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Urmila Goel

Das Indernet. Eine rassismuskritische Internet-Ethnografie

(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2020, transcript, 448 S. m. Abb., ISBN 978-3-8376-5009-9


Rezensiert von Carsten Butsch
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Das hier zu besprechende Buch ist die Habilitationsschrift der Kulturanthropologin Urmila Goel, die sich über einen Zeitraum von annähernd 20 Jahren mit den unterschiedlichen Gestalten des „Indernet“ befasst hat. Hierbei handelt es sich um eine Plattform für „indisch markierte Menschen, die im deutschsprachigen Europa sozialisiert wurden“, die lange Zeit unter der URL www.indernet.de erreichbar war (heute wird man hier direkt zu der URL indibay.de weitergeleitet, einer Unternehmensberatung). Die Plattform richtete sich vor allem an die sogenannte „zweite Generation“ indischer Migrant*innen und basierte unter anderem auf einer Reihe von Vernetzungsaktivitäten, die durch die Deutsch-Indische Gesellschaft angestoßen worden waren. Die lange Betrachtungsdauer bietet den großen Vorteil, dass sie über eine Momentaufnahme hinausgeht, die Gefahr läuft, die Bedeutung eines Phänomens zu überschätzen. Zudem erlaubt sie die Darstellung der Dynamik, die sich in einer virtuellen „imagined community“ entwickelt. Gleichzeitig hat sie aber den Nachteil, dass einige der intensiv diskutierten Aspekte der heutigen Leser*innenschaft vielleicht nicht mehr relevant erscheinen. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass das empirische Fundament der Arbeit größtenteils bereits im Jahr 2004 gelegt wurde, denn zu dieser Zeit erhielt die Autorin eine Förderung für ihr Forschungsprojekt. Die späteren Entwicklungen werden zwar auch dargestellt, intensiv vorgestellt und diskutiert werden jedoch vor allem Materialien aus der Frühzeit des „Indernet“. Ein weiterer Aspekt, der ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit der langen Bearbeitungsdauer geschuldet ist, ist das vielfach hohe Alter der verwendeten Quellen. Dies ist insbesondere im Bereich der theoretischen Fundierung auffällig, bei der vor allem auf ältere Arbeiten von Paul Mecheril zu Rassismus Bezug genommen wird. Dieses theoretische Fundament trägt das Buch insgesamt, obwohl nicht alle behandelten Aspekte direkt in diesen theoretischen Rahmen eingeordnet werden und neuere theoretische Perspektiven weitere Facetten des Untersuchungsgegenstandes hätten erkennbar werden lassen.

Urmila Goel, die profilierteste Wissenschaftlerin, die zu indischen Migrant*innen in Deutschland arbeitet, gliedert den Hauptteil ihres Buches in drei „Mosaike“. Diese bieten unterschiedliche Perspektiven auf das „Indernet“ an. Im ersten Mosaik werden Fragen der Zugehörigkeit erörtert. Hierbei wird vor allem dargestellt, welche Aspekte für die Nutzer*innen des „Indernet“ relevant sind, um die Zugehörigkeit zu der imaginierten Gemeinschaft der „zweiten Generation Inder*innen“ zu konstituieren. Dabei werden auch Grenzen der Zugehörigkeit und Konflikte thematisiert, die sich aus der Heterogenität der vermeintlich homogenen Gruppe der „Inder*innen“ ergeben, unter anderem Konflikte zwischen Nord- und Südinder*innen oder Fragen der geschlechtlichen Identität.

Im zweiten Mosaik stellt die Autorin das „Indernet“ als virtuelles Gemeinschaftszentrum vor. Anhand dieser Metapher zeigt sie, welche virtuellen Räume auf der Plattform entstehen und vergehen. So wurde beispielsweise ein „Café“ eingerichtet, in dem sich Stammgäste austauschen konnten und das in seiner Beschreibung an die Literatencafés in Wien erinnert. Denn ohne Stammgast zu sein, war es schwer in Diskussionen zu finden. Parallel dazu entwickelte sich das Gästebuch der Seite zu einer „Kneipe“, in der neue Besucher*innen schnell dazu gehörten, in der es schriller zuging und in der Manche*r über die Stränge schlug. In einem Teilkapitel schildert Goel unterschiedliche Typen von Nutzer*innen, die mit den verschiedenen Örtlichkeiten anders interagierten und in unterschiedlicher Intensität das „Indernet“ mitprägten. Im Zwischenfazit zu diesem Mosaik weist Goel bereits auf die Veränderung der Plattform im Laufe der Zeit hin.

Diese „Geschichte des Indernets“ ist Inhalt des dritten Mosaiks. Dabei werden die Anfänge sehr intensiv beschrieben, decken sie sich nicht nur mit der Phase, in der die Autorin die Redakteur*innen eng begleitete, sondern auch mit der Hochphase der Aktivitäten auf der Plattform. Diese wurde zu einem späteren Zeitpunkt von einer Sammlung interaktiver Foren in eine Doppelstruktur aus Blog-Seite und Facebook-Seite überführt. Dies war, wie Goel nachzeichnet, einerseits Veränderungen der dominanten Technologie im Internet geschuldet, andererseits der veränderten Position der Macher*innen des Forums, die aus sozialen und beruflichen Gründen nicht mehr die Zeit fanden die Seite in ihrer ursprünglichen Form weiter zu betreiben.

Insgesamt legt Urmila Goel ein sehr lesenswertes Buch vor, das durch die Reichhaltigkeit des empirischen Materials und die zeitliche Tiefe der Betrachtung großes Gewicht gewinnt. Auf dem naturgemäß noch eher jungen Gebiet der virtuellen Ethnografie bewegt sich die Autorin tastend vor, etwa, wenn es um Fragen der Forschungsethik geht, trägt durch ihr Buch aber dazu bei, Standards für diese Art der Forschung zu etablieren. Neben der rassismuskritischen Perspektive hätten die erhobenen Daten auch durch andere theoretische Perspektiven betrachtet werden können, wodurch das Buch weiter an Tiefe gewonnen hätte. Die Publikation aber sei all denjenigen zum Lesen anempfohlen, die sich erstens in rassismuskritischer Perspektive mit der Konstruktion von migrantischen Identitäten befassen, die zweitens an indischen Migrant*innen in Deutschland Interesse haben, die sich drittens mit der Identität der sogenannten „zweiten Generation“ von Migrant*innen zu beschäftigen gedenken oder die viertens etwas über das Feld der Internet-Ethnografie erfahren möchten. Abschließend sei darauf verwiesen, dass das vollständige Buch auf der Seite des Verlags als open-access PDF zugänglich ist.