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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Christian Kassung

Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung

Paderborn 2021, Ferdinand Schöningh, X, 294 S. m. Abb., ISBN 978-3-506-70446-7


Rezensiert von Barbara Wittmann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Angesichts der Brisanz der Art und Weise künftiger Nahrungsmittelproduktion und ‑konsumption vor allem in den Ländern des globalen Nordens ist seit einigen Jahren eine vermehrte (Wieder-)Auseinandersetzung mit Landwirtschaft und Esskulturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu verzeichnen. Gerade die Diskurse um Fleischverzehr beziehungsweise Fleischverzicht stehen dabei in engem Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Herausforderungen von Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Lebensmittelverschwendung und tierethischen Problematiken, weshalb sich etwa Alexandra Rabensteiner forscherisch jüngst der „medialen Neuaushandlung eines Lebensmittels“ (2017) widmete oder das kulturwissenschaftliche Regensburger Verbundprojekt zur „Verdinglichung des Lebendigen“ Fragen der unterschiedlichen historischen Bewertung von Fleisch nachgegangen ist.

Auch der Kultur- und Medienwissenschaftler Christian Kassung setzt sich in seiner Monografie mit dem Bedeutungswandel von Fleisch als Nahrungsmittel auseinander und fokussiert dabei in einer mikroperspektivischen Blickweise auf Berlin im 19. Jahrhundert. Diese methodische Herangehensweise verspricht zunächst einen hohen Erkenntniswert auch für europäisch-ethnologisch Forschende, zumal der Autor immer wieder betont, „gegenüber einer rein technikhistorischen eine breiter kulturgeschichtliche Perspektive“ (58) einnehmen zu wollen. Dies gelingt Kassung allerdings nur bedingt: Seine historische Auseinandersetzung mit der Berliner Fleischproduktion und -konsumption zeugt zweifellos von einer hohen Expertise in Bezug auf Metropolisierungs-, Technisierungs- und Industrialisierungsprozesse, sie bleibt dabei jedoch äußerst deskriptiv und zahlenlastig, sodass die Akteur*innen der sich etablierenden Lebensmittelindustrie, die Berliner Konsument*innen und ganz grundsätzlich deren Lebenswelten merkwürdig blass bleiben und vom Buch nicht wirklich eingefangen werden können. Diese Feststellung beruht sicherlich auch auf der leidigen Frage danach, wer oder was Kulturwissenschaft eigentlich ist und welche Erwartungen an den Begriff geknüpft sind, denn Kassung thematisiert durchaus auch Praktiken, Akteure und Handlungen und rückt in seiner überzeugend innovativ aufgebauten Gliederung Bereiche sozialer Interaktionen wie etwa das Marktgeschehen oder den Familientisch in den Fokus. Trotzdem verschwinden die Menschen letztlich hinter detaillierten technischen Beschreibungen, etwa zu physikalischen Erklärungen und Metaphern, sowie Kassungs Bemühungen, seine zentrale und bislang von der kulturhistorischen Forschung in ihrer Bedeutung weitestgehend übersehene These zu belegen: „Indem Fleisch zu einem industriellen Produkt entwickelt wird, ermöglicht es Industrialisierung.“ (10)

Diese Argumentation schlüssig zu begründen, gelingt dem Autor im Verlauf seiner Ausführungen: Kassung bettet sein Thema zunächst in den breiteren Kontext der Urbanisierung und des Städtewachstums ein, stellt dabei die Sonderstellung Berlins als führender Industriestadt heraus und konturiert sein Forschungsdesign. Im Folgenden wird die Verwissenschaftlichung und Herausbildung neuer beziehungsweise erster Mastschwein-Zuchtlinien mit grundsätzlich spannenden Erkenntnissen etwa zum für die Berliner Versorgung wichtigen „Karbonadenschwein“ nachgezeichnet, wobei Kassung theoretische Rahmungen jüngerer postanthropozentrischer Ansätze nur am Rande streift. Stärker stehen bei ihm, auch in den anschließenden Kapiteln „Das Gleis“, „Die Architektur“, „Die Hygiene“ und „Der Totschläger“, die Beschreibungen der Infrastrukturen rund um den Eisenbahnausbau – hier konzentriert auf Pommern und Ostpreußen –, das Innen- und Außenleben des im Mittelpunkt des Buches stehenden Berliner Zentralvieh- und Schlachthofes, die sich in dessen Kontext etablierenden Logistiken und Abläufe sowie die vom Autor immer wieder herausgestellten „Störungen an zahlreichen Knoten und Schnittstellen dieses Netzwerks“ (78) im Fokus. Etwas verwundert hier, dass die Schlachthofbeschreibungen nicht weiter in den Kanon der diesbezüglich gut aufgestellten Forschungslandschaft – zu nennen wären beispielsweise Lukasz Nieradziks Studien zum Wiener Schlachthof St. Marx (2017) – eingebettet werden und so das Spezielle beziehungsweise Typische Berlins zu wenig transparent wird.

Von der erfolgten Schlachtung ausgehend spürt Kassung „Dem Markt“ und damit der Distribution des Fleisches im parallel zu seinem Wachstum immer hungriger werdenden Berlin bis in die 1920er Jahre hinein nach und bewegt sich damit hin zum achten Kapitel, „Der Herd“ überschrieben. Mit den Kulturtechniken des Kochens und der Feststellung, „(n)irgendwo in unserer Kultur liegen das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche näher zusammen als beim Essen“ (172), führt der Autor Erkenntnisse zum Braten und Garen sowie verschiedenen Herd-Konstellationen aus. Auch hier bleibt Kassung der technischen Deskription unter Einbeziehung strukturaler Ansätze von Claude Lévi-Strauss verpflichtet, sodass die Leser*innen kaum etwas vom Alltag und den Menschen erfahren, um die herum sich diese neuen Haushalts-Errungenschaften formten. Der Autor folgt dem Weg des Fleisches in einer zunehmend beschleunigten und daher nach neuen Formen der Konsumption suchenden Zeit anschließend in den Kapiteln „Die Konserve“, „Die Bierquelle“ – wobei hier vor allem das Gaststättenwesen anhand des prominenten Berliner Beispiels der Brüder Aschinger beleuchtet wird – und „Der Sonntagsbraten“. Letzteres zeichnet Kassung an gut gewählten und für die europäisch-ethnologische Nahrungsforschung gewinnbringenden Beispielen wie der Rolle von Puppenküchen und Vergnügungsparks nach. Es geht um Gender-Aspekte, schichtabhängige familiäre Konstellationen und vor allem „die symbolische Dimension des Fleischkonsums“ (243), bevor er zum Abschluss noch den „Abfall“ und damit die letzte Dingwerdung des Fleisches aufgreift.

Ganz grundsätzlich ist trotz der eingangs angebrachten Kritikpunkte zu bemerken, dass es sich bei dem rezensierten Werk um ein pointiertes und gut formuliertes, reich bebildertes und präzise nachgezeichnetes Bild der tierischen Produktion in und um Berlin während der Industrialisierung handelt, das der (kultur-)historischen Forschung die zentrale Bedeutung der lange Zeit als redundant behandelten Nahrungsgeschichte eindrücklich vor Augen führt. Für eine breitere Rezeption durch die aus der ehemaligen Volkskunde hervorgegangene Kulturwissenschaft fehlt dennoch eine stärkere Einbettung in soziale und alltagskulturelle Aspekte der Fleischgeschichte.