Aktuelle Rezensionen
Michaela Fenske/Susanne Dinkl (Hg.)
Durch Leben wandeln. Neuere biografische Forschungen
(Alltag – Kultur –Wissenschaft 8), Würzburg 2021, Königshausen & Neumann, 249 S. m. Abb., ISBN 978-3-8260-7443-1
Rezensiert von Malte Völk
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022
Der 8. Jahrgang der Zeitschrift „Alltag – Kultur – Wissenschaft. Beiträge zur Europäischen Ethnologie“, herausgegeben von Michaela Fenske und Susanne Dinkl, widmet sich einem Thema, dem Offenheit und Vielfalt von vornherein eingeschrieben sind: Es geht mit der Erforschung des Biografischen um einen immer wieder in Angriff genommenen Kernbereich der Europäischen Ethnologie, wobei durch einzelne Lebensgeschichten „die Alltage der Vielen“ (7) in den Blick geraten sollen. Dementsprechend sind die einzelnen Beiträge inhaltlich und methodisch recht heterogen, doch durchweg lesenswert und erhellend.
Blättert man das Buch durch, so entsteht zuerst ein Moment der Irritation, das aber auch neugierig macht: Zwischen den Beiträgen finden sich farbige Abbildungen und Transkriptionen von Dokumenten wie Schulaufsätzen, Briefen oder Kochrezepten, die mit Jahreszahlen versehen jeweils als Teil der „Sammlung Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde“ ausgewiesen werden. Es handelt sich um Ego-Dokumente, besonders historische Selbstzeugnisse, die jedoch in keinem direkten Zusammenhang zu den sie umschließenden Beiträgen stehen. Durch die Lektüre der Einleitung von Michaela Fenske wird man aufgeklärt: Der Lehrstuhl hat angefangen, eine solche Sammlung anzulegen –zunächst durch einen Aufruf in der Lokalzeitung – und möchte hier erste Einblicke gewähren. Dass diese Sammlung in Zukunft nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Lehre genutzt werden soll, wird unterstrichen durch die Umstände der Entstehung des vorliegenden Bandes: Er basiert zwar auf dem Würzburger Institutskolloquium 2019/20, ist aber auch mit einer einschlägigen Lehrveranstaltung verbunden. So ist es konsequent, dass auch eine „Prüfungsleistung“ (81) der Würzburger Master-Studentin Laura Hoss als Beitrag aufgenommen worden ist – er präsentiert eine originelle Auswertung von biografischen Interviews mit Blick auf Räume und deren soziale Bedeutung. Der in der Einleitung angekündigte Schwerpunkt auf „unterfränkische Leben“ (7) ist allerdings nicht verwirklicht und die verschiedenen Ebenen des Bandes – Sammlungsaktivitäten, Lehrveranstaltung und Kolloquium – sind nicht immer leicht auseinanderzuhalten. Doch die Vielfalt wiegt dies wieder auf und die Beiträge können ohnehin für sich selbst stehen, wobei sie viel zu bieten haben.
Die Wiener Historikerin Christa Hämmerle leistet eine eindrucksvolle Analyse der Briefkorrespondenz eines jungen deutschen Ehepaars während des Zweiten Weltkriegs. Es zeigt sich in den teils intimen Briefen zum einen, wie selbstverständlich die Ideologie des Nationalsozialismus auch in den feinsten Verästelungen des Alltags präsent war. Zum anderen aber legt die Analyse ein erstaunlich differenziertes Geschlechterverhältnis offen. Dass ein überzeugter Nationalsozialist seine Vorstellung von „soldatischer Männlichkeit“ (51) mit seiner „partiell emanzipierten Frau“ (71) vereinbaren kann, ja sich dieser gegenüber geradezu einfühlsam und respektvoll – fast möchte man sagen: gendersensibel – zeigt, ist überraschend und wird spannend aufgefächert. Hämmerle resümiert überzeugend, dass „ambivalente Identitätsentwürfe“ (72) das herrschende hegemoniale Konzept von Männlichkeit nicht grundsätzlich in Frage stellten, sondern sogar noch stützten, da innerhalb jenes starr gesetzten Rahmens emotionalen Bedürfnissen relativ frei nachgegangen werden konnte und diese so nicht komplett unterdrückt werden mussten. Der extremen Härte und Kälte gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus tat dies freilich keinen Abbruch.
Auch die Göttinger Soziologin und Kulturwissenschaftlerin Heidi Rosenbaum widmet sich der Zeit des Nationalsozialismus. Allerdings handelt es sich bei ihrem Text eher um die Reflexion einer schon lange abgeschlossenen Studie und deren biografische Interviews, die vor mehr als 20 Jahren geführt worden sind. Interessant sind hier neben den feinsinnigen methodischen Abwägungen auch die Einblicke in die spannungsvolle Entwicklung der damals sich verstärkt durchsetzenden projektförmigen Forschung sowie in die arbeitsteiligen Prozesse von hierarchisch organisierter Wissenschaft.
Selbstreflexion der Wissenschaft ist in noch stärkerem Maße das Thema des Beitrags von Victoria Hegner (Göttingen, Kulturanthropologie), in dem Biografien von Wissenschaftler*innen im Zusammenhang mit dem akademischen Betrieb aus feministischer Perspektive betrachtet werden. Die Abhandlung ist wissenschafts- und fachgeschichtlich sehr aufschlussreich, indem sie einen Bogen schlägt von frühen Pionierinnen der Volkskunde zum heutigen neoliberalen Wissenschaftsbetrieb. Die „gegenderte Perspektive auf wissenschaftliche Laufbahnen“ (110) trägt sicher dazu bei, das komplexe „Wechselspiel von Wissenschaft, Biografie und Geschlecht“ (125) besser zu verstehen – und damit die gesellschaftliche Situiertheit von Wissenschaft überhaupt.
Beschlossen und abgerundet wird der Band von der gekürzten Fassung eines so lehrreichen wie kurzweiligen Gesprächs zwischen Michaela Fenske und dem fachgeschichtlich prägenden Historiker Hans Medick. Sein stetes Bemühen um eine „Nahperspektive auf historische Prozesse, Zeitkontexte und Lebensumstände“ (242) wird mit Bezug auf verschiedene historische Epochen, aber auch auf seine eigene Wissenschaftsbiografie, deutlich und greifbar.
Der Band bestätigt, wie fruchtbar der Blick auf lebensgeschichtliche Aspekte für europäisch-ethnologische Perspektiven sein kann – und zeigt nicht zuletzt auch das Potential solcher Materialien und Herangehensweisen für die Lehre und die im Fach so hoch geschätzte studentische Forschung.