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Helene Huith

Das Kleid der Religion. Sichtbarkeit und Wissensstrategien einer christlichen Minderheit

(Internationale Hochschulschriften 680), Münster 2021, Waxmann, 368 S. m. Abb., ISBN 978-3-8309-4279-5


Rezensiert von Christine Burckhardt-Seebass
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Der plakative Titel und der Untertitel bieten noch keinen Einstieg in das Buch, sie geben weder Zusammenhang noch Richtung an. Klug beginnt die Autorin Helene Huith deshalb mit einer kleinen „Wegweiser“-Geschichte (aus einem Interview): Ein Fremder erkundigt sich am Sonntagmorgen in einer ihm unbekannten kleinen Stadt, wo die Kirche der Baptisten sei. Ihm wird empfohlen, den ordentlich gekleideten Leuten nachzugehen, und er kommt in der Tat am gesuchten Ort an. Das Setting ist also die Welt der täuferisch gesinnten Gemeinden, Baptisten und Mennoniten in der Diaspora, deren Mitglieder sich so kleiden, dass sie als solche erkennbar sind. „Ordentlich“ sind sie, das heißt sie halten sich an Werte, in denen ihre Religiosität Ausdruck findet. Situiert ist die Anekdote in die 1950er Jahre in der Sowjetunion. Damit öffnet sich hinter Buch- und Subtitel ein Fächer an Themen und Problemen auch jenseits des Materiellen, wie Migration, Minorität, Nationalität, Ethnizität und die Frage, wie die Grundsätze einer Religion und eines religiösen Lebens sich materialisieren und präsentieren lassen. All das in ein angemessenes Forschungskonzept zu fassen, erfordert ein hohes Maß an Fantasie, Enthusiasmus, Fleiß und Geduld, die die Rezensentin der Autorin denn auch als erstes attestieren möchte. Die Einleitung (56 Seiten!) ist diesem Prozess gewidmet.

Zunächst war wohl eine auf Kleidung bezogene Feldforschung bei mennonitischen Russlanddeutschen geplant, jenen Gruppen mit norddeutschen Wurzeln, die in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts von Katharina der Großen mit dem Versprechen der Religionsfreiheit als Kolonisatoren nach Russland geholt wurden und dort sesshaft geworden waren, unter Stalin mehrheitlich an die Ränder der Sowjetunion deportiert wurden und von dort in drei Wellen, um 1956, 1967 und 1987, nach Deutschland rück- oder besser auswanderten. Die Autorin hat ihre Wurzeln in solch einer Gemeinschaft, was ihr Interesse geweckt haben mag und ihr den Zugang zu den durch ihre kollektive Geschichte misstrauisch und zurückhaltend gewordenen Menschen erleichterte oder gar erst ermöglichte. Huith wählte eine ostwestfälisch-lippische Kleinstadt als Untersuchungsfeld, in der am Ende des 20. Jahrhunderts an die 40 Prozent der Einwohner*innen Russlanddeutsche waren. Das Vorhaben erwies sich als schwierig, nicht nur wegen Ablehnung und Unverständnis, dem sie begegnete, auch die Quellenlage war dürftig. Die vielfache Gebrochenheit der Lebensläufe der meisten Rückkehrer, das Fehlen von kontinuierlichen schriftlichen Aufzeichnungen (vor allem aus den religiösen Gemeinschaften, die congregational organisiert waren und weder etablierte Hierarchien noch verfasste Gebote und Ordnungen vorsahen) sowie die immer wieder erfahrene politische Bedrängnis waren die Gründe dafür. Die teilnehmende Beobachtung erschöpfte sich so in Gottesdienstbesuchen und einzelnen Anlässen. Dazu kam ein gutes Dutzend lebensgeschichtlicher Interviews, die viel verschwiegen, viel nicht erinnerten oder disparat blieben. Die Autorin entschloss sich zu einem radikalen Methodenwechsel. Da sie bei ihren Recherchen überall auf private Fotografien und Alben gestoßen war, beschloss sie, diese als Grundlage zu nehmen und eine „visuelle Feldforschung“ mit dem Schwerpunkt Kleidung durchzuführen. Diese müsste klären, wie Wissen in Kleider eingelagert wird und welche Art Wissen dies sein kann. Die Mikroanalyse der Bilder sollte dann ergeben, warum und in welchem Maß von einem religiösen Kleid der Mennoniten und Baptisten zu sprechen angebracht ist.

Das 2. Kapitel „Wissensrepräsentationen“ legt die methodischen Überlegungen dar, ausgehend vom Faktum, dass Religion sich erst in Text, Bild oder Handlung konstituiert (59) und darüber einen Wissensspeicher schaffen kann. So enthält ein Kleid Informationen, sichtbares gemeinsames Wissen, und es kann dieses verfestigen und tradieren. Das gilt nicht nur für Material, materiellen Wert, allenfalls Geschlecht und Statur der Trägerin oder des Trägers, vielmehr, speziell im Zusammenhang einer religiös fundierten Gemeinschaft, für Werte und Bedeutungen der Gesellschaft. Ihm wird durch Schnitt, Farbe, Zusammenstellung bei der Herstellung eingeschrieben, was „ordentlich“ ist, was sich gehört oder was gerügt werden muss, was das Wesentliche im Leben der Träge*inr und seiner/ihrer Bezugsgruppe zum Ausdruck bringen soll. Beim Kleidungsstil der Mennoniten und Baptisten wird dies nicht durch explizite Ordnungen, Mandate sozusagen, gesichert, sondern durch Vorbild und Ermahnung, gemeinsame Herstellung und Weitergabe des technischen Wissens und zwar so, dass die Ordnung Teil des unbewussten Alltags, des persönlichen Habitus wird. Es geht dabei „nicht um ein Wissen über Religion, sondern um Religion als Wissen, als ein dem Denken und Handeln zugrundeliegendes Wertungs- und Kategoriesystem, das in Handlungen, Denk- und Deutungsmuster eingelagert ist, sich in Materialisierungen niederschlägt, aber nicht explizit kommuniziert wird“ (60). Die Ausweitung des Bourdieuschen Habitus-Begriffs und die Verbindung mit dem Konzept des Wissensspeichers sind interessante und gewinnbringende Beiträge der Autorin zur Kleidungsforschung. Formale Starrheit ist nicht impliziert: Die Geschichte der Mennoniten-Kleidungspraxis verzeichnet konservative wie liberalere Phasen und Verzweigungen, Abgrenzungen oder Anpassungen gegenüber der russischen Gesellschaft oder später den westdeutschen Kleidungsgewohnheiten. Leitbild bleibt bei den Frauen ein die Sexualität verhüllender Stil. Erst in jüngster Zeit scheinen der Wunsch nach Individualität und Ästhetik den Gemeinschaftssinn und die strikte Moralität aufzulösen; hybride Formen und Anpassungen werden häufiger.

Die folgenden Kapitel analysieren diese Prozesse an Hand des Bildmaterials, wobei die in Kleinformat beigefügten Fotos die jeweiligen Schritte vorstellbar machen. Aufschlussreich sind dabei nicht nur die religiösen Lebenslaufriten und Gemeindeanlässe, sondern Kategorien wie Freizeit, Arbeitswelt, Portrait. Anhand der Typologie von Rock, Kopftuch und Hose lassen sich positive wie abwertende oder auch dialektische Bewegungen verfolgen, die im Kontext zur politischen Geschichte stehen. Spezifisch und konstant sind die Absicht und das Wissen, dass die Religion sichtbar sein soll.

In der Einleitung beschreibt die Autorin die Absicht ihrer Arbeit so: „Mit der Verklammerung visueller und materieller Kultur unter besonderer Rücksichtnahme der praxeologischen Bezüge, sowie der zusätzlichen Triangulation der fotobasiert und reflexiv erhobenen Interviews, wird hiermit eine quellentechnisch breit gestützte Kulturanalyse von hoher wissenschaftlicher Tiefe vorgelegt. [...] Es ist ein Forschen mit und über Fotografie, bei dem visuelles Wissen durch den prozessualen Erhebungs- und Konstruktionscharakter zugleich den Anspruch hat, ‚ethnographisches Wissen‘ (Köstlin) zu sein.“ (54) Diese Aufgabe hat Helene Huith in der Tat in wegweisender Form gelöst, ohne die Grenzen und Besonderheiten sowohl der Situation wie der Quellen außer Acht zu lassen. Notwendig war dafür die strikte Einhaltung des Fokus, der naheliegende Vergleiche (etwa mit bürgerlicher Kirchenkleidung oder Klostertrachten oder mit der Kleidung nichtreligiösen Gruppierungen) ausschloss. Nur ganz am Rand werden ökonomische Gesichtspunkte und soziale Hierarchien gestreift, obwohl gerade Kleidung ohne Einbezug dieser Faktoren eigentlich keine adäquate Untersuchung und Beurteilung erfahren kann. Deshalb ist die Rezensentin auch eher skeptisch dem Begriff „religiöse Mode“ gegenüber, für den die Autorin als Ergebnis ihrer Untersuchung plädiert, wonach das objektive „Kleid der Religion“ im Handeln zur Sichtbarmachung von etwas Spezifischem, Sinn- und Wissenserfülltem wird. „Tracht“ klingt altmodisch und ideologisch belastet und ist für viele Kulturwissenschaftler*innen deshalb tabu, träfe das Gemeinte aber treffender. Mode hingegen ist gebunden an ökonomische Kräfte und beinhaltet einen konträren Zeit- und Gesellschaftsbegriff.

Dies sei als kleiner Einwand verstanden gegen ein großes, reichhaltiges und sorgfältig gearbeitetes Werk. Es ist kein einfach zu lesendes Buch, der thematischen Komplexität und seiner recht abstrakten Sprache wegen. Mögen daraus nicht nur Wissenschaftler*innen lernen, sondern auch die involvierten Russlanddeutschen Erhellung und Anerkennung lesen.