Aktuelle Rezensionen
Christine Bischoff (Hg.)
Auf See. Kreuzfahrten kulturwissenschaftlich betrachtet
(Fördeblick – Kieler Schriften zur Alltagskultur 1), Münster 2021, Waxmann, 388 S. m. Abb., ISBN 978-3-8309-4385-3
Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022
Welch ein Auftakt! Am Institut für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Universität Kiel haben Masterstudierende ein zweisemestriges Lehr- und Lernforschungsprojekt unter der Leitung von Christine Bischoff zum Kreuzfahrtthema absolviert und einen veritablen Aufsatzband erarbeitet, der wiederum eine neue Publikationsreihe begründet.
In ihrem einführenden Text setzt sich die Herausgeberin zunächst mit der noch jungen Karriere der Urlaubsform Kreuzfahrt auseinander, auch unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie, bevor sie sich mit der inner-disziplinären Erweiterung der einstigen dgv-Kommission für Tourismusforschung hin zu einer Kommission befasst, welche in weit allgemeinerer Form Phänomene der Mobilität kulturwissenschaftlich erkundet. Und so kommt es, dass die in vier Abteilungen präsentierten 13 Aufsätze aus den Federn von 14 Studentinnen und Studenten eine Auswahl an Themen behandeln, welche weit über das bisherige fachspezifische Spektrum hinausreicht.
„Mythos und Geschichte(n)“. In seinem geradezu fulminanten Beitrag setzt sich Felix Poulheim, ausgehend von James Camerons Spielfilm „Titanic“ (1997), mit Wahrnehmungen und Gefühlen von Kreuzfahrtreisenden auseinander, dies unter immer wieder neuen Aspekten, wobei Sigmund Freuds psychoanalytisches Konzept des „ozeanischen Gefühls“ sowie Immanuel Kants philosophisches Konzept der Erhabenheit zentrale Rollen in seinem umfangreichen Diskurs spielen, gleich ob es – allgemein – um die Herausbildung unserer Erlebnisgesellschaft (Christoph Köck, Gerhard Schulze) oder – konkret – um Blicke auf das Meer und die Bedeutung von Kreuzfahrtschiffen in diesem Bewusstsein stiftenden Prozess geht. Kirsten Juliane Gerhardt geht den Verbindungen zwischen der Geschichte der sehr viel älteren Handels-, Militär- und Passagierschifffahrt und der Herausbildung des Kreuzfahrt-Reisens nach und setzt sich, gewissermaßen zwangsläufig, mit allgemeineren Mobilitätskonzepten auseinander, während Claudius Loose detaillierte Einblicke in eine ganz bestimmte Mittelmeer-Kreuzfahrt eines ganz bestimmten Dampfers im Jahr 1925 gewährt.
„Materialität und Medialität“: Der Titel von Nora Müllers Aufsatz über die Architektur von Kreuzfahrtschiffen, „Inszenierung von Urlaubswelten“, ließe sich auch auf die weiteren drei Texte übertragen, denn sie setzen sich mit Kreuzfahrtwerbung (Malika Stark und Cora Wiggers) sowie, dies unter besonderer Berücksichtigung von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, mit der Rolle der sogenannten Bordkarte für Reisende und Beschäftigte auseinander (Jessica Conrad), während Christoph Rave die Zielsetzung und die Wirkungsweise der im öffentlichen Raum Kiels inszenierten „Blauen Linie“ erkundet, einer Markierung, an der sich zum Beispiel Kreuzfahrttouristen bei ihren Landgängen orientieren können.
„Praktiken und Performanzen“: Die Beiträge von Joana Schröder, Charleen Niemeyer und Sigrun Benesch nehmen sich eher traditionelle Themen unseres Faches vor und beziehen diese auf das Forschungsfeld des Kreuzfahrtreisens, einerseits die spezifische Verpflegung (Stichworte: kulinarische Vielfalt, Vergnügen, Esslust), andererseits die spezifische Bekleidung der Gäste (Status, Prestige, Vorbilder), während die letzte Abteilung, „Ökonomie und Ökologie“, drei Texte versammelt, welche deutlich die angesprochene Neuorientierung kulturwissenschaftlicher Tourismusforschung repräsentieren: Alexander Kleinfeld nimmt sich die Arbeitswelt an Bord vor, konkret die Menschen einschließlich ihrer Tätigkeiten, und Nikolaus Träuptmann die Unternehmen der Kreuzfahrtindustrie, also Werften und Reedereien, speziell unter den Aspekten der einschlägigen Machtverhältnisse, des Natur- und Umweltschutzes sowie des technischen Fortschritts. Im Anschluss rekapituliert Rabea Bahr die Entwicklung der kreuzfahrtkritischen Protestbewegung hinsichtlich ihrer Inhalte, Formen, Motive und Strategien.
„Zum Ende“: Julia Schröders Beitrag „Kreuzfahrt in Zahlen“, eine Doppelseite mit 13 verschiedenen – durchaus augenzwinkernd zusammengestellten – Aussagen und dazu gehörenden Symbolisierungen rundet den Sammelband ab, einen Band, der sich durch ein breites inhaltliches Spektrum, durch methodische und theoretische Vielfalt und durch kreative Themenbearbeitung auszeichnet und dem die bisweilen zu registrierenden auto-ethnografischen Tendenzen nur guttun!