Aktuelle Rezensionen
Sabine Benzer (Hg.)
Kulturelles Erbe. Was uns wichtig ist!
Wien 2020, Folio, 161 S., ISBN 978-3-85256-796-9
Rezensiert von Michael J. Greger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022
Die Geschäftsführerin des „Theaters am Saumarkt“ in Feldkirch (Vorarlberg), Sabine Benzer, studierte Kulturmanagerin und Kunsthistorikerin, die im Folio-Verlag schon 2013 mit „Warum uns Kultur so glücklich macht?“ sowie 2016 mit „Kultur für alle“ zwei Interviewbände veröffentlicht hat, legt nun einen dritten Gesprächsband, diesmal zum „Kulturellen Erbe“ im deutschsprachigen Raum vor. Darunter versteht sie das materielle wie das immaterielle Erbe. Als Gesprächspartner*innen hat sich Sabine Benzer nicht nur ausgewiesene innerfachliche Expert*innen aus dem Bereich der Europäischen Ethnologie gewählt, sondern eröffnet ein Diskurspodium mit ziemlicher Spannweite, auf dem bekannte Namen der deutschsprachigen Kulturtheorie Platz nehmen. Benzer interviewte die Literaturwissenschaftlerin und Kulturtheoretikerin Aleida Assmann (Konstanz), die Sprachwissenschaftlerin und Diskursforscherin Ruth Wodak (Lancaster/Wien), den Philosophen Konrad Paul Liessmann (Wien), den philosophischen Essayisten Franz Schuh (Wien), den politischen Aktivisten und Kunstvermittler Felipe Polanía Rodríguez (Zürich), die Sozialanthropologin Sharon Macdonald (Berlin) sowie den Empirischen Kulturwissenschaftler Bernhard Tschofen (Zürich). So entstand ein gut lesbares, interdisziplinäres, multiperspektivisches Überblickswerk – für spezialisierte Tiefen-Lotungen ist Anderes am Markt.
Der einladend gestaltete Band bietet, gerahmt durch knappe Vorbemerkungen und ein literarisches Nachwort nicht nur Kurzbiografien der Handelnden, sondern auch nützliche Literaturverweise. Da und dort werden Fragen meines Erachtens zu wenig fokussiert, sodass die Antworten an Tiefgang vermissen lassen. Jede Interviewpassage ist mit einem Endnotenteil versehen, der zeithistorische, erklärungsbedürftige Details auch für Lai*innen ausführt. Außerdem sind dort Zitat-Quellen sowie thematisch bezogene Zeitungsartikel, Webpages et cetera aufgeführt. Immer wieder bezieht sich Benzer in den Fragen nicht nur auf die beiden häufig behandelten Konventionen der UNESCO zum Welterbe beziehungsweise Immateriellen Kulturerbe, sondern auch auf die „Faro-Konvention“ des Europarates von 2005.
Etwas aus dem Rahmen des versammelten Denker*innenpodiums fällt der Kunstvermittler und Aktivist Rodríguez (79–90). Bei ihm sind die persönliche Betroffenheit und die traurige Faktizität dessen besonders lesbar, was nicht oder nicht mehr vorhandenes Kulturelles Erbe für Geflüchtete bedeuten könnte. Immer wieder entstehen heilsam-irritierende Momente, denn Rodríguez nimmt bezüglich der Internierungs- und Gouvernementalitätsregime der Ankunftsländer kein Blatt vor den Mund. Er kritisiert auch Institutionen wie die UNESCO, die sich seiner Meinung nach nur scheinbar um Gerechtigkeit kümmern, immer noch stark „weiß“ dominiert sind und von Seiten der ehemaligen Kolonisatoren bestimmt werden. Die Hegemonien der europäischen Geschichtserzählungen, die Vieles verdrängten, negierten und verweigerten, sind ihm ein Dorn im Auge. Hier entsteht eine inhaltliche Brücke zum Gespräch mit Ruth Wodak (133–152), die in puncto Mehrsprachigkeit die Hegemonie der deutschen Sprache in Fragen des offiziellen österreichischen Flüchtlingsregimes kritisiert: „Man hätte natürlich auch andere Kriterien wählen können: […] ob man einen Job hat, über die österreichische Geschichte Bescheid weiß, sich über die aktuelle Politik informiert, sich in der Umgebung orientieren kann, zu neuen Gruppen Zugang findet, […] den Wechsel des kulturellen Umfelds bewältigt, die demokratischen Werte anerkennt und einhält, mit Differenz leben kann […].“ (141–142) Wodak betont in diesem Zusammenhang die Rolle Österreichs als (historische) Migrationsgesellschaft, in der sich auch rivalisierende Kräfte träfen. Die Kreativität der Jugendsprache, die Möglichkeit von Re-Definitionen und Umwertungen von Begriffen sowie Fragen nach der Beschaffenheit und der Änderung österreichischer Identitäten bilden weitere Schwerpunkte in diesem Gespräch.
Für Vertreter*innen der Empirischen Kulturwissenschaft/Europäischen Ethnologie sind möglicherweise die beiden Gespräche mit Sharon Macdonald (63–78) und Bernhard Tschofen (112–132) besonders anziehend, wobei sich Benzer mit Macdonald vor allem über den nun geänderten Umgang mit dem NS-Erbe, sogenanntes „difficult“ oder „dark heritage“ und die Strategien des Überschreibens oder auch der möglichen Zerstörung unterhält. Vor allem das interdisziplinäre und internationale Forschungsprojekt „TRACES“ (Transmitting Contentious Cultural Heritages with the Arts: From Intervention to Co-Production, 2016–2019), an dem auch Macdonalds Institut beteiligt war, wird hier thematisiert. Bei Tschofen stehen Überlegungen zum kulturwissenschaftlich-kritischen Umgang mit den Vermarktungslogiken eines „Labellings“, besonders für regionale (kulinarische) „Spezialitäten“, sowie zu den Untiefen der Heritage-Regimes insgesamt im Mittelpunkt.
Die Überlegungen Aleida Assmanns (11–36) berühren Grundsatzgedanken zur Charakteristik, Entwicklung und zum Bedeutungswandel (mit den Folgen Sammlung, Reparatur, Kuratierung, Vermittlung, Ausstellung und Aneignung, 14) des kulturellen Erbes im 20. Jahrhundert. Dabei geht Assmann auch auf die Dominanz des Modernismus in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland ein, die den „Erbe“-Begriff in schlechtem Licht erscheinen ließ. Auch Konrad Paul Liessmann geht auf dieses Phänomen ein, wobei er den starken Gestus der Kreativitätsrhetorik und das Potenzial des Alten sieht, das für „Plünderungen“ bereitstehen sollte (50). Ein „Gefangensein im Historischen“ konstatiert Franz Schuh (94), zumindest für die Menschen, denen die unmittelbare Gegenwartsbezogenheit des Tieres fehlen müsste, wiewohl auch er sich dafür ausspricht, „aus dem kulturellen Erbe Akzente herauszuholen, die die Kraft von Aktualität haben könnten“ (94). Die deutsche Kolonialgeschichte am Beispiel des geplanten „Humboldt-Forums“ im Berliner Schloss berührt auch Assmann und kommt hier in atmosphärische Nähe zu Rodriguez, wie wohl sie die Rolle der UNESCO und ihrer Programme positiver bewertet.
Im Gespräch mit Liessmann (37–62) stehen seine Appelle gegen ein von ihm geortetes Versagen der Bildungsvermittlung aufgrund des Bologna-Systems an den Universitäten und der Konzentration auf Kompetenzen zuungunsten der Bildungsinhalte im Fokus. Liessmann plädiert idealistisch für einen zumindest europäischen Bildungskanon und dessen dringliche Vermittlung, der, entsprechend gelehrt, den Austausch auch unter jungen Menschen verschiedener Nationen ermöglichen würde. Kulturelles Erbe ist für ihn eine Reihe von Leuchttürmen für eine dringend notwendige Auswahl aus dem Daten-Ozean, die wiederum nur durch gute Bildungsvermittlung und tatsächliches, eigenständiges Lesen nahegebracht und so überhaupt wieder ermöglicht werden könnte.
Die Existenz eines Kanons auf den sich alle einigen könnten, wird von Franz Schuh (91–111) wiederum aus eigener Erfahrung skeptisch beurteilt, „es sei denn, er wird stalinistisch oder nationalsozialistisch vorgeschrieben“ (98). Wechselnde Hegemonien um ein kulturelles Erbe ortet Schuh auch in Österreich, insbesondere bei neuen Regierungskonstellationen. Humorig-gallig meint er, dass den meisten Menschen das kulturelle Erbe aber einerlei sei und die Breitenwirkung von Kultur und deren Produzent*innen überschätzt werde. Mit einer Frage nach Karl Schlögls „Terror und Traum“ und Schuhs Einschätzung dazu bekommt das Interview plötzlich drastische Aktualität.