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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Südtiroler Landesarchiv/Verband Südtiroler Musikkapellen (Hg.)

In Treue fest durch die Systeme. Geschichte der Südtiroler Blasmusik 1918–1948

(Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs, Sonderbd. 6), Innsbruck 2021, Universitätsverlag Wagner, 858 S. m. Abb., ISBN 978-3-7030-6551-4


Rezensiert von Heidi Christ
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

Gewichtig liegt die Monografie auf dem Schreibtisch, vereinigt sie doch alle Ergebnisse zum Forschungsprojekt „Die Geschichte der Südtiroler Blasmusik von 1918–1948“. Diese entfaltet Hubert Mock in sechs Kapiteln auf 450 Seiten; der Band wird abgerundet mit Beiträgen zu Definitionen und Geschichte des Blasmusik-Begriffes (Achim Hofer), zu (Blas-)Musik und kultureller Identität in Tirol während der NS-Zeit (Kurt Drexel), zum musikalischen Repertoire der Südtiroler Blaskapellen sowie den Blasmusikforschungen der Südtiroler Kulturkommission des SS-Ahnenerbes (Thomas Nussbaumer) und zur Beziehung zwischen Blasmusik und Tracht (Reinhard Bodner). Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Register zu Personen und Orten, geografischen Bezeichnungen und Blasmusikformationen komplettieren das Werk.

Südtirol – der Kurzname der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol im Norden Italiens klingt nach Äpfeln und Wein, nach Skifahren und Bergsteigen, nach Blaskapellen in malerischen Trachten. Und nach dem Mythos vom wehrhaften Bergvolk, das mit dem Passeirer Sandwirt Andreas Hofer Napoleon trotzte und bis heute unter der aus dem Ersten Weltkrieg resultierenden Abtrennung von Österreich leidet. Wohl deswegen beruft sich Hubert Mock in seinem Einleitungstext (14–30) explizit auf den Begriff des kollektiven Gedächtnisses nach Jan und Aleida Assmann. Es soll Bindungen innerhalb einer Gruppe fördern und zu einer „Wir-Identität“ beitragen, indem sich Institutionen und Körperschaften mit Hilfe memorialer Zeichen und Symbole ein Gedächtnis konstruieren und damit von anderen Gedächtniskonstruktionen absondern. Musik, so Mock, werde „eine wichtige Funktion im individuellen wie im kollektiven Gedächtnis zugeschrieben“ (17), ihre „Funktion […] als effizienter Erinnerungstrigger scheint unbestritten“ (ebd.). Die mittels Musik ausübbare Kommunikation könne ihre emotionale und suggestive Wirkung nur entfalten, wenn sie in einem kulturell definierten Kommunikationsraum stattfinde. Den im Fokus der Untersuchung stehenden Südtiroler Musikkapellen mit ihrem breiten Funktionsprofil in ziviler und religiöser Festkultur, ihrem (anscheinend) von jeher traditionsverbundenen Wertekanon und ihrer sozialen Bindungsfähigkeit misst er eine hohe Wirkmächtigkeit bezüglich des kollektiven Gedächtnisses zu, die es unter Berücksichtigung des dialektischen, interessengeleiteten Verhältnisses zu den jeweiligen Herrschaftsformen zu betrachten gelte. Rund 175 zivile, vereinsmäßig organisierte Blasmusikformationen konnten für den Untersuchungszeitraum 1918 bis 1948 ausgemacht werden, nach zwei Fragebogenaktionen konnten 2014 von etwa hundert Kapellen Reproduktionen relevanter Dokumente – „vom Foto bis zur umfangreichen Vereinschronik“ (22) – erstellt werden, die ergänzt durch Quellenbestände aus regionalen und staatlichen Archiven, Verbands-, Einrichtungs- und Organisationsarchiven sowie von Vereinsfestschriften und zeitgenössischen Printmedien die Primärquellen bilden. Mock summiert: „Die vorliegende Publikation ist der Versuch, auf der Basis des verfügbaren und ausgewählten Quellenmaterials auf zeitgeschichtlicher, musikgeschichtlicher und ethnographischer Ebene zentrale Entwicklungslinien des Südtiroler Blasmusikwesens im Projektzeitraum aufzuzeigen, das Verhältnis zwischen den Musikkapellen und den jeweiligen Regierungen bzw. Regimen darzustellen und die Rolle der Musikkapellen für das kollektive Bewusstsein in Südtirol zu beleuchten.“ (28) Die soziale Zusammensetzung von Musikkapellen und regional unterschiedliche Entwicklungen blieben einstweilen Desiderate.

Nicht was „Blasmusik“ sei, sondern was unter dem Begriff verstanden werde, sei im Interesse der Blasmusik und ihrer Protagonisten von Relevanz, erläutert Achim Hofer in seinem Beitrag „Von der ‚Macht eingebürgerter Begriffe‘: Blasmusik – Gegenstand und Geschichte“ (31–52). „Alle heutigen Verstehensweisen verbindet, dass sie geschichtlichen Ursprungs sind. […] die Hauptzüge innerhalb des deutsch-österreichisch-tirolischen Raumes [unterscheiden] sich nur unwesentlich.“ (33) Der Grund für die Bildung einer Musikkapelle sei das „Bedürfnis nach einer im Freien kräftig wirkenden Marschmusik […], die sowohl bei Prozessionen als auch bei den häufigen patriotischen Feiern und den Besuchen der Mitglieder des Kaiserhauses zusammen mit den Schützen der Sache Ansehen verlieh“ (35). Die Hauptzüge der historischen Entwicklung ließen sich mit den Schlagworten Harmoniemusik, Türkische Musik und Militärmusik abstecken. Allen Bläserbesetzungen fehlten vor allem anspruchsvolle Originalkompositionen, sie musizierten zumeist Bearbeitungen von Orchestermusik, weshalb ihnen gemeinhin der künstlerische Rang abgesprochen wurde. Gleichwohl gelang es ihnen, auch Jenen Zugang zu Kunstmusik zu verschaffen, die sonst nicht mit ihr in Berührung gekommen wären. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts habe sich der Besetzungsbegriff hin zu „Blasmusik“ etabliert, das Repertoire jedoch blieb. Verstärkt sei diese Entwicklung durch den Aufschwung des zivilen Blasmusikwesens und des daraus entstehenden Bedarfs an gedruckter Notenliteratur geworden. Peu à peu seien nun auch Originalwerke entstanden, die die so benannte „Sinfonische Blasmusik“ beflügelt hätten, für die zivilen, häufig dilettantischen Blaskapellen aber aufgrund unzureichender Besetzung und nicht ausreichender musikalischer Fähigkeiten nicht spielbar gewesen seien. In der Folge hätten sich zwei Bereiche gebildet: der professionelle Bereich mit überregionalen Projekt- und Landesblasorchestern sowie Konservatorien-Ensembles, die primär Konzerte spielten, und der Amateurbereich, der alltägliche Anforderungen bediente. Letzterer sei nach 1945 in seiner gesellschaftlichen Wirkung stark beeinträchtigt worden durch eine Betonung der in wertkonservativer Gemeinschaft angeblich „reinigenden“ Kraft gegenüber vermeintlich schlechter (moderner) Einflüsse auf die Jugend. „Eine ‚Verteidigung‘ der funktionalen, traditionellen Blasmusik durch ihre ideologische Überhöhung schadet ihr mehr als sie ihr nützt; denn sie bleibt […] nicht bei ihren Leisten. Die ‚einfache‘ Blasmusik hat es nicht nötig, gegenüber der ‚hohen Kunst‘ damit verteidigt zu werden, dass sie Vorzüge habe, die jene nicht hat. Und natürlich spielt Blasmusik im Gemeinschaftsleben eine Rolle, und es muss auch nicht anrüchig sein, wenn sie identitätsstiftend wirkt (beides macht und machte sie allerdings anfällig für Ideologien jedweder Couleur). Es ist aber etwas Anderes, ob solche Funktionen einfach gelebt werden oder ob man sie zu einem Programm erhebt, das sie zu ihren Hauptaufgaben hochstuft bis hin zur Abschottung von ‚geistig Heimatlosen‘.“ (49) Schlussendlich sei, so die persönliche Meinung Hofers, wünschenswert anzuerkennen, „dass ‚Blasmusik‘ mehr ist als Musik, nämlich Mittel zur Gestaltung sozialen und musikkulturellen Lebens, [denn dann] ist weder das eine noch das andere die ‚wahre‘ Blasmusik“ (51).

Projekte, Tagungen und Ausstellungen ab den 2010er Jahren zur Musikverwendung im Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit in Tirol seien auf breites Interesse gestoßen und hätten in der Folge „die NS-Geschichte der Tiroler Blasmusik und ihre[r] Protagonisten, insbesondere [des] ehemalige[n] Gaumusikleiters Sepp Tanzer sowie [des] aus Sterzing stammende[n] Komponist[en] Josef Eduard Ploner, zunehmend in den Blickwinkel der öffentlichen Wahrnehmung“ (57) getragen, berichtet Kurt Drexel im Beitrag „Musik – Politik – Macht. Macht Musik Politik? Überlegungen zur (Blas-)Musik als Trägerin kultureller Identität im politischen Kontext am Beispiel Tirols in der NS-Zeit“ (53–71). Besonders das Lied „Hellau! Miar sein Tirolerbuam“, das in die NS-Feiergestaltung integriert, als Titel für das von Ploner erstellte Gauliederbuch instrumentalisiert und in der SS-Ahnenerbe-Arbeit von Alfred Quellmalz missbraucht wurde, sowie insbesondere Tanzers – dem Gauleiter von Tirol Franz Hofer gewidmete – „Standschützenmarsch“ von 1942, der das Lied im Trio verwendet, belegten, wie Blasmusik in der NS-Zeit in Tirol mehrfach als Ausdruck des „Wehrwillens“ und der „Wehrhaftigkeit“ in Einklang mit der NS-Definition des Tiroler „Wehrbauernstammes“ vereinnahmt worden sei. Während das Lied nach 1945 aus den Liederbüchern verschwunden sei, sei es im Trio des Marsches stillschweigend erhalten geblieben. Dass diese Zusammenhänge in der Nachkriegszeit ausgeblendet und unbewusst geblieben seien, hänge mit dem Führungspersonal der Tiroler Blasmusik zusammen: Das „Sepp-Kleeblatt“ oder der sogenannte „Tiroler Kreis“ aus Sepp Tanzer, Sepp Thaler und Josef Eduard „Sepp“ Ploner blieb unter Aussparungen historischer Kontexte und „Schönfärbung“ von Biografien ununterbrochen in Tätigkeit an herausragender Position. „Diese Art der Manipulation des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ im Verbund mit der Nichtaufarbeitung des völkisch-nazistischen Erbes ist als wesentliche Komponente einer identitätspolitischen Propaganda zu sehen, die etwa im Sozialisierungsprozess von Jugendlichen eine prägende Rolle einnehmen kann.“ (69) Mit der öffentlichen Darbietung des „Standschützenmarsches“ beim Oktoberfestzug in München 2017 und der Berichterstattung hierüber habe die Diskussion über die Verbindung zwischen (Blas-)Musik und NS-Ideologie neue Fahrt aufgenommen. Drexel beschreibt, dass kritische Reflexion und Verständnis von Traditionsbildung innerhalb der Tiroler Blasmusikszene als offener und dynamischer Prozess zunehmend an Platz gewönnen. Darüber hinaus sorgten eine sich stetig verbessernde Quellenlage und eine zunehmende allgemeine Sensibilisierung für historische Kontinuitäten für eine neue Dynamik in der Aufarbeitung, ohne die Blasmusik verallgemeinernd in die „rechte Ecke“ zu stellen.

Unvermittelt geht Hubert Mock zu Beginn des Hauptartikels „Brückenköpfe der Identität. Zur Geschichte der Südtiroler Musikkapellen 1918–1948“ (73–524) in medias res. Die „Jahrhundertfeier“ am 28. und 29. August 1909 in Erinnerung an den Tiroler Volksaufstand gegen die bayerische Besatzungsmacht während des Fünften Koalitionskrieges unter maßgeblicher Führung Andreas Hofers von 1809 mit der Erneuerung des Herz-Jesu-Bundes und des Treueschwurs zum Haus Habsburg sei als Vergegenwärtigung des Tiroler „Heldentums“ inklusive jeder damals betriebenen Geschichtsklitterung in das kollektive Gedächtnis aller Tiroler eingegangen. Unter den rund 33 000 Teilnehmern des Festzuges hätten sich mit 159 Musikkapellen rund die Hälfte der Musikkapellen im damaligen Kronland Tirol-Vorarlberg befunden und damit zur Entstehung dieses kollektiven Gedächtnisses beigetragen. Die Beweggründe zur Teilnahme der Musikkapellen blieben gleichwohl im Dunkel, denkbar seien Kaisertreue, Nationalstolz sowie die Attraktion der Feier generell; als Nachwirkungen ließen sich Fotografien, Erzählungen und eigens angeschaffte Vereinstrachten ausmachen. Zur Gründung und Tätigkeit speziell Südtiroler Musikkapellen merkt Mock dieselben Argumente wie schon vorher Hofer an, soziale Ursachen hätten wohl den Ausschlag zur Mitgliedschaft in den – unabhängig von der Größe der Ortschaft jeweils ca. 30 Mann starken Kapellen – gegeben, „und zwar in erster Linie der Umstand, dass die Mitgliedschaft in der Kapelle wohl eine der wenigen tolerierten Möglichkeiten war, aus einem vielfach eintönigen, beengten und fremdbestimmten Alltag auszubrechen und in einem männerbündischen Kontext Momente persönlicher Freiheit zu erleben“ (92). Die häufig durch Heischen und Konzerttätigkeit finanzierten Musikkapellen hätten sich weitgehend in kleinem Radius bewegt, über niedriges musikalisches Niveau verfügt und vor allem kirchliche und zivile Feste und Feiern ausgestaltet. Nationalistisches Gedankengut und nationalistische Sprache, begründet in den drei Ebenen Tiroler Identität (Tiroler Nation, Habsburger Identität, Vaterländisch-Deutsche Identität) seien auch innerhalb der Musikkapellen weitestgehend zur gängigen Haltung und kulturellen Praxis geworden. Auf das Attentat auf den Habsburger Thronfolger Franz Ferdinand reagierten die Kapellen unterschiedlich, führten entweder ihre zum Zeitpunkt der Information stattfindenden Konzerte unbeeinträchtigt zu Ende oder brachen sie ab. Die Mobilmachung dagegen habe Kriegseuphorie ausgelöst und zu Musiziergelegenheiten geführt, Einberufene hätte mancherorts bis zur „Einwagonierung“ selbst mitgespielt und ihre Instrumente erst direkt am Zug an die Kapelle abgegeben. Die Wirkung der Blasmusik in diesem Zusammenhang beschreibt Mock folgendermaßen: „Ihr Spiel trug wesentlich zur massenpsychologisch wirksamen, gemeinschaftsbildenden Emotionalisierung der Menschen bei. Zugleich brachte ihr Programm österreichischer und deutscher Märsche mit ihren dynastischen, nationalen und martialischen Bezügen den Zweck zum Ausdruck, den sämtliche ‚patriotischen‘ Veranstaltungen aus der Sicht der Kriegsbefürworter erfüllen sollten: Bei der Bevölkerung den Sinn für den Krieg zu stiften und damit die Akzeptanz für dessen Folgen zu steigern.“ (109) Wie überall traf der Erste Weltkrieg auch in Südtirol die Blaskapellen in unterschiedlicher Intensität. Während mancherorts „Restbesetzungen“ zur Aufrechterhaltung kirchlicher Dienste spielfähig geblieben beziehungsweise unter Heranziehung nicht kriegsfähiger Musikanten geschaffen worden seien, habe es Kapellen gegeben, die ihre musikalischen Tätigkeiten komplett  einstellen mussten, zum Teil haben sie auch sämtliche Mitglieder im Krieg verloren.

Nach dem Waffenstillstand besetzte Italien gemäß dem Londoner Geheimvertrag (1915) den südlichen Teil Tirols bis zum Brennerpass. Mit der beginnenden Italianisierung sei das Deutsch-Bewusstsein der Südtiroler Bevölkerung in die Minderheitenposition gedrängt worden, es sei ein Opfernarrativ entstanden, dem zufolge man die eigenen kollektiven Erinnerungen nicht mit dem italienischen Volk teilen konnte und wollte. Die kollektive Südtiroler Identität müsse neu verortet und verankert werden, lassen sich Mocks „Anmerkungen zur kollektiven Identität der Südtiroler in der neuen Provinz“ zusammenfassen. Bereits wenige Wochen nach dem Waffenstillstand von Villa Giusti am 3. November 1918 seien die ersten Musikkapellen wieder aktiv gewesen; von 68, die ihre Aktivitäten kriegsbedingt eingestellt hatten, gäben 51 als Wiederaufnahmejahr 1919 und als Motivation hierzu die Pflege von Geselligkeit sowie die Gestaltung ziviler und kirchlicher Feste an. Insgesamt konstatiert Mock anhand ökonomischer Angaben und zunehmender Musiziergelegenheiten eine steigende gesellschaftliche Bedeutung der Musikkapellen. „Die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit und die Wertschätzung für Blasmusikvereine lassen vermuten, dass diesen Vereinen im Rahmen der gesellschaftlich-nationalen Wahrnehmung und Befindlichkeiten infolge von Besetzung und Annexion von der Südtiroler Bevölkerung und von den Gemeinden eine besondere Identitätsrelevanz zugesprochen wurde.“ (149) Die Musikkapellen lieferten für Kundgebungen im Rahmen der Autonomiepolitik eine „symbolträchtige, deutsch-patriotische Klangkulisse für diverse Reden [im] Kampf um unsere deutsche Heimat, [gegen die] welschen Signori“ (150), die Wiederauflage des Herz-Jesu-Festes 1920 habe jedoch kaum Widerhall in zeitgenössischen und späteren Vereinsquellen gefunden und sei deshalb für die kollektive Erinnerung nicht wichtig genug gewesen. Als „besondere[n] Fall von politischer Kontextualisierung von Musikkapellen“ (155) stuft Mock die Ermordung des Marlinger Lehrers und Musikanten Franz Innerhofer während des Festzugs zur Bozener Messe am 24. April 1921 ein. Sein Schicksal sei politisiert und er zum „Helden des Deutschtums“ (157) stilisiert, seine Beisetzung als „erinnerungsmächtige deutsch-patriotische Demonstration inszeniert“ (158) worden. „Wie bei anderen Gelegenheiten trugen sie [die Musikkapellen] mit ihren Auftritten und ihrem Spiel zur Emotionalisierung der Anwesenden und damit zur Steigerung der Erinnerungsmächtigkeit der Ereignisse sowie letztlich zur politischen Konsensbildung bei. Sie taten dies gewiss nicht mit der Intention, explizit einen politischen Akt zu setzen, sondern in der Absicht einer patriotisch-nationalen Demonstration im Sinne des hergebrachten kollektiven Bewusstseins und blasmusikalischer Tradition.“ (161) Die Stiftung von – später als unbrauchbar identifizierten – Musikinstrumenten und Noten zum „patriotischen Zwecke der Bildung einer Südtiroler Nationalkapelle“ (164) durch das Offizierskorps des ehemals in Bozen stationierten 2. Regiments der Tiroler Jäger („Kaiserjäger“) habe dagegen als Mittel zur Austragung eines Konflikts zwischen zwei deutschnationalen Parteien in Südtirol gedient.

Mit der Berufung Mussolinis zum Ministerpräsidenten im Oktober 1922 begann schnell eine verschärfte Repressionspolitik gegenüber der Südtiroler Bevölkerung. Die schwache Administration der Faschisten habe jedoch die sozial gewachsenen Strukturen nicht zerstören können, die Amtsführung sei als Willkür und Misswirtschaft erlebt und von der Bevölkerung abgelehnt worden, wohingegen nicht zuletzt mit der Saar-Abstimmung 1935 und dem Anschluss Österreichs an Hitlers „Drittes Reich“ 1938 Sympathien für das Deutsche Reich gewachsen seien. Das Verhältnis der Südtiroler zum italienischen Faschismus beschreibt Mock im breiten Spektrum „von offenkundiger oder versteckter Kollaboration, opportunistischer Akzeptanz, resignativer Hinnahme, Resistenz, geistig-ideologischer Opposition bis zu offener Ablehnung und Widerstand“ (174). Die individuelle Wahrnehmung kann demnach konträr zur kollektiven Wahrnehmung stehen und es verwundert nicht, dass entsprechende disparate Feststellungen auch bei den Musikkapellen zu konstatieren sind. Die „inni nazionali“, namentlich die „Marcia Reale“ und die faschistische Hymne „Giovinezza“ zum Beispiel erscheinen neu im Repertoire der Musikkapellen. Nach Mock sei nach wie vor unklar, ob ihr Spielen politisch gefordert oder in präventiver Anpassung erfolgte, ob insgesamt die Teilnahme der Musikkapellen „an der nationalen und faschistischen Festkultur als Zustimmung zum Staat, zur faschistischen Regierung und damit letztlich als Zustimmung zur eigenen Assimilierung zu interpretieren und propagandistisch zu verwerten“ sei oder das „Auftreten in Tracht bei offiziellen Anlässen einen Akt der Resistenz, der Selbstbehauptung oder der Normalität“ (196) darstelle. Nach Stefan Lechner sei auch zu überlegen, ob dem Tragen der Tracht aus der Sicht der Machthaber „die Funktion eines Unterwerfungsrituals“ (ebd.) zugeschrieben werden könne. Weiter arbeitet Mock die zumindest auf dem Papier zunehmenden Repressionen gegenüber den Blaskapellen ab, die den lokalen Verwaltungsapparaten die Überwachung der Kapellen, einzelner Mitglieder, ihres Repertoires, ihrer Programme und Spielgelegenheiten bis hin zur behördlichen Auflösung einzelner Kapellen ermöglichen hätten sollen. Dabei werden auch die wenig effektiven Rollen der „Opera Nazionale Dopolavoro“ (OND) und der „Societá Italiana degli Autori ed Editori“ (SCIAE) und der politische Tourismus beleuchtet, die der faschistischen Entnationalisierungspolitik zuträglich hätten sein sollen. Im Vergleich mit den anschließend aus der Perspektive der Südtiroler Musikkapellen verhandelten Themen wird erneut deutlich, dass sowohl die Machthaber – deren Gründe Mock „irgendwo zwischen Defizit und Kalkül“ verortet, zweier „wiederkehrender Kernelemente […] faschistischer Herrschaftspraxis“ (296) – als auch die Blaskapellen zwischen Zustimmung und Ablehnung, gewissenhafter Ausführung, listiger Umgehung oder unzureichender Erledigung von Vorschriften agieren. Bemerkenswert direkt an dieser Stelle ist der Hinweis auf die Relevanz eines nicht verifizierbaren „Dekrets“ vom 2. Juli 1935 zur angeblich flächendeckenden behördlichen Vereinsauflösung, das der Musikwissenschaftler Egg 1979 in die wissenschaftliche Diskussion einführte und welches bis dato vor allem innerhalb der Musikkapellen unreflektiert mit dem Opfernarrativ tradiert wurde: „Jedenfalls hat seine nicht belegte und historisch nicht zutreffende Behauptung jahrzehntelang das Bild der Südtiroler Musikkapellen unter dem Faschismus mitgeprägt, ohne dass sie jemals verifiziert worden wäre. Die Macht der gängigen Geschichtsbilder über jene Zeit verlieh Eggs Diktum offenbar a priori den Schein der Wahrheit.“ (325)

Als „radikale und freundschaftliche Lösung“ (378) schien sich die Umsiedlung der Südtiroler Bevölkerung anzubieten, bei der Mussolini unbeliebte Irredentisten aus dem Alto Adige loswürde, die Hitler wiederum Arbeitskraft, Vermögen und Siedler für den sogenannten „Lebensraum im Osten“ böten. Für die Südtiroler bedeutete sie jedoch die ultimative Wahl zwischen zwei Heimatkonzepten: der realen Heimat mit sozialen Bindungen und eigenem Besitz ohne Minderheitenschutz gegenüber einer ideologisch konstruierten Heimat einer „Volksgemeinschaft“ jenseits italienischer Herrschaft. Die unhistorische, aber wirkmächtige „deutsche Heimat“ Südtirol ginge bei jeder Entscheidung definitiv verloren. 86% der Optionsberechtigten hätten sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1939 für die Aussiedlung entschieden, die ihnen auch den Erhalt sozialer Bindungen und eigenen neuen Besitz in der Ankunftsregion zu sichern versprach. Die Musikkapellen seien in die bürokratischen Mühlen der 1939 eingerichteten „Amtlichen deutschen Ein- und Rückwanderungsstelle“ und der 1940 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland“ (ADO) sowie auch in Konflikt mit der OND geraten. Sie hätten für NS-Veranstaltungen musiziert, sich an der Volkstums-Kultur-Arbeit der Nationalsozialisten beteiligt und Auftrittsverbote bis hin zur Beschlagnahmung von Eigentum und Inventar seitens der OND erfahren. Innerhalb der Kapellen habe sich dasselbe Bild wie in der gesamten Südtiroler Gesellschaft gezeigt, die Spaltung habe bis in Familien hineingereicht, zum Ausscheiden der jeweiligen Minderheit – meist der sogenannten „Dableiber“ – aus der Kapelle, zur Spaltung in zwei Ensembles bis zur Auflösung der Kapelle geführt, wobei das Vermögen zwischen den Mitgliedern aufgeteilt, Kleidung und Instrumente aus Vereinsbesitz auf einzelne Musikanten übertragen werden konnte. Auch finden sich Fälle, wo die gesamte Kapelle zu den sogenannten „Optanten“ gezählt habe und geschlossen in der neuen Heimat weitermachen wollte. Die politischen Interessen und ideologischen Motive des 1938 in Tirol gegründeten Standschützenverbandes als Verein „zur Erhaltung des Brauchtums und [der] damit in Tirol verbundenen Pflege der Wehrhaftigkeit“ (418) und der damit einhergehenden Mutation des „glaubenstreue[n] Passeirer Wirt[s; d.i. Andreas Hofer] in krasser Umdeutung historischer Fakten zu einer religionsbefreiten Lichtgestalt der deutschen Nation“ (421) mit Angliederung der Musikkapellen sei 1943 auch auf Südtirol übertragen worden. Während zum Südtiroler Standschützenverband nahezu keine Quellen vorhanden beziehungsweise zugänglich sind, kann Mock die Person und Funktion des Musikreferenten und Komponisten des Standschützenmarsches Sepp Thaler (1901–1982) für den Untersuchungszeitraum nachzeichnen. Die kulturpolitischen Aktivitäten des Standschützenverbands Südtirol seien ab Herbst 1944 sukzessive eingestellt worden, da war Südtirol längst mit den Provinzen Trentino und Belluno zur „Operationszone Alpenvorland“ unter Franz Hofer, dem Reichsstatthalter und Gauleiter von Tirol-Vorarlberg, beziehungsweise seinem Nachfolger Karl Tinzl deklariert und der Schwerpunkt der Spielgelegenheiten der Musikkapellen auf Heldengedenk- und andere NS-Feiern verschoben worden. Mock fasst zusammen: „Aus der Sicht der Musikkapellen stellt sich die Frage, inwieweit ihre Teilnahme an der NS-Festkultur freiwillig, d. h. auf eigene Entscheidung hin erfolgte bzw. wie sie diese Auftritte selbst wahrnahmen. Die hier aufgeführten Beispiele […] lassen vermuten, dass von einer objektiv freien Gestaltung des musikalischen Vereinslebens unter den Bedingungen nationalsozialistischer Herrschaft kaum mehr die Rede sein konnte; dagegen wird allenthalben die politische Vereinnahmung der Vereine evident. Andererseits dürfte es auch keines besonderen Drucks bedurft haben, um die Teilnahme an NS-Veranstaltungen zu erreichen; ebensowenig konnten Fälle von Widerstand gegen die eigene Instrumentalisierung gefunden werden.“ (464), Die NS-Zeit sei dennoch lange als Befreiung aus dem italienischen Faschismus erinnert worden, weshalb historisch fragwürdige bis falsche Aussagen hierüber nach wie vor kritiklos in Festschriften übernommen und tradiert würden.

Rund 50 Blaskapellen hätten 1945, teils wenige Wochen nach Kriegsende, ihre musikalischen Aktivitäten meist anlässlich kirchlicher Feiern und oft nur in notdürftiger Besetzung wiederaufgenommen. „Nach der Spaltung der Südtiroler Gesellschaft durch die Option, nach dem Zusammenbruch der reichsdeutschen bzw. der österreichischen Perspektive in Bezug auf künftige territoriale Zugehörigkeit des Landes und den aus diesen Ereignissen und Erlebnissen resultierenden massiven Erschütterungen des kollektiven Bewusstseins dürfte Blasmusik zunächst in geringerem Maß als identitätsstiftendes Medium wahrgenommen worden sein. Dazu kam wohl, dass mittlerweile gestiegene musikalische Ansprüche die Vereine von zu frühen öffentlichen Auftritten abhielten“ (475), resümiert Mock, auch ohne für Letzteres Belege zu nennen. 1946 sei die Wiederaufnahme des Herz-Jesu-Festes unter starker Beteiligung der Musikkapellen unter deutlicher Anknüpfung an die Feste vor 1918 erfolgt, mit der „Chance zu einem Abgrenzungsnarrativ vom Nationalsozialismus und zugleich [der] Möglichkeit zur Einhegung ehemaliger Nationalsozialisten auf der Basis einer gemeinsamen katholisch-patriotischen Prägung. Zugleich zelebrierte die opulente Feier zentrale tirolisch-österreichische Identität, derer sich die zahlreichen Teilnehmer kollektiv vergewissern konnten und die sich dadurch in der Bevölkerung reproduzierte.“ (484 f.) Jedoch habe auch in Südtirol kein substanzieller Elitenwechsel stattgefunden, wie Mock an der Person des Kulturfunktionärs Hans Nagele (1911–1974) darstellt: Der ehemalige NS-Trachtenfunktionär, der Bezirks- und Taltrachten als „nationales Kampfmedium“ bei Musikkapellen hatte durchsetzen wollen, war 1948 maßgeblich an der Gründung des Verbandes Südtiroler Musikkapellen beteiligt, welcher den Zweck verfolgte, „jede mögliche finanzielle wie ideelle Hilfe zu bringen […], gute Musik zu fördern, seichte und Schlagermusik hingegen zu verdrängen“ (491), und arbeitete gleichzeitig „früh und mit Nachdruck auf die Öffnung des Verbandes hin und knüpfte zahlreiche Kontakte mit ausländischen Blasmusikorganisationen“ (501). Mit der Gründung des Verbandes hätten sich die Musikkapellen zunehmend Satzungen gegeben, einige seien in organisatorische Selbstständigkeit gestartet, ihr Mobilitätsradius habe sich vergrößert. Im Zuge der endlich auch in Südtirol erfolgenden Umstellung von der „Wienerstimmung“ auf die um einen Halbton tiefere Normalstimmung sei die Neubeschaffung von Instrumenten nötig geworden. Die Musikkapellen seien als musikalische Unterhalter und Werbeträger für den Fremdenverkehr „funktionalisiert“ worden (516) und hätten in diesem Zusammenhang oft neue Vereinstrachten angeschafft, deren Konzepte wiederum aus der NS-Zeit stammten. „Die explizit-nationale Perspektive [ist] mittlerweile aus den Stellungnahmen von Politikern zur Blasmusik verschwunden, deren identitätsstiftender Charakter [wird] aber nach wie vor betont“ (523) schließt Mock das Kapitel und resümiert: „die Südtiroler Musikkapellen [marschierten] mit ihrem traditionellen ‚kakanischen‘ Repertoire gleichsam durch alle politischen Systeme, die sich im Land südlich des Brenners in den Jahrzehnten zwischen 1900 und 1950 ablösten. Sie taten dies als Klangkörper und als Repräsentanten des ‚Tirolertums‘ in seinen jeweiligen Ausformungen: Sie marschierten sozusagen In Treue fest, wenngleich sich das Objekt der Treue im Laufe der Zeit in seiner ideologischen Gestalt veränderte. […] Letztendlich geht es bei Musikkapellen – wie im Prinzip bei jeder Kulturpraxis im öffentlichen Raum – nie nur um Musik, vielmehr weisen ihre Entstehung und ihre Tätigkeit immer auch eine vielschichtige gesellschaftliche und eine im weiteren Sinn politische Dimension auf. Dies verschleiern oder leugnen zu wollen, würde im Ansatz bedeuten, einer ‚Politik der unpolitischen Musik‘ zu folgen.“ (542)

„Das musikalische Repertoire der Südtiroler Blaskapellen im Wandel der politischen Systemen 1918–1948“ hat Thomas Nussbaumer untersucht (526–617). Bezüglich der Versuche der Italianisierung der Blasmusik durch faschistische Behörden in Form der von Mock bereits dargelegten faschistischen Vorschriften über Programmmeldungen, anteilig bestimmt darzubietender italienischer Kompositionen und eines Verbots gewisser „inni nazionali o marcie militari tedesche ed austriache“ (529) stellt er fest: Eine spezifische Auflistung der zu eliminierenden nationalen Hymnen und österreichischen Militärmärsche habe es nie gegeben, den behördlichen Inspektoren habe es – zusätzlich zu sprachlichen Barrieren – weitgehend an Kenntnissen des landesüblichen Blasmusikrepertoires gefehlt und darüber hinaus sei auch davon auszugehen, „dass zahlreiche Marschbücher rechtzeitig vor der Inspektion versteckt wurden“ (530). So erkläre sich auch, weshalb der Andreas-Hofer-Marsch von Gustav Mahr – dessen Trio in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Publikum mitgesungen wurde – und das Herz-Jesu-Lied „Auf zum Schwur, Tiroler Land“ zwar zum Ausdruck des Protests und zivilen Ungehorsams werden konnten, eine Ahndung jedoch nur erfolgte, wenn der Kontext auffällig genug war und die Kontrollbehörden die Titel am Klang erkannten. Anders als häufig kolportiert, sei „kein Fall bekannt, in dem eine Kapelle bestraft wurde, weil sie zu wenige italienische Stücke gespielt hatte“ (541), ebenso wenig sei aus den Vereinsdokumenten ein Repertoirewandel im Sinne der Machthaber nachvollziehbar und es zeige die „bei weitem überwiegende Mehrzahl der erhaltenen Marschbücher […] weder Überklebungen, noch Umbenennungen, Beschneidungen oder reine Nummernbezeichnungen“ (547). Die erfolg- und wirkungslosen Vorgaben hätten sich jedoch in der kollektiven Erinnerung verfestigt und im „Narrativ von der kompletten Italianisierung der Südtiroler Blasmusik im Faschismus“ (ebd.) gemündet. Faschistische Titel, insbesondere die inni nazionali (Marcia Reale, Giovinezza, Piavelied), konnte Nussbaumer in den zur Verfügung stehenden Musikalien neben k. u. k. Märschen finden und bei Betrachtung der Programme feststellen, dass sie – anders als im Narrativ tradiert – nicht immer am Anfang oder Ende standen, in der Presse jedoch – im Gegensatz zu den übrigen Titeln – häufig nennenswert erschienen. „Festzustellen ist, dass die Art und Weise der politisch-repräsentativen Feste und damit der Anlässe, zu denen die ‚Marcia Reale‘und die ‚Giovinezza‘ zu spielen waren, vielfältiger wurden, je länger die faschistische Herrschaft andauerte.“ (567) Die Verweigerungsstrategien der Musikkapellen – Nicht-Erscheinen zu nationalen Ausrückungen, Weigerung, die Hymne zu spielen, und Sabotage eigener Auftritte, indem die Musikdarbietung ins Lächerliche oder Skurrile gezogen wurde, hätten „Konsequenzen bis hin zur behördlichen Auflösung des Musikvereins nach sich ziehen“ können (573). Abgesehen von durchaus bemerkenswerten Belegen solcher Praktiken sei davon auszugehen, dass die überaus große Mehrheit der Musikkapellen „ohne Wenn und Aber“ (575) entsprechende Spielgelegenheiten wahrgenommen und dabei – wie im Fallbeispiel der Bürgerkapelle Latsch dargestellt – neben den geforderten inni nazionale unbeanstandet ihr übliches Repertoire gespielt habe. Die Auswertung der vorliegenden Marschbücher und Notensammlungen nach darin aufscheinenden Komponisten ergab nach Nussbaumer eine „Vorbildwirkung der altösterreichischen Militärmusik insbesondere für die Entwicklung der Blasmusik in Tirol und Südtirol“ (588) und damit korrespondierend eine Schlüsselrolle in den Besetzungen für weit mensuriertes Blech. Die ausgewerteten Konzertprogramme für die Zwischenkriegszeit spiegeln das seit dem 19. Jahrhundert sich herausbildende internationale Repertoire, insbesondere Bearbeitungen berühmter italienischer, französischer und deutscher Opern sowie konzertante Tanzmusik wider. In den bis in jüngere Vergangenheit entstandenen Festschriften erkennt Nussbaumer „bedenkliche, nämlich völlig entkontextualisierte“ (601) Darstellungen der Kapellenchroniken bezüglich der Phase der Operationszone Alpenvorland, denen „der wichtige Hinweis darauf [fehlt], dass es den Nationalsozialisten mitnichten um eine unpolitische Volkskulturpflege ging, sondern um ihre Instrumentalisierung für Propaganda- und Kriegszwecke. Der angebliche Aufschwung des Blasmusikwesens erfolgte nicht auf Initiative musikliebender Privatpersonen, sondern auf Anordnung und mit Kalkül von Innsbruck aus.“ (602) Richtigerweise benennt er die von Mock als „Angliederung der Musikkapellen an den Standschützenverband“ beschriebene Maßnahme als Gleichschaltung. Mit den Erfordernissen der NS-Ideologie hätten die sogenannten „Lieder der Nation“ (Deutschland-Lied, Horst-Wessel-Lied) die inni nazionali abgelöst, die „meist auf ein Quartett oder Sextett geschrumpften Standschützen-Musikkapellen“ (613) spielten fortan das Lied vom „Guten Kamerad“ bei Heldengedenken. „Auch in der Südtiroler Blasmusik gab es nach dem Zweiten Weltkrieg keine Stunde Null, es ging weiter, aber unter veränderten Vorzeichen“ (614); Rituale, Symbole und Repertoire hätten sich kaum gewandelt, konstatiert Nussbaumer. Der Andreas-Hofer-Marsch verkörpere „das durch alle Systeme gleichermaßen gültige Bekenntnis zum Deutsch-Tirolertum“ (615).

Besonderes Augenmerk legt Nussbaumer in einem weiteren Beitrag auf „Die Blasmusikforschung der Südtiroler Kulturkommission des SS-Ahnenerbes (1940–1942)“ (619–638). Die „Gruppe Volksmusik“ in der kurz „SS-Ahnenerbe“ genannten Kommission unter Leitung von Alfred Quellmalz erstellte 1940 bis 1942 unter der Aufgabenstellung alle Kulturobjekte der Optanten zu erfassen und ins Deutsche Reich zu überstellen „183 Magnetophon-Tonaufnahmen von sogenannten Böhmischen, also kleinen Bläsergruppen“ (619). Quellmalz, der sich zwischen Optanten und Dableibern neutral verhalten habe, habe seine Gewährsleute nach „gewissenhaften, wenig Spontaneität ermöglichenden Vorbereitungen“ (623) aufgenommen. Musikkapellen seien für ihn nur insofern von Bedeutung gewesen, als aus ihnen die vielen kleinen Ensembles hervorgingen, in denen er die Überlieferungsträger der „älteren Tanzmusik“ zu erkennen geglaubt habe. Für sie habe er versucht, vom OND beschlagnahmte Instrumente für Proben und Aufnahmen freizubekommen. Die Aufnahmeerlaubnis sei rasch erteilt worden, eine Probenerlaubnis nie. „Ob die OND die eingezogenen Musikinstrumente zurückerstattete, blieb Quellmalz verborgen, weil die von ihm aufgenommenen Kapellen angeblich teils auf geliehene Instrumente zurückgriffen.“ (629) Die aus fünf bis neun Musikanten bestehenden Kapellen spielten nahezu ohne Ausnahme überlieferte Tanzmusik. Die Aufnahmen ermöglichen trotz teilweise mangelnder Spielpraxis der Ausführenden einen Blick darauf, was Südtiroler Tanzmusik damals ausgezeichnet habe, „eine im Vergleich zu heute in Bezug auf das Repertoire bescheidenere, noch sehr auf lokale Möglichkeiten reduzierte, jedoch von größter Individualität geprägte Entwicklungsstufe“ (638).

Über „Blasmusik und Tracht. Zur Geschichte und politischen Synästhetik einer nicht immer schon selbstverständlichen Beziehung am Beispiel Südtirols“ hat Reinhard Bodner gearbeitet (639–771). Über die geschichtliche Entwicklung des „Trachten-Begriffs“, Trachtengrafiken als Quellen und deren notwendigerweise kritische Betrachtung nähert er sich der Kleidung von Musikanten an, die häufig unhinterfragt im Gefolge des Schützenwesens verortet würden. Da die Kapellen sich in ihrer Funktion zum Paradieren einheitlich darstellen hätten wollen, wählten sie preiswerte ähnliche Kleidung, die erst im Laufe der Zeit tatsächlich einheitlich wurde. Als sich 1892 in Passeier der erste Trachtenverein gründete, seien Trachten bereits Museumsgegenstände gewesen, an deren Erhaltung vor allem das Bürgertum Interesse gezeigt habe. Während des Faschismus seien rudimentäre Formen der Burggräfler Männertracht (weiße Strümpfe, rote Weste, grüne V-förmige Hosenträger) sowie weitere Elemente verschiedener Trachten in den Farben der Trikolore einerseits als Zeichen für die Integration Südtirols in ein „kulturell diversifiziertes, aber zusammengehöriges staatliches Gebilde“ (678), andererseits als Symbole Südtiroler Eigenständigkeit charakterisiert und tatsächlich auch als Maskerade verspottet worden. Hierher gehört auch das Narrativ vom angeblich geraubten Hut des beim Bozener Blutsonntag getöteten Trommlers Franz Innerhofer. Die ideologische Aufladung der Tracht in der NS-Zeit habe zu wachsendem Misstrauen des „Duce“-Regimes und in der Folge auch zu Konfiskationen der Vereinstrachten geführt, weiße Kniestrümpfe galten als „besonders exponiertes Bekenntnis zum Nationalsozialismus“ (694), eine angeblich angestrebte generelle Einführung von Dopolavoro-Uniformen für die Musikkapellen habe dazu geführt, dass Joppen und Hüte umgedreht oder abgeändert, Trachten versteckt worden seien. Das Opfer- und Widerstandsnarrativ greife auch bei der Tracht und dem Umgang mit Trachten(erneuerungs)bestrebungen des deutschen Nationalsozialismus in Tirol mit Blick auf Südtirol, insbesondere in der Arbeit der „Reichsbeauftragten für Trachtenarbeit“ Gertrud Pesendorfer und des ADO-Funktionärs Hans Nagele. Mit ihnen setzt sich die Südtiroler Trachtenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen fort. Bodner folgert: „Der Bedeutungswandel der Tracht in Musikkapellen bestand darin, dass sie zu einer temporären Gruppenkleidung werden konnte, die zu bestimmten Anlässen angelegt wurde.“ (767) – „Allerdings rückt nicht die Hose selbst aus, sondern der behoste Musikant.“ (771) Musikausübung und hierzu in der Öffentlichkeit getragene Kleidung setzten also Marker sowohl im individuellen als auch im kollektiven Gedächtnis.

Die umfangreichen, gleichwohl disparaten Quellen wurden für den Hauptteil des vorliegenden Bandes aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Wohl um die Leser*innen nicht durch die bloße Seitenzahl abzuschrecken, wurde er so konzipiert, dass alle Kapitel „ganz nach Gusto und Interessen“ (11) unabhängig voneinander gelesen werden können. Leider kommt es dadurch zu häufigen Redundanzen, vor allem im Bereich der Darlegung politischer und historischer Gegebenheiten. Vielleicht wären ein Zeitstrahl und ein kommentiertes Register der Hauptpersonen hier ein hilfreicher Ausweg gewesen. Viele als bekannt vorausgesetzte Ereignisse und Thematiken, allen voran das bis heute nachwirkende Trauma der Trennung vom nördlichen, bei Österreich verbliebenen Teil Tirols, sind nämlich Nicht-Südtirolern nicht ohne Weiteres in all ihren Dimensionen präsent. Da auch nicht alle Leser*innen des Italienischen mächtig sind, wäre es hilfreich gewesen, die italienischen Originalzitate – gern in Fußnoten – auch in übersetzter Form vorliegen zu haben. Die Beiträge der Koautoren Hofer, Drexel, Nussbaumer und Bodner ergänzen Mocks Ausführungen hervorragend. Jeder einzelne Beitrag und erst recht das gesamte Buch bringt interessante Erkenntnisse zu einem Thema, dessen Aufarbeitung noch längst nicht als abgeschlossen gelten kann, sondern mit diesem Werk eine notwendige und ansprechende Öffnung erfahren hat.