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Ulrike Telek

Seide, Samt und feiner Zwirn. Oberlausitzer Bekleidung zwischen 1800 und 1870

(Sächsische Museen/Fundus 9), Petersberg 2021, Michael Imhof, 448 S. m. 502 Farbabb. u. 74 S/W-Abb., ISBN 978-3-7319-1061-9


Rezensiert von Florian Schwemin
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

In ihrem Geleitwort bezeichnet Katja Margarethe Mieth das vorliegende Buch zutreffend als „eine wahre Schatztruhe“ (9). Mit einem Umfang von 448 Seiten und einer großen Zahl von farbigen Abbildungen und Detailaufnahmen auf schwerem Papier wäre „Ausstellungskatalog“ – das ist zumindest der Ausgangspunkt der Publikation – zu kurz gegriffen.

Im Jahr 2017 stellte Ulrike Telek, die bis 2019 Restauratorin am Museum Bautzen war, die Sonderausstellung „Seide, Samt und feiner Zwirn – Oberlausitzer Bekleidung des 19. Jahrhunderts“ zusammen, die sich aus einer Vielzahl musealer und privater Sammlungen speiste. Die Ausstellung und erst recht die nachfolgende Publikation sind aber weit mehr als eine Präsentation von Kleidungsstücken einer bestimmten Region und eines bestimmten Zeitabschnitts, denn hier werden Fragestellungen, die sich aus der intensiven Beschäftigung mit meist gegen Ende des 19. Jahrhunderts angelegten textilen Sammlungen ergeben, aufgezeigt. Im Verlauf der Arbeiten stellte sich anhand der überlieferten Stücke und der zugehörigen rekonstruierten Objektbiografien heraus, wie artifiziell die im 19. Jahrhundert retrospektiv vorgenommenen Differenzierungen zwischen „deutschen“ und „sorbischen“ Trachten gewesen sein dürften, lassen sich doch oft keinerlei Unterschied in Stoffen, Schnitten oder der Verarbeitung erkennen. Deshalb sieht die Autorin hier noch viel Forschungspotential, das sich auch auf andere Regionen übertragen lassen dürfte, beispielsweise steht eine Überprüfung von konfessionellen Differenzen im Kleidungsverhalten für gemischtkonfessionelle Regionen aus.

Dem Anspruch, mit dem Buch eine „methodisch wegweisende Publikation zur Kleidungsforschung“ (9) vorzulegen, kann nur zugestimmt werden. Dies gelingt, weil die Sachzeugnisse klar im Fokus des Forschens in, mit und über Sammlungen stehen, die ihrerseits in ihrer ganzen Vielschichtigkeit dargestellt und kontextualisiert werden. Die Prozesse, die im 19. Jahrhundert zur Genese des Konzeptes regionaler „Trachten“ geführt haben, und Fragen danach, wie bis heute mit diesem Erbe umgegangen wird, sind facettenreich, wenn auch noch nicht erschöpfend untersucht worden, doch die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Realien ist demgegenüber scheinbar – von Ausnahmen wie Meike Bianchi-Königsteins Publikation zu „Kleidungswirklichkeiten“ in Oberfranken (2019) – ins Hintertreffen geraten. Der objektorientierte Zugang ebenso wie die Ausarbeitung historischer und gesellschaftlicher Kontexte bedürfen der Analyse vieler Quellen aus unterschiedlichen Gattungen. Dies zu zeigen leisten vor allem die sechs dem Katalogteil vorangestellten kulturwissenschaftlichen Aufsätze, die pointiert einzelne Aspekte zum Gegenstand haben.

Andrea Geldmachers Beitrag „Von der Trachtenkunde zur Kulturwissenschaft. Die Kleidungsforschung in der Volkskunde“ (24–30) bietet zum einen eine sehr kurze Einführung in die Fachgeschichte und zum anderen ein Plädoyer für eine objektzentrierte Kleidungsforschung, die von Museen und Wissenschaft gemeinsam betrieben werden könne. Sie fordert außerdem, dass vorhandene Sammlungen immer wieder „neu ‚unter die Lupe‘ genommen“ (28) werden müssten, um neue Erkenntnisinteressen zu berücksichtigen und auf dieser Basis neue Fragen und Antworten zu finden.

Anja Mede-Schelenz zeichnet die Rolle der ländlichen Kleidung in Sachsen mit Schwerpunkt auf der wendische Tracht im Zusammenhang mit nationalen Identitätsdiskursen nach, zu denen bereits die ersten volkskundlichen und musealen Sammlungen im 19. Jahrhundert ihren Beitrag leisteten. Sie arbeitet exemplarisch die Einflüsse des sächsischen Königshauses auf die Konstruktion regionaler Trachten heraus, was starke Parallelen zu beinahe zeitgleich ablaufenden Prozessen in Bayern erkennen lässt; weitere Studien könnten hier anschließen.

Das Fehlen einer vergleichenden Perspektive beschreibt der Beitrag von Ines Keller über „Forschungen zur Kleidung der Sorben in der Ober- und Niederlausitz“ näher. Die Betrachtungen und Forschungen hätten sich seit dem 17. Jahrhundert immer nur auf „das Sorbische“ in der Kleidung fokussiert und Berührungspunkte, Vergleiche oder Mischformen ausblendete oder nicht wahrgenommen.

Ulrike Telek selbst steuert drei Aufsätze bei. Der erste spürt der Fest- und Alltagskleidung anhand von grafischen Zeugnissen zum Einzug König Antons in Großschönau 1829 und von Zeichnungen und Pastellen des Künstlers Karl Gotthelf Krumbholz aus den Jahren um 1845 nach. Der Beurteilung der Autorin zufolge erlauben gerade letztere wohl einen relativ authentischen Blick auf die Kleidung um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein weiterer Beitrag befasst sich mit den handwerklichen Hintergründen von Mechanisierung und Konfektionierung, die, so arbeitet die Autorin heraus, in den 1860er Jahren auch in Sachsen die kleineren Schneiderwerkstätten erreichten. Teleks dritter Beitrag über die „Meisterstücke der Schneiderinnung Bautzen“ gibt auf nur wenigen Seiten anhand von Wanderbüchern und Ratgeberliteratur einen faszinierenden Einblick in die Fertigungszusammenhänge und rechtlichen Rahmenbedingungen. Hier zeigt sich auch, dass das Thema noch lange nicht erschöpfend bearbeitet ist.

Im Katalogteil sind 96 Objekte beschrieben, die sich in die Sachgruppen „Hauben“, „Ensembles, Kleider, Mäntel, Miederröcke, Röcke, Unterröcke Schürzen“, „Spenzer“, „Tücher, Schmuck, Strümpfe, Schuhe“ und „Männerkleidung“ gliedern. Der Katalogteil lohnt nicht allein wegen der ausgewählten Objekte genau gelesen zu werden. Sehr dicht geschrieben und wunderbar reflektiert sind die jeweiligen Einführungen zu einzelnen Objekten oder Objektgruppen, die mit vielen Detailabbildungen sowohl den Kontext der vestimentären Kultur beleuchten als auch deren Stellung in den Sammlungsbeständen einbringen. Hier zeigt sich, welchen Mehrwert die im Vorfeld angefertigten Schnittrekonstruktionen und die Beschäftigung mit Herstellungs- und Änderungstechniken haben, die sehr anschaulich die Herangehensweise an die Rekonstruktion von Objektbiografien demonstrieren. Zum Verständnis der nachfolgenden Objektbeschreibungen helfen diese Hintergrundinformationen enorm. Dazu finden sich, farblich abgesetzt, zwei Arten von je mehrseitigen Textblöcken, die mit „Fokus“ beziehungsweise mit „Tableau“ betitelt sind. Erstere befassen sich mit einzelnen Objektgruppen in alltäglichen Kontexten, wie beispielsweise mit waschbaren Hauben, Schürzen oder Kinderbekleidung. Hier ist auch der Ort, an dem Objekte der musealen Sammlungen mit weiteren, vor allem visuellen, Quellen zusammengebracht werden, wodurch der Blick geweitet und für Leserinnen und Leser, die mit Kleidungsforschung nicht bis ins Detail vertraut sind, eine Einordung der Objekte in ihre Kontexte erleichtert wird. Die Tableaus befassen sich mit sachkulturellen Fragen und vertiefen einzelne, vor allem handwerkliche Aspekte. Hierbei offenbart sich einmal mehr, mit welch genauem Blick an die Stücke herangegangen wurde: So widmet sich ein Tableau beispielsweise den Aufhängern, ein anderes den Verschlüssen, ein weiteres den verschiedenen Formen der Wattierung und den Möglichkeiten und Schwierigkeiten diese zu identifizieren und zu klassifizieren. Besonders an diesen Stellen hat man teil am genauen Blick der erfahrenen Restauratorin, die sich nicht auf ein einzelnes Stück beschränkt, sondern den gesamten Bestand im Hinterkopf hat und Detailvergleiche anstellen kann.

Hervorzuheben sind die hochwertigen Abbildungen; viele sinnvolle Detailaufnahmen begleiten und illustrieren die Objektbeschreibungen. Besonders beeindruckend sind die Objektbiografien, die von der Umnutzung, der Abänderung, der Anpassung an Größe und Mode bis zur völligen Umgestaltung berichten, um für Museen und Sammler interessante Stücke zu generieren. Sie zeichnen eine Vielzahl von Stationen nach, welche die Objekte auf ihrem Weg von den Schneidertischen in die Museen genommen haben.

Eine Tabelle im Anhang führt alle Abbildungen mit näheren Angaben zu Provenienz und Vorkommen der Objekte übersichtlich auf, was das gezielte Auffinden der Stücke im Buch erleichtert. Durch Verweise auf die das jeweilige Stück betreffenden kulturwissenschaftlichen Texte sind Katalog und Apparat verknüpft. Im Glossar ist vor allem textilgeschichtliches und ‑technisches Spezialvokabular von Abnäher bis Zwirn erklärt; es ist für Laien hilfreich und solide. Wenn man das Haar in der Suppe suchen möchte, könnte man hier anmerken, dass im 19. Jahrhundert in der Lausitz die Unterschiede von Dromedar- und Kamelhaar beim „Schamlot“ höchstens etymologisch eine Rolle gespielt haben dürften.

An wen sich das Buch richtet, ist nicht ganz eindeutig, was auch der Reihe „Sächsische Museen/Fundus“ geschuldet sein könnte, die es sich zum Ziel gemacht hat, „den umfangreichen ‚fundus‘ sächsischer Museen sowohl der wissenschaftlichen Forschung als auch einem breiten Publikum zu erschließen“, wie der Internetseite zu entnehmen ist (https://www.museumswesen.smwk.sachsen.de/427.htm). Das tut der Qualität jedoch keinen Abbruch; mündige Leser*innen, egal ob Laien oder aus den Fachwissenschaften, werden für sich Neues oder Gewinnbringendes entdecken. Gerade für die objektorientierte Kleidungsforschung liefert das Buch einen eindrucksvollen Impuls dafür, sich eingehend mit den eigenen Beständen zu befassen, diese mit anderen zu vergleichen und vermeintliche Gewissheiten und Differenzierungen immer wieder aufs Neue zu hinterfragen.

Was in dem vorliegenden Band präsentiert wird ist zu größten Teilen das, was gemeinhin als „Kärrnerarbeit“ bezeichnet wird, ein Begriff aber auch eine akademische Arbeitsweise, die angesichts der vermeintlich Allverfügbarkeit von (vor allem historischen) Informationen anscheinend beinahe in Vergessen geraten ist. In „Seide, Samt und feiner Zwirn“ wird ersichtlich, warum „Kärrnerarbeit“ noch immer enorme Relevanz für den kulturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn besitzt, warum das Zusammentragen, genaue Beschreiben und Vergleichen von Objekten und Quellen zentrale Aufgaben sind, die noch lange nicht abgeschlossen sind.