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Juliane Tiffert

„Auf Fahrt für Führer, Volk und Vaterland“. Narrative der Grenz- und Auslandsfahrten nationalpolitischer Erziehungsanstalten

(Kieler Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte 14), Münster 2021, Waxmann, 330 S. m. Abb., ISBN 978-3-8309-4191-0


Rezensiert von Tobias Weger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Auslandsfahrten zu den Wohngebieten deutschsprachiger Minderheiten im östlichen Europa sind aus der Beziehungsgeschichte Deutschlands zu den Ländern Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas in der Zwischenkriegszeit, aber auch aus der Fachgeschichte der Volkskunde nicht wegzudenken. Feldforschungen an den östlichen und südöstlichen Fronten des Ersten Weltkriegs (etwa Paul Trägers ethnografische Untersuchungen in der besetzten Dobrudscha) oder im Rahmen der deutschen Jugendbewegung sind hier zu nennen, etwa die vom Auswärtigen Amt finanzierte „Wolhynienfahrt“ der Breslauer Akademischen Freischar (1926), an der später einflussreiche Wissenschaftler wie Walter Kuhn, Alfred Karasek oder Josef Lanz teilnahmen. Wandervögel, Pfadfinder, Angehörige der Bündischen Jugend oder kirchlich-konfessionelle Jugendgruppen machten sich auf, um die verstreuten Deutschen im östlichen Europa aufzusuchen. Berichte von diesen Fahrten sind in der Vergangenheit bereits häufig ausgewertet und auf ihren Stereotypengehalt sowie ihre politisch-mobilisierende Wirkung hin analysiert worden.

In diesem wissenschaftlichen Umfeld beschreitet das vorliegende Buch Neuland. Juliane Tiffert bringt in ihrer am Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde der Christian-Albrechts-Universität Kiel entstandenen Dissertation einen in der bisherigen Forschung nicht beachteten Akteur ins Spiel: Sie untersucht die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPAE), jene ab 1933 im Deutschen Reich entstandenen Schulungseinrichtungen, an denen die künftige nationalsozialistische Elite im Geist der herrschenden Ideologie herangebildet werden sollte. Im Rahmen des pädagogischen Konzepts dieser Einrichtungen gehörten auch „Grenz- und Auslandsfahrten“ zum Curriculum. Nach einem genau orchestrierten Programm sollten die Schüler zunächst mit dem rassistischen, menschenverachtenden und biologistischen Weltbild des Nationalsozialismus vertraut gemacht werden. Die auf diese Weise eingeimpften Stereotypen sollten anschließend durch eine entsprechend gesteuerte „Anschauung“ vor Ort bestätigt werden.

Um empirisch zu ermitteln, ob dieses Konzept aufging, legt die Forscherin ihren Fokus auf die unterschiedlichen Narrative, die im Umfeld solcher von den NPAE organisierten Fahrten eine Rolle gespielt haben. Sie gleicht propagandistisches Schulungsmaterial mit den Berichten ab, die als Erfolgsnachweis nach der Durchführung der Fahrten entstanden sind.

Für ihre Arbeit hat Juliane Tiffert eine ganze Reihe von Archiven aufgesucht, hat die verfügbaren Publikationen der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und theoretische Schulungs- und Bildungsschriften aus der Zeit des „Dritten Reiches“ ausgewertet. Darüber hinaus hat sie sich mit der einschlägigen Fachliteratur eingehend vertraut gemacht. Außerdem ist es ihr noch gelungen, einen 1922 geborenen und zwischenzeitlich verstorbenen Zeitzeugen ausfindig zu machen, der als Jugendlicher die NPAE Schulpforta besucht hat. Als Schüler nahm er 1938 an einer zweimonatigen Fahrt durch Rumänien teil. Nach 1945 gelangte der aus Ostpreußen stammende Schüler nach Oldenburg. Mit ihm hat Juliane Tiffert ein lebensgeschichtliches Interview geführt. Es gelingt ihr überzeugend, die Erinnerungen des Zeitzeugen in einem zeithistorischen Kontext zu verorten und dabei zugleich biografisch relevante Fragen mit zu berücksichtigen. Sie thematisiert in diesem Zusammenhang die grundlegende Frage nach der Bedeutung der Zeitzeugenschaft in einer Zeit, da die letzten Gewährspersonen, die noch eine eigene Anschauung von der Zeit der Nationalsozialismus haben, entweder hochbetagt oder bereits verstorben sind.

In ihrer Analyse fragt Juliane Tiffert nach den kulturellen Wertvorstellungen, nach Deutungsmustern und Alltagspraktiken, die die Teilnehmer von NPAE-Fahrten begleiteten und konfrontiert sie mit übergeordneten Erzählweisen und ideologischen Vorgaben seitens des NS-Regimes. Die Pädagogik der NPAE beruhte auf dem so genannten Erfahrungswissen, bei dem die Indoktrination durch eine emotional begleitete „Erfahrung“ vertieft werden sollte.

Die vorliegende Studie besticht durch einen klaren, gut nachvollziehbaren argumentativen Aufbau und eine wohlformulierte Sprache, die auf gekünstelten Fachjargon verzichtet, ohne dabei an Prägnanz zu verlieren. Die Autorin erläutert ihren theoretischen Zugang, der nicht nur deklamatorisch vorgetragen, sondern im Zuge der Arbeit auch durchgehalten wird. Sie verknüpft zeithistorische und volkskundliche Ansätze auf einleuchtende Weise und schafft es immer wieder, Detailbeobachtungen und allgemeine Erkenntnisse überzeugend in Beziehung zu setzen.

Entstanden ist auf diese Weise eine sehr solide wissenschaftliche Qualifikationsarbeit, mit der die Autorin sich als hoffnungsvolle Nachwuchskraft in der Volkskunde/Europäischen Ethnologie vorstellt. En passant ist die Studie von Juliane Tiffert auch ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten während des „Dritten Reichs“ und eine bedeutende Studie für das bessere Verständnis der nationalsozialistischen Bildungspolitik und -praxis. Wenn wir uns bewusst machen, wie viele spätere politische, wirtschaftliche und kulturelle Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland in ihren jungen Jahren eine NPEA besucht haben, so müssen wir uns eingestehen, wie wichtig es ist, sich mit deren Ideologiewelt auseinanderzusetzen. Dem selbst gesetzten Anspruch, eine „Facette gelebter NS-Ideologie“ (380) zu erforschen und darzustellen, ist die Autorin in vollem Umfang gerecht geworden.