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Reinhild Kreis

Selbermachen. Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters

Frankfurt am Main 2020, Campus, 586 S., ISBN 978-3-593-51199-3


Rezensiert von Anna Katharina Behrend
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Die Marginalisierung von bestimmten sozio-kulturellen Phänomenen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung entspricht bekanntlich nicht immer deren tatsächlicher Gewichtung in der Lebensrealität von Menschen. Mit ihrer fundierten Studie zur Praktik des Selbermachens widmet sich die Historikerin Reinhild Kreis einem solchen Bereich, mit dem sich die historische Konsumforschung bisher eher wenig auseinandergesetzt hat. Natürlich ist Selbermachen streng genommen eine der anthropologischen Konstanten schlechthin. Seine Definition und Bedeutung ändert sich jedoch in dem Moment, in dem sich Selbermachen von Machen unterscheidet, indem es etwa die Möglichkeit einer Entscheidung zwischen „make or buy“ gibt. Die deutliche Ausdifferenzierung von Versorgungsstrategien, die seit der Industrialisierung für zunehmend breite Bevölkerungsschichten die Möglichkeit bietet, Produkte fertig zu kaufen, macht den Blick auf das Selbermachen besonders interessant.

Bereits die Betrachtung des Begriffs „Selbermachen“ führt vor Augen, dass diese Praktik sich der Eindeutigkeit einer Verortung entzieht. Kreis beschreibt sie als „aus produktiven und konsumtiven Elementen kombinierte Versorgungsstrategie“ (13), die zwischen Arbeit und Freizeit und zwischen Produktion und Konsum anzusiedeln ist, sich also keinesfalls scharf abgrenzen lässt. Nicht unwahrscheinlich, dass neben der Schwierigkeit der Verortung auch eine äußerst heterogene Quellenlage zur „Blindstelle“ in der Konsumforschung führte, auf die die Autorin nun ihr Augenmerk richtet. Dabei widmet sie sich in der aus ihrer Habilitationsschrift hervorgegangenen Publikation der Zeit von etwa 1880 bis 1990, also dem Zeitraum, in dem es über unterschiedliche Stufen schließlich zur Herausbildung einer Massenkonsumgesellschaft in Deutschland kam. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt auf der Betrachtung der Essenszubereitung und handwerklichen Tätigkeiten an Haus und Wohnung, wobei immer wieder auch angrenzende Bereiche, wie beispielsweise die Herstellung von Kleidung oder Gärtnern, in die Betrachtungen mit einbezogen werden. Mit der Auswertung von Werbeanzeigen, Zeitschriften, Egodokumenten, behördlichen Überlieferungen etc. greift Kreis auf ein breites Spektrum an Quellenkategorien zurück, das sowohl Einblicke in normativ-gewünschte Praktiken des Selbermachens als auch in die Alltagspraktiken von Menschen ermöglicht.

Nach der Positionierung der Arbeit widmet sich die Autorin im zweiten der insgesamt vier Hauptkapitel den „Anleitungen zum Selbermachen“. Der Blick richtet sich auf diverse Akteurs- und Zielgruppen, sowie (Werbe-)Strategien der Hersteller von Hilfsprodukten zum Selbermachen, exemplarisch dargestellt an den Firmen Weck und Dr. Oetker in der Zeit um 1900. Eine Vermittlungsform über Anleitungen ist immer dann nötig, wenn Praktiken nicht mehr oder noch nicht zu selbstverständlich ausgeübten Tätigkeiten gehören. Wie Kreis heraushebt waren die Anleitungen keinesfalls ausschließlich die Reaktion auf eine schwindende Kenntnis des Selbstherstellens von Dingen, die nun von Fertigprodukten ersetzt werden konnten, sondern es ging auch um die Einführung von neuen Praktiken, wie dem häuslichen Einwecken. Gerade in der Zeit um 1900 war das Ziel von Aufforderungen zum Selbermachen häufig der „richtige“, also gesellschaftlich gewünschte Einsatz von Zeit. Vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche waren Adressaten didaktisch und disziplinierend formulierter Anleitungen zum Selbermachen, die an moralisch aufgeladene Figuren wie die sorgende und daher selbst backende und kochende Hausfrau und Mutter appellierten. Das männliche Heimwerken, das schließlich in den 1950er Jahren stark in den Blick des wachsenden Marktsegmentes von Baumärkten und Bastler-Zeitschriften geriet, war dagegen kaum an gesellschaftlich-normative Wunschvorstellungen gekoppelt. Heimwerken wurde zum freiwillig ausgeübten „Hobby“; der Personenkreis der Selbermachenden erweiterte sich nicht nur absolut, sondern auch auf soziale Schichten bezogen deutlich.

Während über Anleitungen aktiv an neue Zielgruppen herangetreten wurde, griffen bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie die Lebensreformbewegung um 1900 oder Anhänger der ökologischen Bewegung der 1980er Jahre aus eigenem Antrieb auf Praktiken des Selbermachens zurück. Zwar war damit in erster Linie eine Kritik an industriell hergestellten und damit vermeintlich „schlechten“ Waren verbunden. Wie Kreis herausstellt dürfen jedoch insbesondere die Lebensreformer_innen keinesfalls als durchgehend konsumfeindlich verstanden werden, vielmehr ging es darum, das moderne Warenangebot zu ergänzen und durch Einflussnahme zu verbessern. Letztlich zeigen sich hier durch die Kombination von Selbermachen und Kaufen bereits Eigenschaften des in den 1980er Jahren dann durch Alvin Toffler so betitelten „Prosumenten“.

Die Kriegs- und Nachkriegsjahre der beiden Weltkriege sind der Bezugsrahmen des dritten Kapitels, in dem sich Reinhild Kreis verschiedenen vom Staat verbotenen oder angeordneten Praktiken des Selbermachens sowie der davon unter Umständen abweichenden Alltagsrealität der Menschen in diesen Zeiträumen zuwendet. Während Praktiken des Selbermachens, des Umnutzens und der Notbehelfe zwar keine Spezifika von Kriegszeiten sind, sind sie doch in diesen Zeiträumen zum einen Bestandteil einer kollektiven Erfahrung und zum anderen eben in besonderer Weise durch den regulierenden Eingriff des Staates gekennzeichnet. Während gewünschte und geförderte Praktiken wie das Selbstversorgen aus dem eigenen Kleingarten teilweise an den fehlenden Vorkenntnissen der neuen Gartenbesitzer_innen scheiterten und damit zum Reigen der nur mäßig erfolgreichen Versuche der Verbrauchslenkung im Krieg zählen, muten untersagte Formen des Selbermachens wie das „Kuchenbackverbot“ besonders im Rückblick beinahe grotesk an und es erstaunt kaum, dass staatliche Eingriffe auf diesen kleinteiligsten Ebenen des Selbermachens von der Bevölkerung weitgehend missachtet wurden. Es gab jedoch auch Maßnahmen der staatlichen Unterstützung des Selbermachens die nicht nur Erfolg, sondern auch über Jahrzehnte Bestand hatten, wie Kreis zeigen kann. Förderprogramme zu Baumaßnahmen, die eine sogenannte „Muskelhypothek“ vorsahen (statt Kapital wurden Arbeitsstunden eingebracht), setzten sich mit den Siedlungsprogrammen der Weimarer Republik flächendeckend durch und wurden auch von den Nationalsozialisten nach 1933 fortgeführt, untermauert vom NS-Propagandabild des zupackenden und sich selbst helfenden deutschen Volkes. Im letzten Teil des dritten Kapitels greift Kreis mit der Auswertung von Zeitzeugenberichten und Egodokumenten auf Quellenkategorien zu, die im Gegensatz zu normativen Quellen wie Anleitungen und Vorschriften in die Lage versetzen, die Realität des Selbermachens nachzuvollziehen. Dabei weist die Autorin selbst auf die zwingend notwendige quellenkritische Vorgehensweise besonders im Umgang mit diesen unter Umständen zeitgenössisch überformten Berichten von Zeitzeug_innen hin. Herausarbeiten kann sie die Dichotomie, dass Praktiken des Selbermachens in Notzeiten (auch retrospektiv) hervorstechen, weil sie einerseits vom Gewohnten abwichen, Improvisieren und Selbermachen gleichzeitig jedoch auch als Formen der Fortführung von Normalität dienten, wenn sie ersetzten, was sonst nicht zu haben war.

Im Fokus des letzten Kapitels steht das „Selbermachen in der Massenkonsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts“. Anhand exemplarischer Fallstudien von Werbemaßnahmen wird aufgezeigt, wie Bedenken wie „Kann ich das?“ und „Was bringt das?“ als mögliche Hindernisse fürs Selbermachen entkräftet werden sollten. In Zeiten der Möglichkeit des Kaufs von Fertigprodukten und Dienstleistungen auf nahezu allen Gebieten des täglichen Lebens fungierten Kostenersparnis, individuelle Lebensgestaltung, aber auch Stolz und Spaß als Begründungen fürs Selbermachen. Interessant ist, wie die Autorin, bezogen auf die verschiedenen Geschlechterrollen, die in der Werbung bemüht wurden, herausarbeiten kann, wie mit der ausgesprochenen Kommerzialisierung der neuen Freizeitbeschäftigung Selbermachen eine genderpolitische Verschiebung einherging. So wurde das Handwerken und damit Tätigkeiten wie beispielsweise Tapezieren, Streichen und Reparieren in den 1950er Jahren als Hobby plötzlich zur explizit männlichen Domäne, während noch bis in die 1930er Jahre ganz selbstverständlich auch Frauen in Werbung und Ratgebern mit diesen Tätigkeiten angesprochen wurden.

Im vorletzten Teilkapitel geht Kreis auf die besonderen Bedingungen beim Selbermachen in der DDR ein, in der auf eben solche geschlechtsspezifischen Trennungen offiziell verzichtet werden sollte. Die Autorin kann zeigen, wie Praktiken des Selbermachens in der DDR von staatlicher Seite instrumentalisiert wurden, um angesichts einer mangelhaften Versorgungslage und der Überforderung des Marktes Abhilfe zu schaffen. Selbermachen wurde als Teil der „sozialistischen Persönlichkeit“ (368) betrachtet, es war nicht nur Hobby, sondern, wie Kreis unter anderem am Beispiel der „Volkswirtschaftlichen Masseninitiativen“ darstellt, politisch erwünschtes Verhalten. In der Realität wichen jedoch nicht nur häufig die Bedürfnisse der Bevölkerung von den Vorstellungen des Staates ab, auch ein stetiger Mangel an Materialien und Maschinen verhinderte immer wieder, staatliche Versäumnisse über die Praktik des Selbermachens auszugleichen.

Die vorgelegte Publikation lässt sich, trotz einiger weniger Redundanzen, gut lesen und ist nachvollziehbar aufgebaut. Die Studie überzeugt auch durch die strukturierte und sorgfältige Auswertung äußerst breit gestreuter Quellen. Kreis kann zeigen, wie sich nicht nur normative Vorstellungen und Wünsche änderten oder aber über große Zeiträume gleichblieben, die mit der Praktik des Selbermachens als Losung und Lösung angesichts einer zunehmend industrialisierten und technologisierten Produktwelt verbunden waren, sondern wie auch die Bewertung des Selbstgemachten an sich variierte: Es konnte, je nach zeitlichem oder sozialem Kontext, „als Zeichen von Armut und Rückständigkeit“ (470) oder aber als zeitgemäß, kreativ und erstrebenswert gelten. Dem Selbermachen im Konsumzeitalter als einem „massenhaften und zugleich höchst individuellen Phänomen“ (423) wird mit dieser beeindruckenden Studie ein angemessener Platz in der kulturanthropologischen und historischen Konsumforschung gegeben.