Aktuelle Rezensionen
Aurelia Ehrensperger
Atem-Wege. Erkundungen zu Luftverschmutzung, Atemnot und Achtsamkeit
(Zürcher Beiträge zur Alltagskultur 25), Zürich 2020, Chronos, 206 S. m. Abb., ISBN 978-3-0340-1563-9
Rezensiert von Timo Heimerdinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022
Mit der hier zu besprechenden Studie liegt die Druckfassung der von Aurelia Ehrensperger 2018 in Zürich eingereichten Dissertation vor, deren Fertigstellung ihr Erstbetreuer Thomas Hengartner leider nicht mehr selbst erleben konnte. Umso erfreulicher und dankenswerter ist es, dass die Studie – auch im kollegialen Zusammenspiel zwischen Zürich und Wien – nun erfolgreich abgeschlossen und publiziert werden konnte und damit als Forschungsbeitrag unseres Faches (in diesem Buch fast durchgängig und nicht ganz nachvollziehbar im Plural „empirische Kulturwissenschaften“ [sic] genannt) vorliegt. Mit ihrer Arbeit möchte die Autorin einen „innovativen Beitrag zur Sinnesethnografie“ (187) leisten und „erkundet“ dafür das Thema des menschlichen Atmens in einem thematisch breit und theoretisch anspruchsvoll angelegten, eher experimentellen Projektdesign. Ehrensperger betont, dass sie ein „ungewohntes“ Thema gewählt habe, das sich einem klassischen Zugriff entziehe. Nicht zuletzt daher rührt es, dass die Arbeit in zwei große Teile zerfällt, nämlich einen „theoretisch-konzeptionellen“ und einen „inhaltlich-anwendungsorientierten“, der sich wiederum in drei thematische Kapitel gliedert. Das menschliche Atmen als einzige basale körperliche Vitaltätigkeit, die sowohl unwillkürlich stattfindet und zugleich bewusst und willentlich steuerbar ist, entzieht sich einer eindeutigen Zuordnung zu Natürlichkeit oder Kultürlichkeit (um ein von Thomas Hengartner gern verwendetes Diktum aufzugreifen) und mag auf den ersten Blick auch kulturwissenschaftlich sperrig erscheinen. Dementsprechend sucht die Autorin in ihrer Arbeit nach einem unkonventionellen Zugang zum Thema, auffällig ist dabei eine ausgeprägte Semantik der Vorläufigkeit, der Suche und der Nicht-Festlegung, die sie hierfür sprachlich aufruft. So ist von einer „Annäherung“ oder „Erkundung“ die Rede, es wird „skizziert“, „ausgelotet“ und „erprobt“ und dies alles geschieht „offen“, „explorativ“, „durchlässig“, „unscharf“ oder „polyvers“ (10–12, 25). Ich persönlich wundere mich immer ein wenig, wenn nach einer mehrjährigen intensiven und erfolgreichen Forschungsarbeit sprachlich weiterhin der Aspekt des Explorativen und Tentativen so stark betont wird. Aber das mag Geschmackssache oder vielleicht einem habitualisierten epistemischen Bescheidenheitsgestus geschuldet sein, der in Teilen des Faches verbreitet ist und sich ostentativ als anti-positivistisch positionieren möchte.
In dieser Perspektive jedenfalls konsequent rekapituliert Aurelia Ehrensperger im ersten Teil zunächst ausführlich unterschiedliche körpertheoretische Positionen und die methodologischen Konzepte des Rhizoms und der Spur, um ihre Arbeit begrifflich-theoretisch zu situieren und um eine geeignete Metapher für ihr suchend-mäanderndes Vorgehen zu finden. Konzeptionell orientiert sie sich schließlich an der Körperphilosophie des Franzosen Jean-Luc Nancy (1940–2021) und greift die Begriffe des „Entschreibens“ und des „Statthabens“ des Körpers auf.
Derart begrifflich, theoretisch und epistemologisch eingerichtet geht es dann an die inhaltlichen Hauptteile („thematische Verdichtungen“, 27), derer es in dieser Studie drei gibt; sie befassen sich mit den Themen Luftverschmutzung, Atemnot und Achtsamkeit. Diese Teile lesen sich insgesamt sehr viel zugänglicher und konkreter und bieten anregende thematische Forschungsergebnisse, die sich auf einen breiten Materialmix aus Medienanalysen, Befragungen, (auto)ethnografischen Beobachtungen sowie Teilnahmeprotokollen stützen. Gleichwohl „rhizomt“ die Autorin – so ihre eigene Wortwahl auf Seite 184 – auch in diesen Teilen der Arbeit selbstbewusst und lustvoll und entscheidet sich damit mehr für einen assoziativ-parallelisierenden als für einen analytisch-strukturierenden Sprach- und Argumentationsstil.
Im Abschnitt zur Luftverschmutzung befasst sich Aurelia Ehrensperger schwerpunktmäßig auf medien- und diskursanalytischer Basis mit der Luft selbst, ihrer Thematisierung als sauber oder kontaminiert und bietet neben Einsichten zum Thema Feinstaub auch einen schönen Exkurs zu Davos samt seiner Heilkraft-Fama. Luftverschmutzung wird in diesem Kapitel sowohl als diskursiv hergestellte als auch als mess- und spürbare Wirklichkeit rekonstruiert und damit im Spannungsfeld von medialer wie körperlicher Realität in ihrer Dringlichkeit kulturwissenschaftlich analysiert. Daran schließt sich ein etwas kürzeres Kapitel zum Thema Atemnot an, in dem die Autorin auf der Basis von dichtem, mit COPD-Patient*innen erhobenem Interviewmaterial das Atmen und seine gesundheitliche Beeinträchtigung als Körperpraxis sowohl medikalkulturell als auch mit deutlichem Bezug auf die grundlegende Vulnerabilität des Körpers behandelt. Hier geht es ganz wesentlich um die Möglichkeiten und Grenzen der Versprachlichung einer zutiefst subjektiven, körperlichen Erfahrung. Im dritten thematischen Abschnitt zur Achtsamkeit schließlich stehen (auto)ethnografische Beobachtungen als Basis zur Rekonstruktion dieses populären Konzeptes im Kontext von Selbsterfahrungs- und Atemkursen bereit, wobei die Autorin die damit verbundenen Anliegen und Ideengeschichten auch kulturhistorisch einordnet. In diesem Kapitel gelingt ihr – fast schon klassisch empirisch-kulturwissenschaftlich, für meinen Geschmack aber keineswegs bieder, sondern sehr überzeugend – die Verknüpfung einer historischen mit einer empirisch-gegenwartsorientierten kulturanalytischen Perspektive.
Insgesamt liegt mit dem Buch eine kenntnis- und detailreiche Arbeit vor, die im Kern eine kleine Serie von drei voneinander relativ unabhängigen Einzelstudien bietet, wovon sich jede auch alleine mit Gewinn lesen lässt. Die Verbindung dieser drei Teile in einem überspannenden Konzept konnte mich allerdings nicht vollständig überzeugen, auch weil ihm sprachlich die Mühsal seiner Entstehung weiterhin anzumerken ist. Tatsächlich musste auch ich bei der Lektüre immer wieder bewusst durchatmen – um durchzuhalten. Gleichwohl leistet Aurelia Ehrensperger beachtliche und facettenreiche Erkundungsarbeit zu einem interessanten Thema der Körper- und Sinnesethnografie, die sicherlich auf künftige Arbeiten inspirierend wirken kann.