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Christiane Torzewski

Heimat sammeln. Milieus, Politik und Praktiken im Archiv für westfälische Volkskunde (1951–1955)

(Münsteraner Schriften zur Volkskunde/Europäischen Ethnologie 22), Münster 2021, Waxmann, 189 S., ISBN 978-3-8309-4381-5


Rezensiert von Antje Reppe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Die Erhebung und Dokumentation empirischer Daten in Verbindung mit dem Anlegen eigener Quellen- beziehungsweise Sammlungsbestände gehören zum wissenschaftlichen Selbstverständnis der Volkskunde/Kulturanthropologie. Auch das Archiv für Alltagskultur der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen fußt auf der Dokumentation empirischer Erhebungsverfahren: Es wurde 1951 in Münster als „Archiv für westfälische Volkskunde“ durch die Volkskundliche Kommission des Provinzialverbandes Westfalen gegründet, um eigene Sammlungsstrategien zu etablieren und zu institutionalisieren. Als Gewährspersonen kamen vorrangig Lehrer und Lehrerinnen zum Einsatz. Obwohl das (ehrenamtliche) Mitwirken von Volksschullehrer*innen an volkskundlichen Sammelaktionen als „fachhistorischer Allgemeinplatz“ (12) gilt, widmet sich Christiane Torzewski in ihrer Studie genau diesem Thema. Durch die gewählte Quellengrundlage, den spezifischen Kreis der Akteur*innen und die komplexe wissensgeschichtliche Fragestellung gelingt es ihr trotzdem fachgeschichtliches Neuland zu betreten. Anhand von biografischen Selbstauskünften und Korrespondenzen von 42 Lehrer*innen, die von 1951 bis 1955 für das Archiv tätig waren, rekonstruiert Torzewski Entstehungsweisen, Inhalte, Verwendung und Netzwerke volkskundlichen Wissens innerhalb des überschaubaren „Wissensmilieus“ der Archivmitarbeiter*innen, jedoch im Kontext eines „weiten, wissensgeschichtlichen Horizont[s]“ (16). Dabei werden Modi volkskundlicher Wissensgenerierung im Spannungsfeld des Verhältnisses von akademisch ausgebildeten Volkskundler*innen und „Laien“ verortet sowie Aushandlungsprozesse volkskundlicher Inhalte und Formate nachgezeichnet.

In der Gründungs- und Etablierungsphase des Archivs hatte dessen Leiterin Martha Bringemeier (1900–1991) die Aufgabe Mitarbeiter*innen zu rekrutieren, diese in ihr Aufgabenfeld, das Verfassen von Berichten zu verschiedenen volkskundlichen Themen anhand vorgegebener Fragelisten, einzuweisen und als Ansprechpartnerin zur Verfügung zu stehen. Dies erfolgte schriftlich durch das sogenannte Korrespondentenprinzip. Die Dokumente dieses Verfahrens – für die ausgewählten 42 Lehrer*innen umfassen diese 393 Briefe und 35 biografische Selbstauskünfte – wurden von Torzewski quantitativ aufgeschlüsselt und qualitativ analysiert. Neben der Zuordnung von Amtsbezeichnungen (vier Studienräte und 38 Volksschullehrer*innen) wurde eine „Binnenklassifikation nach Qualifikationsgruppen“ (44) erstellt, die die unterschiedlichen Ausbildungsvarianten aufzeigen: 35 Lehrer*innen wurden an Preußischen Lehrerseminaren ausgebildet, drei an Hochschulen für Lehrerbildung, vier waren akademisch gebildet. Diese unterschiedlichen Grundvoraussetzungen beachtet Torzewski sowohl bei der Selbstdarstellung und Kompetenzeinschätzung der Lehrer*innen als Mitarbeitende des Archivs als auch in der Bewertung und Integration der Gewährspersonen als volkskundliche Wissensproduzenten seitens der Archivleitung. Im Gesamten macht sie für Westfalen eine „sehr dichte Binnenvernetzung des volkskundlichen Wissensmilieus“ (162) und ein enges Zusammenwirken akademischer und populärer Wissensproduktion und -vermittlung deutlich, ohne es zu versäumen, akteursspezifische Besonderheiten aufzuzeigen. Die hier abstrahierte und überblicksartig zusammengefasste Forschungsleistung von Christiane Torzewski erscheint im Buch deutlich aufgefächerter und ist übersichtlich gegliedert nach der jeweiligen Fragestellung: Der Darstellung der Arbeitsweise des Archivs und der Sozialprofilierung der Mitarbeitenden folgt die historische Kontextualisierung der Lehrer*innenbildung in Verbindung zur Akademisierung der Volkskunde und die Verortung von Lehrer*innen als „Multiplikatorinnen und Multiplikatoren des Heimatgedankens“ (161). Trotz der starken Überschneidungen heimatkundlicher und volkskundlicher Wissensbereiche wäre hier mehr terminologische Trennschärfe und ideengeschichtliche Einordnung möglich. Anschließend werden die in den Egodokumenten auftretenden Narrative der Selbstdarstellung und wissenschaftlichen Legitimierung ausgewertet und diverse Wissensformate, wie Beiträge in volkskundlichen Zeitschriften oder Dorf- und Heimatchroniken, vorgestellt. Einblicke in die Aushandlungsprozesse zu möglichen Forschungsbereichen in Form von Fragelisten schließen die Studie ab.

Diese kleinteilige Struktur ist vermutlich mit dem Ursprung der Studie zu begründen – die Autorin legt hier die überarbeitete Version ihrer 2015 angefertigten Masterarbeit im Studiengang Kulturanthropologie/Volkskunde an der Universität Münster vor –, aber keinesfalls als nachteilig zu werten. So bleibt es wünschenswert, dass weitere „Tiefenbohrungen“ in volkskundlich/kulturanthropologischen Gefilden vorgenommen werden, um Vergleichsstudien zu ermöglichen und Wissen(schaft)sgeschichte zu präzisieren und zu differenzieren.