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Andrea Althaus

Vom Glück in der Schweiz? Weibliche Arbeitsmigration aus Deutschland und Österreich (1920–1965)

(Geschichte und Geschlechter 68), Frankfurt am Main 2017, Campus, 447 S. m. Abb., 10 Tab., ISBN 978-3-593-50704-0


Rezensiert von Martina Grimmig
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Regime der weiblichen Arbeitsmigration wurden in Deutschland in jüngerer Zeit vor allem in Verbindung mit der sogenannten „Care-Migration“ erforscht und diskutiert. Migrantische Care-Arbeit von Frauen hat weltweit an Bedeutung gewonnen. In Deutschland sind es bekanntlich vor allem Migrantinnen aus Osteuropa, vornehmlich aus Polen, die als billige und flexible Care-Arbeiterinnen prekäre Versorgungslücken im Haushalts- und Pflegesektor füllen. In der feministischen Migrationsforschung ist dieses globale Phänomen der „neuen Dienstmädchen“ (Helma Lutz 2007) breit adressiert und auch öffentlich skandalisiert worden.

Weniger bekannt ist, dass umgekehrt auch viele junge Frauen aus Deutschland im Laufe des 20. Jahrhunderts ins Ausland aufbrachen, um als Hausangestellte oder im Gastgewerbe zu arbeiten. Hier schließt Andrea Althaus mit ihrer Studie „Vom Glück in der Schweiz?“ eine Forschungslücke in doppelter Hinsicht. Zum einen nimmt die Autorin mit der von ihr untersuchten Arbeitsmigration deutscher und österreichischer Frauen in die Schweiz in den ersten sechs Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine Wanderungsbewegung in den Blick, die in der migrationshistorischen Forschung bislang erstaunlich wenig Beachtung fand. Erstaunlich auch deswegen, weil die Arbeitsmigration junger Frauen in die Schweiz – zumindest in einigen Regionen und für die 1950er Jahre – als weitverbreitetes Phänomen erinnert wird. Indem Althaus zum anderen den Blick auf Frauen als (autonome) Subjekte der Migration richtet und Geschlecht als zentrale Analysekategorie setzt, erweitert sie die auf Einwanderung aus Italien fokussierte Schweizer Migrationsgeschichte um eine regionale und geschlechtersensible Perspektive.

Im Zentrum der geschichtswissenschaftlichen Studie, die auf einer an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eingereichten Dissertation beruht, stehen die schriftlichen und mündlichen Lebensgeschichten von 79 Frauen, die zwischen 1920 und 1965 als Haus- oder Gastgewerbeangestellte aus Deutschland und Österreich in die Schweiz migrierten. Die von den Kriegen vergleichsweise verschont gebliebene Schweiz stellte in den Augen dieser oft jungen und ledigen Frauen ein attraktives Zielland ihrer Arbeitssuche dar. Die Autorin belegt dies eindrucksvoll mit Zahlen: ca. 30 000 deutsche und österreichische Frauen arbeiteten in diesem Zeitraum jährlich in Schweizer Haus- und Gastwirtschaften. Frauen waren damit prägende Akteurinnen in der Herausbildung dieses Wanderungssystems lange bevor die Forschung in den 1970er eine „Feminisierung der Migration“ konstatierte.

Inspiriert von neueren, akteurszentrierten Ansätzen in der historischen Migrationsforschung rückt die Studie insbesondere die subjektiven Sichtweisen und Erfahrungen der migrierenden Frauen in den Fokus. Dass mit diesem Perspektivwechsel ein großes Potenzial einhergeht, herkömmliche Erklärungsmuster beziehungsweise in den Worten der Autorin „Meisternarrative“ (20) zu hinterfragen und neue Lesarten von Migrationsprozessen zu ermöglichen, kann Althaus mit ihrer Analyse durchaus bestätigen. Die Autorin nähert sich dem untersuchten Forschungsgegenstand auf zwei Ebenen, auf die auch ihre forschungsleitenden Fragen zielen. Zum einen geht es darum, anhand von biografisch-narrativen Interviews und autobiografischen Erzählungen das Wanderungssystem und die Migrationserfahrungen dieser ehemaligen „Schweizgängerinnen“ zu rekonstruieren. Althaus bettet ihre Analyse der Migrationserzählungen in einen größeren lebensgeschichtlichen Kontext ein, der prägende „Vorgeschichten“ aus Kindheit, Jugend und Elternhaus ebenso einschließt wie den Blick von heute auf diese Erfahrung zurück. Angelehnt an theoretische und methodische Konzepte der Oral History, der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung sowie der historischen Diskursanalyse befragt die Autorin die Geschichten nicht nur auf ihre Inhalte und faktischen Abläufe, sondern auf erzählstruktureller Ebene auch auf ihre narrativen Muster in der Darstellung der Migrationserfahrung, die Aspekte der Vergangenheits- und Selbstkonstruktion umfassen. Im Fokus des Erkenntnisinteresses steht also mithin die Frage, wie die Frauen ihre Migrationserfahrungen retrospektiv in ihre jeweiligen Lebensgeschichten einordnen (13).

Um diese Frage differenziert und analytisch angemessen tiefgründig zu beantworten, so erkennt die Autorin zurecht, bedarf es zum anderen auch einer Kontextualisierung der Lebensgeschichten in größere historische und politische Zusammenhänge. Dafür erschließt sich Andrea Althaus eine Fülle an Material aus kommunalen und staatlichen Archiven, an Behördenunterlagen, Dokumenten von Frauenverbänden, zeitgenössischer Literatur, Pressedokumentationen und Dossiers. Zusammen mit den Interviews kann sich die Untersuchung damit auf eine breite empirische Quellen- und Datenbasis stützen.

Die mehr als 400 Seiten starke Arbeit besteht aus vier größeren Hauptkapiteln, die von einem einleitenden Methoden- und Theoriekapitel sowie einem bilanzierenden Schlusskapitel gerahmt werden. Im ersten inhaltlichen Kapitel geht es um die Rekonstruktion der „politischen, rechtlichen, ökonomischen und diskursiven Rahmenbedingungen der weiblichen Arbeitsmigration“ (55). Die bisweilen detailverliebte Darstellung folgt dabei einer chronologischen Ordnung, die auf verschiedene Phasen des migrationspolitischen und diskursiven Umgangs mit den deutschen und österreichischen „Dienstmädchen“ in der Schweiz verweist. Anschaulich belegt mit Zitaten aus den Primärquellen arbeitet Althaus heraus, wie die spezifische Verflechtung von nationaler Herkunft, geschlechtlicher Zuschreibung und beruflicher Tätigkeit zum Nährboden für Fantasien und Überfremdungsängste wurde. Die Argumentationslinien klingen auch aus heutiger Sicht verblüffend vertraut. So wurden die weiblichen „Gastarbeiterinnen“ in der Schweiz einerseits für ihre Arbeit sehr geschätzt und von privaten Arbeitgeber*innen wie auch staatlichen Behörden gezielt angeworben, um den latenten Personalmangel in Haus- und Gastwirtschaft auszugleichen. Zugleich begegnete man ihnen gesamtgesellschaftlich mit starken fremdenfeindlichen Ressentiments, die sich zu einem feminisierten und nachhaltig wirkenden Überfremdungsdiskurs verdichteten: Nicht nur nähmen sie den Schweizerinnen Arbeitsplätze weg, sondern weil sie durch ihre Tätigkeit im Haushalt und in der Kindererziehung auch unmittelbaren Einfluss auf Familien hätten, und als junge Frauen im besten reproduktiven Alter so oder so vor allem an Einheirat interessiert wären, wurde diese Form der weiblichen Arbeitsmigration immer wieder als besondere Bedrohung für den Schweizer „Volkskörper“ imaginiert. Wie Althaus schön zeigt, prägen diese geschlechtsspezifischen Vorurteile gegenüber den „(groß-)deutschen Dienstmädchen“ (147) die Schweizer Einwanderungspolitik gerade nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich mit.

Im Hauptteil der Untersuchung stehen die lebensgeschichtlichen Erzählungen der Arbeitsmigrantinnen. Ausführlich werden hier verschiedene Stationen und Einflussfaktoren im Migrationsprozess ausgeleuchtet, angefangen von den sozialen Herkunftsverhältnissen über den Prozess der Migrationsentscheidung und anschließendem Aufbruch in die Schweiz bis hin zu den Arbeits- und Beziehungsverhältnissen in den Schweizer Familien und Gasthäusern, die detailliert beschrieben werden. Im Fokus steht dabei die Frage nach den Beweggründen der Protagonistinnen für ihre Migration in die Schweiz. Am Material dicht und nachvollziehbar belegt, arbeitet die Autorin hier vielschichtige lebensgeschichtlich verankerte Motivlagen heraus. Die migrationstheoretisch informierte Leser*innenschaft mag es hier weniger erstaunen, dass entgegen gängiger Erklärungsmuster ökonomische Gründe dabei nur eine untergeordnete Rolle spielen. Wie jüngere Arbeiten der kritischen Migrationsforschung zeigen, sind Migrant*innen keineswegs nur Spielball ihrer Umstände, sondern gestalten selbst unter widrigen Bedingungen die Prozesse der Migration aktiv mit. Diese „Autonomie der Migration“ (vgl. Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld 2007) zeigt sich in den Befunden dieser Studie vielleicht gerade deswegen so wirkungsvoll, weil sie ganz aus dem empirischen Material hervortritt und theoretisch eher dünn grundiert bleibt. Die meisten der befragten Frauen erklären ihren Entschluss in die Schweiz zu migrieren aus dem Bedürfnis heraus, dem Herkunftsmilieu und dem Elternhaus zu entfliehen, aus gesellschaftlichen Rollenerwartungen und Normen auszubrechen, mehr persönliche Freiheit zu bekommen, ein eigenes Zimmer zu haben, ein Abenteuer zu erleben, Erfahrungen zu sammeln, sich persönlich und beruflich weiterzubilden usw. Für lediglich ein Viertel der Frauen aus Althausʼ Sample stehen ökonomische Gründe im Vordergrund. Zugleich stellt die Autorin fest, dass migrantische Haushaltsangestellte keineswegs vor allem aus ländlichen und ärmlichen Verhältnissen kamen, sondern viele gut gebildet waren und aus einfachen, aber nicht bedürftigen Verhältnissen stammten. Ähnlich wie junge Work & Travellers heute, beschreiben viele der interviewten Frauen ihre Zeit in der Schweiz rückblickend als eine besonders schöne und bereichernde Erfahrung in ihrem Leben, als eine emanzipatorische Geschichte des Erwachsen- und Selbstständigwerdens, die viele als befreiend erlebten und mit einem Zugewinn an Handlungsmacht und Bildung verbanden. Nur vereinzelt wurden negative Geschichten von sozio-ökonomischem Abstieg und Verlust erzählt.

Im Wissen um die Konstruiertheit von Erinnerung ist Althaus durchaus bewusst, dass solche biografischen Erzählungen auch bestimmten normativen Erwartungen und narrativen Mustern folgen. Menschen erzählen ihr Leben vor allen Dingen als gelingendes Leben und nehmen dabei Glättungen und Vereindeutigungen in ihren Lebensgeschichten vor. Die Autorin reflektiert diese methodologischen Fragen konsequent in ihrer Interpretation mit. Interessant ist dabei, dass aktuelle migrationspolitische Debatten von den Frauen in ihren Erzählungen kaum aufgegriffen werden. Insgesamt hat Andrea Althaus hier eine spannende, sehr lesenswerte Studie vorgelegt, die mit feinfühlig genderanalytischem und historisch informiertem Blick Migration als zutiefst menschliche Geschichte und vielfältige soziale Praxis lebendig macht. Dass dabei die größeren ökonomischen Kontexte und biopolitischen Diskurse manchmal etwas wenig zur Geltung kommen, fällt angesichts der materialreichen und dichten Darstellung kaum ins Gewicht, so dass die Lektüre auch im Kontext aktueller Debatten um globale Migrationsregime lohnend bleibt.