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Andrea Sell

„Bewegung ist die beste Medizin“. Alltagskulturwissenschaftliche Nachforschungen zur Trimm-Aktion des Deutschen Sportbundes

(Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 21), Münster 2021, Waxmann, 299 S. m. Abb., ISBN 978-3-8309-4377-8


Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 01.09.2022

Im Jahre 1970 begann in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) der Deutsche Sportbund (DSB) – der Vorläufer des heutigen Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) – eine seiner bekanntesten und erfolgreichsten Breiten- und Freizeitsportkampagnen, die erst gegen Ende des Jahrhunderts zum Erliegen kam: die „Trimm Aktion“. Als Auslöser für das Projekt, so viele Menschen wie möglich zum Sporttreiben und zu einem gesunden sportlichen Leben zu animieren, galt unter anderem der gesamtgesellschaftliche Strukturwandel der Zeit nach 1945. Der postindustriellen Gesellschaft mit ihrer rapide anwachsenden Berufsgruppe der Büroangestellten mit sitzenden Tätigkeiten wurde Bewegungsmangel und insgesamt eine ungesunde Lebensweise attestiert, die sich in der Freizeit mit immobiler Lebensweise und passivem Konsum (Auto, Fernseher) fortsetzen würde und deren Folgen man nun entgegenzutreten habe. War Korpulenz vorher noch ein Symbol für (hart erarbeitenden) Wohlstand und für Sozialprestige gewesen – wiederum eine Reaktion auf die Mangeljahre nach dem Krieg –, so sei aus dieser zuvor als positiv wahrgenommenen Entwicklung nun eine Gefahr für die Gesundheit geworden.

So lange Sport und Turnen, zumindest in Deutschland, institutionell organisiert und für die Bewegungskultur eines nicht unerheblichen Teils der Bevölkerung verantwortlich sind – also seit dem 19. Jahrhundert –, gehören zu ihren Selbstdefinitionen, Rechtfertigungsstrategien und selbsternannten Kernaufgaben immer auch gesundheitliche Aspekte: körperliche Erziehung, Freizeitangebote, regionale Vereinssportkultur, Förderung des (internationalen) Leistungssports und in bestimmten Epochen auch Nationalpolitik verschiedener Couleur – von der Teilnahme an der demokratischen 1848er Revolution über militäraffine und patriotische Körpererziehung für das national ausgerichtete Kaiserreich bis zur aktiven Unterstützung des Nationalsozialismus. Zugleich hat es immer wieder auch Kampagnen für Gesundheitssport, Jugendsport, Vereinsgründungsinitiativen und Sportplatzbau gegeben – zum Teil unter nationalen Prämissen: die institutionelle Förderung des Spielplatzbaus und der Volks- und Jugendspiele (Spielbewegung) durch den gleichnamigen Zentralausschuss ab 1891, das 1913 eingeführte und nach 1950 zunächst im Westen wiederbelebte Deutsche Turn- und Sportabzeichen (heute Sportabzeichen), die Bundesjugendspiele ab 1951 oder der „Goldene Plan“ und der „Zweite Weg“ ab den 1950er Jahren; in der DDR wurden zum Teil zeitversetzt ebenfalls entsprechende Projekte durchgeführt. Die „Trimm Aktion“ des DSB reiht sich damit ein in die Geschichte entsprechender Initiativen im deutschen Sport.

Jetzt liegt erstmals eine sport- und kulturhistorische Dissertation zum Thema vor; verfasst von Andrea Sell im Fach Kulturanthropologie/Volkskunde der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz bei Michael Simon. Die Arbeit hat einen recht breiten Ansatz und operiert mit vielfältigem Quellenmaterial. Dabei fügt Andrea Sell die „Trimm Aktion“ zunächst in einen sehr weiten historischen Kontext der Turn- und Sportgeschichte ab dem 19. Jahrhundert ein, in dem sie die Geschichte der Turn- und Sportorganisationen vor allem unter dem Freizeit- und Breitensportaspekt fasst. Damit kann sie ganz verschiedene sporthistorische Epochen und gesundheitlich orientierte geschichtliche Entwicklungen inklusive ihrer historischen Träger und Bewegungen wie die Lebensreform, den Arbeitersport, den Sportkult der Weimarer Republik oder die nationalsozialistische Zwangseinheitsgewerkschaft Deutsche Arbeitsfront mit ihrer Unterorganisation „Kraft durch Freude“ als breitensportliche Vorläufer auffassen. Ob das für eine Analyse der „Trimm Aktion“ unbedingt notwendig ist oder auch nur Kontinuitäten suggeriert, wo keine sind, sei dahingestellt. Zumindest die Entwicklung der breitensportlichen Initiativen in der BRD nach 1945, die Andrea Sell im Anschluss präzise darstellt, ist eine notwendige Voraussetzung, um die Inhalte und Absichten der „Trimm Aktion“ des DSB zu verstehen und zu bewerten.

Im Anschluss daran untersucht die Verfasserin ihr Thema zunächst anhand von drei großen Quellenkomplexen: das historische DSB-immanente Material zur „Trimm Aktion“ im Archiv des DOSB, die zeitgenössischen Statistiken und Umfragen zur „Trimm Aktion“ des Meinungsforschungsinstituts EMNID sowie Interviewmaterial von ausgewählten befragten Zeitzeugen, zu denen sportlich aktive beziehungsweise beteiligte Bürgerinnen und Bürger, ehrenamtliche Aktionshelfer sowie Initiatoren und Vordenker der „Trimm Aktion“ wie der Sportwissenschaftler, DTB-Präsident (1990–2000) und Freizeitsportforscher Prof. Jürgen Dieckert gehörten. Diese breite Berücksichtigung vielfältiger Quellen und Zugänge und das behutsame Abwägen und Interpretieren des heterogenen Materials zählen eindeutig zu den Stärken dieser Dissertation.

Interessant ist auch die jenseits der Quellen vorgenommene Fusion des Materials unter dem Aspekt der „Deutungsangebote“ der „Trimm Aktion“. Andrea Sell geht zunächst auf die Kommerzialisierung, Marketingstrategien und Vermarktung der DSB-Aktion ein, um dann anhand von (auch historischen) Deutungsmustern wie „Medikalisierung“, „Identitätsarbeit“, „präventives Selbst“ und „Körperlichkeit“ den breitensportlichen Erfolg der „Trimm Aktion“ zu diskutieren, nicht ohne auf die Vorläuferfunktion der „Trimm Aktion“ für die aktuellen bürgerlichen Körper- und Identitätskonzepte hinzuweisen, für die der Slogan der damaligen DSB-Initiative, „Bewegung ist die beste Medizin“, einen mehr als eindeutigen Hinweis darstellt.

Andrea Sell ist eine abwägende und auf breitem Quellenmaterial beruhende Darstellung gelungen, auf die bei nachfolgenden weiterführenden Analysen zur modernen Sport- und Bewegungskultur zurückgegriffen werden sollte.