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Beate Schmuck (Hg.)

Fashion Dis/ability. Mode, Behinderung und vestimentäre Inklusion

Münster 2020, Waxmann, 173 S. m. Abb., ISBN 978-3-8309-4146-0


Rezensiert von Cordula Endter
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Welchen Einfluss hat Kleidung darauf, wie selbständig, selbstbestimmt und integriert Menschen ihr Leben gestalten können? Inwieweit kann Kleidung behindern? Und wie trägt sie dazu bei, dass Menschen als beeinträchtigt wahrgenommen werden? Was also hat Kleidung mit Inklusion zu tun? Der von Beate Schmuck herausgegebene Sammelband „Fashion Dis/ability. Mode, Behinderung und vestimentäre Inklusion“ beantwortet diese Fragen aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und betrachtet die Agency von Kleidung in der Konstitution des behinderten Körpers aus kulturwissenschaftlicher, kulturgeschichtlicher, ethnografischer wie auch didaktischer Sicht. Diese disziplinäre wie auch empirische Vielfalt wird konzeptuell von dem Anspruch geeint, aufzuzeigen, wie vestimentäre Inklusion ausgestaltet sein kann. Dabei legt der Sammelband einen deutlichen Schwerpunkt auf die Praktiken von Aktivist*innen in den Bereichen Fashion und Sport. Die verwendeten Beispiele machen in der kulturgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Analyse deutlich, wie Kleidung empowert, wenn sie den Bedarfen der Träger*innen entspricht. Dass es daran bislang häufig fehlt, wird dabei ebenso deutlich, wie die Markt- und Machtmechanismen der Bekleidungsindustrie und ihre Fertigung des „normalen“ Körpers, der andere Körperbilder wie auch Körperlichkeiten unsichtbar macht und ausschließt.

Den Anfang macht eine konzeptuelle Rahmung des Sammelbandes durch drei Beiträge. Beate Schmuck zeigt in „Fashion Dis/ability: Reflexionen an Schnittstellen“, in welchem Wechselverhältnis Fashion und Dis/ability stehen und wie sich beispielsweise in Praktiken körperbehinderter Fashion-Aktivist*innen wie Aimee Mullins Grenzen zwischen Disability und Ability verschieben können. Ihr Beitrag bietet darüber hinaus einen sehr guten Überblick über zentrale Autor*innen im Feld Fashion und Dis/ability und lotet das Potential von Fashion-Dis/ability-Studien für die Kulturwissenschaften des Textilen aus. Dagmar Venohr schließt an diese Überlegungen in ihrem Beitrag „Exklusive Mode – Vestimentäre Inklusion“ an, in dem sie die „strukturellen Widersprüche und Paradoxien der Mode in Hinblick auf Inklusion, Diversität und Exklusivität“ (31) aufzeigt. Mit dem Konzept der „adaptiven Mode“ (44) schlägt sie einen Perspektivwechsel vor, der Kleidung nicht nur als ein Medium sozialer Teilhabe versteht, sondern als eine „vestimentäre Sozialität“ (ebd.) expliziert. Hier bedarf es nach Venohr einer machtkritischen Perspektive, um Othering-Praktiken sichtbar zu machen, die Menschen mit Behinderungen bislang ausschließen. Dieser machtkritische Analysefokus kennzeichnet auch den zweiten Beitrag von Beate Schmuck „Gibt es vestimentäres Empowerment? Analytische Blicke auf Modemedien, Blogs und Konsumangebote“, in dem sie anhand verschiedener Beispiele die vestimentären Praktiken von Menschen mit Behinderungen vorstellt. Dabei stellt sie den Praktiken vestimentären Empowerments bekannter körperbehinderter Protagonist*innen die eher unscheinbaren vestimentären Alltagspraktiken von Menschen mit Behinderungen gegenüber, die nicht auf die Aufmerksamkeitsökonomie internationaler Modeinszenierungen setzen können, aber genauso auf passfähige Kleidung angewiesen sind.

Im zweiten Teil des Sammelbandes werden die vestimentären Praktiken und Ordnungen dann aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive betrachtet. Dabei geht es um die vestimentäre Konstitution des differenten Körpers. Claudia Gottwald fächert in „Geschichte und Symbolik der (Be-)Kleidung differenter Körper“ die vielfältige Bekleidungspraxis vom Mittelalter bis in die Moderne auf und zeigt anschaulich, unter anderem am Beispiel der sogenannten Hofzwerge und Hofnarren, wie Differenz vestimentär verkörpert wurde. Um den Modenarren beziehungsweise die Modenärrin geht es im Beitrag „Mode – Narreteien. Zur Rolle des Narren in der Mode“ von Gabriele Mentges, die unter Bezugnahme auf Georg Simmel diskutiert, inwieweit solche Modenarren in ihren eigensinnigen vestimentären Identitätspraktiken konventionelle Modepraktiken umdeuten und so auch vestimentäre Machtverhältnisse destabilisieren. Auch Beate Schmuck geht auf diese Grenzverschiebungen in ihrem (dritten) Beitrag „Korsetts zwischen historischen Kleidermoden, Medizin und Orthopäde“ ein. Dabei gilt ihr Interesse der Frage, inwieweit das Korsett materialisierter Ausdruck einer Fragmentierung des Körpers durch medizinisch-chirurgische Blick- und Wissensregime ist, die „auf imperfekte und krankhafte Teile des Körpers“ (66) fokussieren. Im Fall des Korsetts wird deutlich, wie es zu einem Mittel der Körperkonstruktion wie auch -disziplinierung wird, was Schmuck am Beispiel des Korsettgebrauchs in der Spanischen Mode des 16. und 17. Jahrhunderts sehr facettenreich darstellt und diese Linien bis in die Gegenwart weiterverfolgt.

Der dritte Teil des Sammelbandes legt dann den Schwerpunkt auf technologische und gestalterische Aspekte vestimentären Empowerments. Dazu zeigt Anke Klepser in „Sportbekleidung ohne Handicap“, wie Kleidung Rollstuhlsportler*innen in der Ausübung ihres Sports behindert und was es bräuchte, um hier adaptive Sportbekleidung zu entwickeln. Dabei legt Klepser auch offen, wie eine solche adaptive Mode quer liegt zu den normierten Kleidergrößen der Konfektionsmode. Wie Mode auch in ihrer originären Materialität inklusiv gestaltet sein kann, zeigt Christine Wolf in ihrem Beitrag „Mode zum Lesen – Eine Modekollektion für blinde Menschen“, der auf ihre eigene modeschöpferische Arbeit zurückgeht. Wolf hat Braille-Ornamente in die Kleidung integriert, die den Träger*innen Informationen zu Größe, Farbe, Material und Pflege des Kleidungsstücks geben, aber auch selbst Teil der modischen Ästhetisierung sind.

Der vierte Teil des Sammelbandes widmet sich ethnografischen und didaktischen Interventionen. Lea Tritschler untersucht in „Was wir schön finden – Studien zum Markenbewusstsein von Menschen mit geistiger Behinderung“, welche Bedeutung Modemarken für Jugendliche mit geistigen Behinderungen in der Entwicklung ihrer Identität haben. Tritschler zeigt auch kritisch, wie Menschen mit Behinderung Markenbewusstsein mehrheitlich immer noch abgesprochen wird. Carolin Redicker geht es in „Laura – eine kompetente Modeakteurin. Individuelle Förderung bei Trisomie 21“ darum, wie kulturanthropologische Textildidaktik zu vestimentärem Empowerment von Menschen mit Down Syndrom führen kann, in dem diese darin unterstützt werden, sich selbst zu ermächtigen. Ebenfalls einen didaktischen Beitrag fügt Lena Wegener mit „‚Vani‘ kann sprechen! Zur vestimentären Visualisierung von Emotionen“ dem Sammelband bei, indem sie über den Einsatz einer Puppe berichtet, der je nach emotionalem Empfinden unterschiedliche Kleidungsstücke angezogen werden können. Die vestimentäre Bekleidungspraxis unterstützt Kinder und Jugendliche mit sozialem und emotionalem Förderbedarf darin ihr emotionales Erleben zu artikulieren.

Die Vielfalt der Perspektiven und disziplinären Betrachtungen wie auch die Fülle der Beispiele zeichnet diesen Sammelband aus. Darüber hinaus bietet er in seiner konzeptuellen Rahmung unterschiedliche Anschlüsse an eine empirisch kulturwissenschaftliche Erforschung der Intersektionalität textiler Materialität und Dis/ability. Darin eröffnet der Band ein Forschungsfeld, dem in der Empirischen Kulturwissenschaft bislang noch zu selten nachgegangen wird. Gleichzeitig machen die Aufsätze auch deutlich, welche hohe Alltagsrelevanz dieses Forschungsfeld hat und welchen Beitrag Forschung hier auch zur Stärkung vestimentären Empowerments leisten kann.