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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Giaco Schiesser (Hg.), Roland Flückiger-Seiler/Corina Lanfranchi

Kurhaus Bergün. Der Traum vom Grand Hotel

Zürich 2021, Hier und Jetzt, 279 S. m. Abb., ISBN 978-3-03919-526-8


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Wer in der Schweiz von Chur nach St. Moritz auf der Albulalinie mit der Rhätischen Bahn fährt, kommt an dem Kurhaus Bergün vorbei, einem imposanten Hotel, das am Rande des gleichnamigen Dorfes steht. 1906 wurde es ambitioniert als „Grand Hotel“ auf höchstem technischen Standard der Zeit gebaut, das heißt mit Badezimmern, elektrischem Licht, einem Lift und Zentralheizung. Es war als Zwischenhalt zum Akklimatisieren vor Erreichen des noch höher gelegenen Engadins gedacht. Das Hotel befand sich über die ersten fünf Jahrzehnte allerdings immer wieder in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Nach Dachstuhlbrand 1949 und Übernahme erst durch die Gemeinde, dann durch einen Ferienwohnungsanbieter, kam Anfang des 21. Jahrhunderts erneut die Frage nach der Zukunft eines Baus auf, der sich schon von Beginn an als Fehlplanung herausgestellt hatte, inzwischen in die Jahre gekommen war und sich als hochgradig sanierungsbedürftig erwies. Ehemalige Feriengäste und Enthusiasten schlossen sich 2002 zusammen, kauften das Haus und erhalten seither den Bau erfolgreich; sie betreiben weiterhin ein Hotel, das, gemäß seinen ursprünglichen Plänen, zwar nicht als Grand Hotel geführt werden kann, aber dank einer wiederentdeckten Quelle mit mineralischem Wasser sogar die Idee des namengebenden „Kurhauses“ wiederaufkommen lässt.

Der vorliegende Band widmet sich der wechselvollen über hundert Jahre umfassenden Geschichte dieses Bündner Gebäudes. Exemplarisch wird hier vorgeführt, wie um 1900, also zu Beginn des Sommer- und Wintertourismus in der Schweiz, Hotels geplant und geleitet wurden. Der reiche Schatz an Archivalien, allen voran die Protokollbücher der Hotel-Aktiengesellschaften, befindet sich im ortsansässigen Museum. Und auch andere Quellen standen den Autor*innen zur Verfügung: Baupläne, Details zur Bestellung der Ausstattung, zeitgenössische Fotos der Innenausstattung, Werbeprospekte oder historische Ansichtskarten und Privatfotografien. Als Herausgeber zeichnet Giaco Schiesser, weniger in seiner Funktion als emeritierter Professor für Kultur- und Medientheorie in Zürich, denn als Mitglied des Verwaltungsrates des Kurhauses Bergün. Der Berner Architekturhistoriker Roland Flückiger-Seiler, ein großer Experte in puncto Schweizer Hotelgeschichte, vollzieht kenntnisreich, quellengesättigt und überaus anschaulich die (wenigen) Hochs und vielen Tiefs der Hotelgeschichte nach. Seine Texte, präzise in den Details, werden durch einen ergiebigen Anmerkungsapparat und ein einschlägiges Literaturverzeichnis ergänzt. Der zweite Teil, die Hotelgeschichte ab 1949, stammt von Corina Lanfranchi, einer freischaffenden Journalistin und Autorin. Sie schildert ebenso versiert die Übernahme des Hotels 1955 durch eine christliche Organisation, deren Ziel darin bestand, Ferienwohnungen für kinderreiche und wenig wohlhabende Familien anzubieten. Mit dem neuen Käufer waren zahlreiche Umbauten verbunden, die nötig waren, um möglichst viele Personen kostengünstig unterbringen zu können. 2002, als sich ein erheblicher Renovierungsstau abzeichnete, kam es zum Verkauf an die jetzigen Aktionär*innen. Zwischen die chronologische Darstellung der Hotelgeschichte werden Berichte von ehemaligen Hotelmitarbeiter*innen und -gästen eingestreut, die ihre eigenen Erlebnisse mit und im „Kurhaus Bergün“ beitragen und die engen Beziehungen zwischen Hotel und Dorf betonen; ebenso ergänzen und erweitern knappe Informationseinheiten das Dargestellte. So weitet sich der Blick vom Fallbeispiel in Bergün auf (Schweizer) Tourismus- und Hotelgeschichte, wenn von ersten Pauschalreisen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rede ist, die von englischen Reisebüros für Urlaube in der Schweiz angeboten wurden, oder die (Sport-)Anlagen thematisiert werden, die man eigens für die englischsprachigen Gäste bauen ließ: Tennis oder Bobsleigh-Bahnen, Flächen für Curling und Hockey wie auch eine „American Bar“. Aber auch von Hotelbränden als Versicherungsbetrug ist die Rede sowie ersten Hotelkonsortien, kantonalen Hilfsorganisationen für Hotelwesen und dem „Bündnerischen Hotelier-Verein“, der schon nach dem Ersten Weltkrieg aufwändige Gästestatistiken führte und – pionierhaft – einen Gesamtarbeitsvertrag im Hotelwesen einführte. Die Autor*innen beleuchten die Fragen nach dem Anrecht auf Urlaub ebenso wie die erfolgreichen Werbestrategien, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Schweizer Hotels entwarfen, und auch die Gründung und Geschichte des „Schweizerischen Vereins für Familienherbergen“.

Der vorliegende Band überzeugt damit in jeder Hinsicht: exakte Recherche, Verweise auf weiterführende Literatur, interessante Details, abwechslungsreiche Darstellung, vorzügliche Abbildungen und schöne Typografie. Möge er weitere Autor*innen dazu anregen, ähnliche Bände über historische Hotels zu verfassen!