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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Heinke Kalinke/Tobias Weger/Łukasz Bieniasz (Hg.)

Breslau. Freizeit und Konsum

(Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 81), Berlin 2021, De Gruyter, 313 S. m. Abb., ISBN 978-3-1107-0298-9


Rezensiert von Burkhart Lauterbach
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Wer nicht aus einer Breslauer Familie stammt und sich somit nicht an die Erzählungen der eigenen Großeltern und Eltern über das Leben in der Hauptstadt Schlesiens während der Zeit vor 1945 erinnern kann, wer zudem nicht über die Möglichkeit verfügt, auf einschlägiges Bildmaterial in privaten Fotoalben zurückzugreifen, der erhält nunmehr die Gelegenheit, dies, zumindest in Ansätzen, nachzuholen dank der grenzüberschreitend-völkerverbindenden Forschungs- und Publikationstätigkeit des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE). Im Schlesischen Museum zu Görlitz hat das Institut im Jahr 2017, im Rahmen seiner langjährigen Partnerschaft mit dem Institut für Germanistik der Universität Wrocław/Instytut Filologii Germańskiej Uniwersytetu Wrocławskiego (IFG UWr.), eine gemeinsame Tagung zum Thema „Freizeit und Konsum in Breslau“ abgehalten, um „ein Bild Breslaus als Ort entstehen [zu lassen], an dem Menschen einkaufen, flanieren und Sport treiben, an dem sie sich entspannen, sich unterhalten (lassen) und über den sie sich informieren“ (9). Dabei bildet das Handlungsfeld des Konsums das Leitmotiv der verschiedenen Abhandlungen, dies unter besonderer Berücksichtigung der Freizeit, wobei es stets auch darum geht, die dazugehörigen „demografischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen, Entwicklungen und Zäsuren“ (14) am konkreten Handlungsort Breslau im 19. und 20. Jahrhundert herauszuarbeiten. Acht Autorinnen und fünf Autoren aus beiden Ländern (neun aus Polen, vier aus Deutschland), die hauptsächlich im Universitätswesen tätig sind (Germanistik, Ethnologie, Kunstgeschichte, Geschichte) und insgesamt eine interdisziplinäre Ausrichtung signalisieren, haben, teils in Kooperation, 14 Artikel verfasst, die sich zunächst, in formaler Hinsicht, dadurch auszeichnen, dass sie alle ausgesprochen ausführlich bebildert und entsprechend im Text kommentiert daherkommen. Die Zeit nach 1945 wird von den Autorinnen und Autoren in unterschiedlicher Ausführlichkeit behandelt.

Den Einstieg liefert ein Text von Heinke Kalinke und Tobias Weger zur grundsätzlichen Thematik sowie Problematik der Beziehungen zwischen Stadtgeschichte und Konsumgeschichte, zur Stadtentwicklung Breslaus im genannten Zeitraum, schließlich zur Entwicklung der verschiedenen Sparten der Infrastruktur. Daran anschließend untersucht Julianna Redlich am Beispiel gedruckter Breslau-Stadtführer mögliche Funktionen dieser gebrauchsliterarischen Gattung für einerseits auswärtige Besucher*innen sowie andererseits Einheimische, während Łukasz Bieniasz sich den Theaterbetrieb in Breslau um das Jahr 1800 vornimmt, sowohl hinsichtlich der Programmatik als auch des jeweiligen Publikums, und Aleksandra Nadkierniczna-Stasik eine derartige Analyse für die Zeit um 1900 liefert. Ein weiterer Text, von Natalia Żarska, bezieht sich auf das beginnende 19. Jahrhundert und untersucht die spezifischen Geselligkeitsformen der gebildeten Kreise des Bürgertums in Salons, Lesestuben und Vereinen, bei Promenaden, Festen sowie Vorträgen. Und dass diese Akteure nicht minder landschaftliche Reize schätzten, stellt die inhaltliche Verbindung zum nächsten Text her, in dem Iwona Bińkowska unter der Fragestellung „Gartenkunst als Ware?“ diverse Grünanlagen inner- und außerhalb Breslaus unter verschiedenen Aspekten betrachtet, sowohl, was Konsum und Zeitvertreib betrifft, als auch hinsichtlich bestimmter Formen des Tourismus sowie alternativer Wohn- und Lebenskonzepte (Stichwort: Gartenstädte). In die räumliche Ferne geht Tomasz Przerwa in seinem Beitrag über die Aktivitäten rund um die 1882 in den Ötztaler Alpen eröffnete „Breslauer Hütte“, welche im Zusammenhang mit dem Wirken der Breslauer Sektion des Deutsch-Österreichischen Alpenvereins entstanden ist. Wieder zurück in die schlesische Großstadt führen die dann folgenden sieben Beiträge, wobei Grzegorz Wilgas Text über die „Stadt an fünf Flüssen“ in besonderem Maße die Stadtgeschichte detailliert bis in die Jetztzeit verfolgt. Ihm geht es um Freizeit und Erholung an den verschiedenen Fließgewässern, während Mitherausgeber Tobias Weger sich die Entwicklung des Badens und Schwimmens unter Konzentration auf die institutionelle Seite vornimmt, beginnend bei mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Badestuben, mit den Badeanstalten des 18. und 19. Jahrhunderts, den Wannen- und Brausebädern, den Hallenbädern, endend bei den Flussbädern, den Badeseen sowie den Freibädern.

Maria Zwierz widmet sich Aspekten des Konsums und der Unterhaltung im Rahmen von Industrie- und Gewerbeausstellungen; sie untersucht jene Ereignisse, welche in Breslau und Wrocław in den 130 Jahren zwischen 1818 (vom lokalen Gewerbe-Verein) und 1948 („Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete“) stattgefunden haben, wobei es in einem strengen Sinn zwar um Unterhaltung geht, nicht jedoch um Konsum, allenfalls um Werbung und Propaganda für Konsum als Verfahren zur Verbringung von Freizeit. Maria Luft nimmt sich eine Auswahl an einschlägigen, „Luna-Park“ oder ähnlich benannten, Vergnügungseinrichtungen in Breslau-Morgenau vor, deren Strukturen, Akteure sowie das jeweilige Nutzerpublikum, dies unter nicht zu übersehenden transnationalen Aspekten, konkret kulturellen Transfers zwischen den Weltausstellungen und einheimischen Angeboten. Andrzej Dębski liefert einen Durchgang durch die Breslauer Kino-Entwicklung zwischen den Jahren 1906 und 1945; Heinke Kalinke unternimmt, gewissermaßen parallel dazu, einen Schaufensterbummel durch die Breslauer Innenstadt; Beate Störtkuhl und Maria Zwierz runden den Band ab mit einem Gang entlang Breslaus „Konsummeile“, der Schweidnitzer Straße, der heutigen ul. Świdnicka.

Ein Wort der Kritik: Im Einführungstext von Heinke Kalinke und Tobias Weger lautet der allererste Satz: „Konsum beeinflusst Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in vielfältiger Weise.“ (9) Das ist zunächst nicht falsch, nur eben arg einseitig formuliert, weswegen man es umso mehr schätzen muss, dass die einzelnen Beiträge sich ihren jeweiligen Themen mit einem vielschichtigen und ganzheitlichen, ja geradezu dialektischen Ansatz nähern, was zum positiven Gesamteindruck, den der Sammelband vermittelt, in erheblichem Maße beiträgt.