Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Achim Saupe/Stefanie Samida (Hg.)

Weitergabe und Wiedergabe. Dimensionen des Authentischen im Umgang mit immateriellem Kulturerbe

Göttingen 2021, Wallstein, 212 S. m. Abb., ISBN 978-3-8353-3912-5


Rezensiert von Sophie Elpers, Amsterdam/Bonn, und Jonas Meyer, Köln/Bonn
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Die Dynamik der gelebten Praxis des immateriellen Kulturerbes, seine prozessuale Wandelbarkeit in der Vermittlung und Transformation und seine Institutionalisierung mit ihren eigenen Standardisierungen im Bewahrungsbestreben erfordern die Diskussion von Authentizität und Authentisierung im immateriellen Kulturerbe. Achim Saupe und Stefanie Samida haben einen schlüssigen transdisziplinären Sammelband vorgelegt, der einen wichtigen Beitrag zur Diskussion der „Dimensionen des Authentischen im Umgang mit immateriellem Kulturerbe“ leistet. Es handelt sich um eine Publikation des Leibnitz-Forschungsverbunds „Historische Authentizität“, weitergeführt im neuen Verbund „Wert der Vergangenheit“, der bereits eine reiche Liste von deutsch- und englischsprachigen Publikationen zum Thema Authentizität in den unterschiedlichsten Feldern, von Museums- und Archivarbeit über Denkmalpflege, Stadtentwicklung und Gedenkstätten bis zum Reenactment, hervorgebracht hat. Nun also der explizite Fokus auf immaterielles Kulturerbe, wozu ausgewiesene interdisziplinäre Expert*innen als Autor*innen eingeladen wurden. Die „Weitergabe und Wiedergabe“ – wie sich auch in der Wahl des Titels zeigt, zwei zentrale Konzepte der Publikation – seien nicht nur maßgeblich für den Erhalt von immateriellem Kulturerbe, sondern in ihnen werde auch Authentizität festgeschrieben sowie neu geschaffen, betonen Samida und Saupe in ihrer Einleitung (7–16). Sie weisen darauf hin, dass sowohl nach expliziten wie impliziten Dimensionen des Authentischen im immateriellen Kulturerbe gefragt werden müsse, und zwar bei allen beteiligten Akteur*innen und in allen Phasen. Dies vermögen die zehn Autor*innen des Bandes sowohl über theoretische als auch praktische Zugänge einzulösen.

Achim Saupe diskutiert Prozesse der Weitergabe und Wiedergabe mithilfe der Gabe-Theorie von Marcel Mauss und weist darauf hin, dass in ihnen stets neue situative Authentizitätserfahrungen hervorgebracht werden (17–34). Mit Verweisen auf die anderen Beiträge der Publikation betont Saupe, dass Authentizität als Konzept, das Ursprünglichkeit und Unveränderlichkeit betrifft, schon lange überwunden sei, dass es allerdings in Ideen und Wertesystemen in den offiziellen Bewerbungsdokumenten des immateriellen Kulturerbes weiter fortlebe und in der Kulturerbeproduktion als Distinktionsmarker diene. Eva-Maria Seng skizziert den Wandel des Authentizitätsbegriffs in den UNESCO Konventionen, insbesondere seit der Aufnahme des Begriffs in die Welterbekonvention von 1972 und in Bezug auf die darauffolgenden Debatten bis hin zum „Dokument von Nara“ im Jahr 1994 (35–52). Die Kritik anhand der Erhaltung von Holzarchitektur in Japan und Norwegen führte zu einer Aufweichung des Begriffs, der zunächst stark auf Objektauthentizität beschränkt war, hin zu einer kulturanthropologischen Interpretation von Authentizität, die eine Qualität der Relation zwischen Objekt und Subjekt beschreibe. Daran anschließend stehen im Zentrum des Beitrags von Markus Tauschek „Paradoxien und Ambivalenzen“ der Authentisierung von immateriellem Kulturerbe am Beispiel des Karnevals in Binche, Belgien, und seiner Nominierung für eine der internationalen Listen der UNESCO (53–70). Trotz der produktiven Debatten um Authentizität in den vorangegangenen Jahrzehnten schwingt im Fallbeispiel ein älteres Verständnis mit. Deutlich wird, dass Prozesse von Authentisierung auf das engste verbunden sind mit Deutungshoheiten und letztendlich in „machtvolle Kapitalformen“ (54) umgesetzt werden, auch wenn Authentizität möglichst flexibel interpretiert werde.

Vor dem Hintergrund der historischen Genese des Konzepts von immateriellem Kulturerbe plädiert Helmut Groschwitz dafür, immaterielles Kulturerbe als ein dynamisches Netzwerk aller beteiligten Akteure zu verstehen, aus dem heraus Authentizität produziert werde (71–90). Aus dieser Perspektive ergibt sich Aufmerksamkeit für die Vielstimmigkeit von Kulturerbe, in dem unterschiedliche Authentisierungen ausgehandelt werden. Markus Walz thematisiert die Weiter- und Wiedergabe von Handwerkspraktiken in Museen (91–110). Unter Hinzunahme zahlreicher Beispiele zeigt er, wie unterschiedliche Museen zur Pflege handwerklicher Traditionen beitragen und wo sie an Grenzen stoßen. Im Museumsfeld fehle es an Differenzierungen zwischen den Methodiken der Erhaltung materieller Kultur und denen immateriellen Kulturerbes. Handwerk sei – als Vermittlung historischer Fertigkeiten – häufig Teil des Marketings und der Bildungsarbeit der Museen, wobei es sich dann vor allem um Wiedergabe, nicht jedoch um Weitergabe von immateriellem Kulturerbe handele. Dirk Rose analysiert Vorstellungen von Authentizität bei Platon, Rousseau und insbesondere in den „Volksliedern“ von Johann Gottfried Herder (111–132). Herders Authentizitätsverständnis entspringt einer Medienkritik, die besagt, dass die Materialisierung und schriftliche Verbreitung von Liedern oder Dichtungen das Authentische zum Unauthentischen wachsen lässt. Das Authentische liege nicht im planvollen und zielgerichteten Festschreiben von immateriellem Erbe, sondern in der zufälligen Sammlung.

Christoph Kohl erforscht die sogenannten Manjuandadis im westafrikanischen Guinea-Bissau (133–150). Es handelt sich dabei um mehrheitlich weibliche vereinsmäßige Gruppierungen sowie auch lose Zusammenschlüsse, die teilweise musikalisch agieren. Anhand seiner Feldforschungen zeigt Kohl auf, wie dynamische Transformationen der Manjuandadis durch unterschiedliche soziale Gruppen zu essentialistischen Authentizitätsdiskursen führen, in denen ein hohes Konfliktpotential liege. Deniza Popova analysiert bulgarische Volksliedtraditionen (151–176). Vor dem Hintergrund der historischen und institutionellen Katalogisierung der Volkslieder sowie ihrer gleichzeitigen Lebendigkeit und Transitivität mit Blick auf populärmusikalische Entwicklungen kommt sie zu dem Schluss, dass die Authentizität der Lieder historisch ebenso wie situativ bestimmt sei. Popova verdeutlicht ihre Forschungsergebnisse anhand von Beispielen, wobei es ihr gelingt, ihre These zu stützen, dass aktives und bewusstes Musizieren eine kommunikative Brücke zwischen historischer und situativer Authentizität schlagen kann.

„Authenticité“, so nannte der an die Macht geputschte erste Präsident von Zaïre, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, seine Kampagne, die multiethnische Bevölkerung über vermeintlich traditionelle Tänze von der kolonialen Vergangenheit zu befreien und ein Nationalgefühl zu schaffen. Lesley Nicole Braun (177–190) erfuhr in zwischen 2008 und 2019 geführten Interviews, wie „authenticité“ die junge Nation zwar politisierte und von ihrem kolonialen Leid löste, aber ebenso wie vom Staat auferlegten Tanztraditionen gefolgt werden musste. Diskussionen über Authentizität bieten, so Braun, eine Möglichkeit globale Kräfte zu erkennen, die uns von kulturellen Praktiken entfremden können. Im letzten Beitrag beschäftigt sich Lisa Priester-Lasch mit der Frage, was Authentizität genau „macht“. Dafür unternahm sie eine Feldforschung in Indien, in der sie die „göttlichen Speisen“ Mahaprasad im Tempel Sri Jagannath erforschte. Bezugnehmend auf Reckwitzʼ Affekt-Ort-Arrangements beobachtete Priester-Lasch, dass durch das Ineinandergreifen unterschiedlicher Elemente der religiösen Koch- und Opferrituale ein Authentizitätsempfinden entstehe. Sie stellt fest, dass eine „konstruktivistische Perspektive auf Authentizität zu einem limitierten Verständnis von Authentizität“ führe (207) und schlägt stattdessen vor, das Augenmerk auf die Handlungsmotivationen der Akteur*innen zu richten.

Die gut aufeinander aufbauenden Beiträge von Expert*innen aus der Geschichte, Kunstgeschichte, Ethnologie, Museologie, Sozial- und Kulturanthropologie und den Musikwissenschaften stellen über theoretische Überlegungen wie über Praxisbeispiele Zugänge zu Konzepten von Authentizität und zu Prozessen der Authentisierung im Bereich der Weitergabe und Wiedergabe immateriellen Kulturerbes vor. Sie bieten sowohl für ein wissenschaftliches Fachpublikum und fortgeschrittene Studierende als auch für Leser*innen aus dem praktischen angewandten Bereich elementare Perspektiven und Einsichten. Insbesondere im Vergleich zu Debatten über materielles Kulturerbe, in dem sich Fragen nach Authentizität (bisher) anders stellen, zeigt sich die Komplexität des Themas. Die Publikation überzeugt zudem durch die sorgfältige Redaktion und ansprechende Ausgabe.