei Jahrzehnten die Einwanderung in die Alpen in den Fokus anthropologischer, soziologischer und geografischer Untersuchungen. Die Forscher*innen wenden sich hierbei vor allem zwei Gruppen permanent in den Alpen verbleibender Einwander*innen zu, die sie als „nuovi montanari“ oder „new highlander“ bezeichnen: Das sind zum einen die Asylsuchenden, die hauptsächlich ab 2015 in den Alpenraum migrierten, und zum anderen die „amenity migrants“, die ihren Wohnsitz wegen des landschaftlichen Reizes oder anderer Annehmlichkeiten, die die Bergregionen bieten, bewusst „dorthin“ verlegen. Im Unterschied zu diesen beiden sozialen Gruppen widmet sich Flurina Graf in ihrem Buch „Migration in den Alpen. Handlungsspielräume und Perspektiven“ den bisher eher am Rande erforschten Arbeitsmigrant*innen, die teilweise schon seit 30 bis 40 Jahren permanent im Schweizer Kanton Graubünden leben. Als Datengrundlagen dienen ihr neben Interviews, die sie in den Jahren 2015 und 2016 führte, auch Zeitungsartikel, Fotomaterial und Fachbeiträge. Das Hauptanliegen der Ethnologin ist es, verschiedene Perspektiven der Einwander*innen auf ihr heutiges Leben in den Alpengemeinden, in denen sie wohnen, zu sammeln und ihre Erfahrungen in Bezug auf ihr Einleben in der Fremde darzustellen. Ein weiteres Forschungsziel liegt darin, die sozialen und wirtschaftlichen Neuerungen und Potenziale, die Einwander*innen in die neuen Wohngemeinden einbringen, zu identifizieren sowie zu untersuchen, inwieweit die Gemeinden den Immigrant*innen Möglichkeiten zur persönlichen und familiären Entfaltung bieten.

Vor allem die Beschreibungen der empirischen Daten machen diese ethnografische Studie lesenswert, da die Autorin es versteht, die Stimmen von Akteur*innen verschiedener Herkunft und sozial-kultureller Lagen sowie unterschiedlichen Alters miteinander in Dialog zu setzen und es dadurch vermeidet, Einwander*innen als eine homogene Gruppe darzustellen. Zur Bearbeitung ihrer Forschungsziele geht Graf klug vor. Anstatt eine Gruppe von Migrant*innen einer bestimmten Nationalität zu untersuchen, entschied sie sich für einen Vergleich der Immigration in zwei Regionen in Graubünden. Bei der Auswahl der Regionen ging sie kontrastiv vor und stellt die Erfahrungen der Einwander*innen aus den ländlichen Gemeinden Avers und Schams, in der die Landwirtschaft den Hauptwirtschaftszweig darstellt, denen der Immigrant*innen aus den schon als verstädterte Gebiete anzusehenden Gemeinden des Touristenzentrums Oberengadin gegenüber. Während Schams und Avers Gemeinden mit mäßigem Ausländeranteil von etwa 12 % an der Wohnbevölkerung repräsentieren, verzeichnet das Oberengadin mit 30 % einen hohen Ausländeranteil. In den Ausführungen der Autorin ist es der Aspekt des Tourismus, der das Leben in beiden Regionen unterschiedlich stark beeinflusst und diesen regionalen Vergleich besonders reizvoll macht, zumal diese Seite in bisherigen Migrationsstudien kaum Beachtung fand. An verschiedenen Stellen des Buches zeigt Graf, dass die spezifischen saisonalen Arbeitsverhältnisse im Tourismussektor, die touristische Angebotsinfrastruktur sowie die Imagination der Landschaft durch touristisches Marketing großen Einfluss auf die Migrationsgeschichten der Interviewpartner*innen und ihrer Erfahrungen beim Einleben in der Fremde besitzen.

Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert und wird von einem zwölfseitigen Anhang mit Informationen zu den anonymisierten Interviewpartner*innen abgeschlossen. Die ersten beiden Kapitel führen anhand der Diskussion von Fachliteratur und statistischer Daten in den Forschungsgegenstand der Migration in ländlichen Gebieten sowie in den Alpen ein und beschreiben die angewandten Forschungsmethoden auf reflektierte Weise. Das erste Kapitel zeichnet sich dabei durch eine gelungene politische Kontextualisierung des Untersuchungsprojektes aus: Grafs Untersuchungen fallen in die migrationspolitisch debattenreiche Zeit der Flüchtlingszuwanderung nach Europa im Jahr 2015 und der Einführung des Themas „Einwanderung“ in die Raumplanung von Staaten wie der Schweiz, Österreich, Deutschland und Italien seit Beginn der 2000er Jahre. Graf konstatiert einen „allmählichen Perspektivwechsel in der Politik von einer Problem- und Defizitorientierung zu einer Ressourcen- und Potenzialorientierung“ (11). Die Darstellungen geben Hinweise darauf, dass diese zunehmend positive Wahrnehmung der Arbeitsmigration und „amenity migration“ – dass diese auch für Asylsuchende gilt, ist zu bezweifeln – sich auch auf das lokale Zusammenleben auswirkt, obwohl durchaus diskriminierende Praktiken und das Konstruieren von Stereotypen weiter auftreten.

In den Kapiteln drei und vier stellt die Autorin die Region Oberengadin sowie Avers und Schams vor und gibt einen ersten Einblick in die Wanderungsmotivation und die Migrationserfahrungen der Gesprächspartner*innen. Die Kapitel fünf bis sieben arbeiten die Charakteristiken der Lebenswelten der Einwander*innen im kontrastierenden Vergleich zwischen den beiden Regionen heraus. Dabei beginnen die Kapitel mit einer kurzen Einführung in theoretische Ansätze, wie „Verbundenheit und Zugehörigkeit“, „Peripherie“ und „transnationale multilokale Lebenswelten“, die die Autorin anschließend für die interpretative Diskussion ausgewählter Interviewausschnitte nutzt. In all diesen Kapiteln gelingt es Graf, generelle Tendenzen für die Einwander*innen herauszuarbeiten, ohne dabei die Vielseitigkeit und die Besonderheiten der einzelnen Migrationsgeschichten aus den Augen zu verlieren. Besonders interessant ist das Kapitel „Verbundenheiten und Zugehörigkeiten“, in dem die individuell variierenden und situativ veränderbaren Zugehörigkeiten der Einwander*innen treffend dargestellt werden. Bisher nur wenig rezipierte beziehungsweise interessante Befunde dieses Kapitels sind, dass Kinder die „Integration“ ihrer Eltern häufig fördern und dass in den ländlichen Gemeinden Avers und Schams die Kontaktaufnahme mit der „alteingesessenen“ Bevölkerung von den Migrant*innen als einfacher wahrgenommen wird als im touristisch geprägten Oberengadin. In den beiden folgenden Kapiteln werden weitere Details aus dem multilokalen Leben der Einwander*innen in den lokalen Kontexten dargestellt.

Im achten Kapitel „Migration als Potenzial für alpine Räume“ stellt die Autorin die mit Einwanderung verbundenen Potenziale für eine positive soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Gemeinden dar. Interessant sind die Ausführungen zu den Arbeitsbiografien der Migrant*innen, die zeigen, wie diese ihre bisherigen und neu erworbenen Arbeitserfahrungen in den lokalen Dynamiken ihrer neuen Wohnorte zu neuen Arbeitsstrategien verbinden, was zu wirtschaftlichen und sozialen Innovationen führt. Ebenfalls spannend ist es, über die Bemühungen der politischen Partizipation der Migrant*innen und die Anstrengungen seitens der Gemeindeverwaltungen, die Einwander*innen in politische Aktivitäten einzubinden, zu lesen. Graf schließt das Kapitel mit Handlungsempfehlungen in Bezug auf lokale und nationale Integrationsstrategien, die sowohl für lokale Bevölkerungen als auch für die politisch Verantwortlichen hilfreich sein werden. Diesen wird in der Schlussbetrachtung nochmals Nachdruck verliehen.

Flurina Graf hat eine ethnografische Studie vorgelegt, die zum Nachdenken über die aktuellen Einwanderungspolitiken und -praktiken einlädt. Dabei fußen die Interpretationen und Handlungsempfehlungen auf einer soliden Feldforschung. Was den Band für die wissenschaftliche Fachgemeinschaft noch wertvoller gemacht hätte, wäre die Entwicklung eines konsistenten theoretischen Rahmens für die Interpretation des empirischen Materials gewesen. Die zur Konzeptualisierung des Materials herangezogenen Ansätze wirken gelegentlich wenig elaboriert, wie beispielsweise die Darstellungen des zentralen Konzepts „Peripherie“ des sechsten Kapitels. Hier nutzt die Autorin lediglich eine raumplanerische Definition von Peripherie, ohne diesen Begriff im Licht aktueller Literatur aus der Politischen Anthropologie und Geografie zu diskutieren.

In der Tat suggeriert die Autorin, dass Grenzzonen stets periphere Räume wären, und übersieht dabei, dass Grenzareale häufig im Zentrum nationalstaatlicher Dispute und ökonomischer Anstrengungen sowie Entwicklungen stehen. Darüber hinaus hätte eine Interpretation der Interviewausschnitte anhand postkolonialer Ansätze und von Konzepten der ethnischen Identitätsbildung den präsentierten hybrid anmutenden Identitätskonstruktionen und den situativen Wechseln von Zugehörigkeit weitere Dynamik und interpretative Schärfe verleihen können. Schließlich bleibt auch die Frage offen, warum der im Titel genannte und im gesamten Buch häufig auftauchende Begriff „Handlungsspielräume“ nicht theoretisch in Wert gesetzt wurde. Vielleicht könnte das Zusammenführen der wissenschaftlichen Debatten um den soziologisch gut ausgeleuchteten Begriff „Handlung“ mit einem kulturanthropologisch verwendeten Spielansatz, zum Beispiel auf Grundlage der klassischen Arbeiten von Johan Huizinga, Clifford Geertz oder Victor Turner, sowie einer noch etwas tiefer gehenden Diskussion des Raumbegriffs aus Perspektive der Geografie einen innovativen transdisziplinären Ansatz zur Erforschung lokaler Vergemeinschaftungsprozesse bieten. Weitere Untersuchungen zur Einwanderung in ländliche Gemeinden des Alpenraumes versprechen in Zukunft neben interessanten empirischen Fällen auch theoretisch anregende Debatten anzustoßen.