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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Michaela Fenske/Arnika Peselmann/Daniel Best (Hg.)

Ländliches vielfach! Leben und Wirtschaften in erweiterten sozialen Entitäten

Würzburg 2021, Königshausen & Neumann, 400 S. m. Abb., ISBN 978-3-8260-7360-1


Rezensiert von Nikolaus Heinzer
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.09.2022

Ländliches Wirtschaften steht im 21. Jahrhundert vor vielschichtigen Herausforderungen und Veränderungen: Klimawandel und Artensterben, agrarpolitische Entwicklungen, kritische öffentliche Wahrnehmungen und Forderungen sowie eine seit den 1960er Jahren durch Industrialisierung und Modernisierung fortschreitende Reduktion der Anzahl in der Landwirtschaft tätiger Menschen, der biokulturellen Diversität, der Betriebsformen sowie der individuellen Spielräume für Landwirt*innen setzen ländliche Wirtschafts- und Lebensweisen unter Druck.

Während das Ländliche „keineswegs eindeutig einem geographischen Ort zuzuschreiben ist“ (15), beschreibt es vor allem auch imaginäre Räume. Gerade aufgrund zunehmend fehlender Berührungsflächen zwischen der Mehrheitsbevölkerung und der Landwirtschaft wird das Ländliche heute einmal mehr zum Sehnsuchtsort und zur Projektionsfläche klischierter Vorstellungen. Um solchen nivellierenden Repräsentationen entgegenzutreten und den Blick auf Differenzierungen, Ungleichzeitigkeiten und die (regionale) Vielfalt des Ländlichen zu öffnen, schlagen die Herausgeberinnen Michaela Fenske und Arnika Peselmann vor, „den allgemeinen Befunden sowie der Fülle medial erzeugter Bilder des Ländlichen mehr empirische Studien über gelebtes Leben an die Seite zu stellen“ (15). Genau dies unternimmt der Tagungsband „Ländliches vielfach! Leben und Wirtschaften in erweiterten sozialen Entitäten“, indem er Beiträge aus der Europäischen Ethnologie und Sozialanthropologie, den Kultur- und Geschichtswissenschaften sowie der Kunst vereint, welche unterschiedliche Einblicke in diverse ländliche Kontexte geben.

Das Buch ist der zweite Band, der aus dem Kontext der 2017 gegründeten neuen Kommission „Kulturanalyse des Ländlichen“ der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (dgekw) hervorgeht. Der Sammelband führt die Ergebnisse der gleichnamigen Tagung zusammen, welche im April 2019 vom Lehrstuhl für Europäische Ethnologie/Volkskunde an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg in Kooperation mit der Landestelle für Berlin-Brandenburgische Volkskunde am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin und der Kommission „Kulturanalyse des Ländlichen“ der dgekw veranstaltet wurde. Aufgrund des Standorts Würzburg und den Arbeitsschwerpunkten der Lehrstuhlinhaberin, Michaela Fenske, und ihrer Mitarbeitenden liegt der Fokus hier auf den „Verflechtungen von Kultur und Natur“ (9). Die im Titel präsente „Erweiterung“ des Ländlichen beschränkt sich denn auch nicht darauf, das Ländliche in seiner Vielfalt, Pluralität und Heterogenität zu betrachten, sondern manifestiert sich in erster Linie in der Zusammenführung der „rural studies“ mit einer postanthropozentrischen Perspektive, wie sie etwa Bruno Latour, Donna Haraway oder Tim Ingold vertreten und wie sie in den Forschungsrichtungen der „multispecies ethnography“ und der „(new) material studies“ zum Einsatz kommt. So geht es in dem Buch „um die Erforschung erweiterter sozialer Entitäten, die unterschiedliche Menschen in ihren Interaktionen mit unterschiedlichen Lebensformen und anderen Materialitäten sieht“ (18). In diesem Sinne nehmen die verschiedenen Beiträge also Mensch-Tier- und Mensch-Pflanzen-Beziehungen in den Blick und untersuchen diese jenseits von einseitigen Domestikationslogiken als biosoziale Aushandlungs- und wechselseitige Erschaffungsprozesse, in denen insbesondere Tiere und Pflanzen, aber auch Materialien eigen- und zuweilen widerständige Wirkmacht entfalten.

Die Beiträge des Buches sind in vier Sektionen strukturiert. In der ersten Sektion, „Land- und Forstwirtschaft postanthropozentrisch“, kommen nicht-menschliche Akteur*innen und deren agency besonders deutlich zum Vorschein. Sei es in Form von Soja- und Amaranthpflanzen und Pestiziden (Ernst Langthaler), Apfelbäumen, Pilzkrankheiten und Spätfrösten (Arnika Peselmann), Samenbanken und Dating-Apps für Kühe (Ina Dietzsch), Bäumen oder Sägen (Andrea Graf): Tierliche, pflanzliche, mikrobiotische, meteorologische, chemische und technologische Agierende prägen ländliche Wirtschafts- und Lebensweisen wesentlich. Arnika Peselmann schreibt in ihrem Beitrag über den „Eigensinn des Apfels“ von einem „pflanzlichen Erfindungsreichtum“ (74) und einer der Spezies immanenten Unkontrollierbarkeit. In Anlehnung an Anna Tsings Arbeit zum Matsutakepilz und andere Forschende im Bereich der Multispezies-Studien zeigt sie mit ihrem Abriss über den Erwerbsobstbau und die Apfelzucht in Deutschland sehr anschaulich, wie „neue und alternative Apfel-Mensch-Geschichten“ (79) erzählt werden können.

Die zweite Sektion widmet sich „Politiken des Schutzes und der Fürsorge“ und legt das Augenmerk damit auf menschliche Beziehungen zu tierlichen oder pflanzlichen Anderen, die über Kontrolle und Gewalt hinausgehen. Auch wenn Machtverhältnisse zwischen Menschen und den von ihnen gehaltenen Tieren und angebauten Pflanzen sowie deren Konsum in landwirtschaftlichen Kontexten letztlich immer asymmetrisch und zugunsten der Menschen gestaltet bleiben, zeigen die hier versammelten Beiträge doch, dass Menschen von ihren nicht-menschlichen Gegenüber auch berührt werden können. Barbara Wittmann etwa beschreibt, wie sich das Verhältnis zwischen Produzent*innen aus der konventionellen Intensivtierhaltung und den von ihnen gehaltenen Tieren je nach Betriebsform im Spannungsfeld von nicht-anteilnehmender Distanz, anteilnehmender Distanz bis hin zu einer anteilnehmenden Bindung bewegt. Ohne das schwierige Thema der Intensivtierhaltung zu verharmlosen, gelingt es Wittmann so, ein differenzierteres Bild eines medial und gesellschaftlich oftmals allzu einseitig negativ dargestellten Feldes zu zeichnen. Ob von einer „bäuerlichen Arbeitsgemeinschaft mit Kühen“ (Jadon Nisly) oder „Museen als Multispezies Kontaktzonen“ (Ariane Scheidt) die Rede ist, immer rücken hier komplexe und vielseitige Mensch-Umwelt-Beziehungen im ländlichen Raum in den Vordergrund. Dies gilt auch für den Aufsatz von Oliver Müller über ein EU-gefördertes Entwicklungsprojekt, in dem eine historische Kulturlandschaft rekonstruiert und als identitätsstiftender Ort wiederbelebt werden soll. Während dabei Menschen Erinnerungen und Vorstellungen von Heimat in eine Landschaft einschreiben, indem sie diese in einen als harmonisch imaginierten Zustand versetzen und von fremdartigen, „invasiven“ (196) Pflanzenarten befreien, „wird jedoch deutlich, wie die affektiv-körperliche Verwicklung mit einer bedrohten Landschaft zu einer Infragestellung des ‚sense of place‘ und in gewisser Weise ‚sense of self‘ ihrer Bewohner_innen führen kann“ (211) und dadurch auch, wie stark Menschen von ihrer Umwelt affiziert werden.

In der dritten Sektion geht es um „rurbane Räume“. Zwei der drei Beiträge befassen sich mit der urbanen Imkerei und mit Fragen nach neuen Formen des Wirtschaftens und des sozialen Miteinanders sowie nach nachhaltiger Versorgung in der Stadt. Mit einem experimentellen Ansatz lotet die Künstlerin Bärbel Rothhaar das kooperative „Arbeitsverhältnis“ (235) zwischen Mensch und Honigbiene am Beispiel gemeinsam mit Bienen geschaffener Kunstwerke, des urbanen Gärtnerns und eines bienenbezogenen Kryptowährungsprojekts in Berlin Moabit aus. Dabei „werden Dichotomien von Stadt versus Land oder Kunst bzw. Kultur versus Natur infrage gestellt und Visionen zur Gestaltung von Lebensräumen entwickelt“ (247). Marie-Helene Wichmann begreift in ihrem Aufsatz urbane Agrikultur am Beispiel der Stadtimkerei als Netz aus Multispezies-Entitäten. Sie fragt, inwiefern solche speziesübergreifenden Netzwerke handlungsmächtig sind und inwiefern Bienen und andere nicht-menschliche Agenten in Netzwerkanalysen und agentenbasierten Modellierungsprozessen einbezogen werden und damit einen Beitrag zum besseren Verständnis von sich verändernden (r)urbanen Räumen beitragen können. Lauri Turpeinens ethnografische Fotoserie dokumentiert meist rurale Motive im urbanen Kontext von Helsinki, welche junge Erwachsene, die aus der ländlich geprägten Region Kainuu stammen und in die finnische Hauptstadt gezogen sind, im Zusammenhang mit der Frage nach ihrer Herkunft festhielten und kommentierten.

Die vierte Sektion „Globalisierte Märkte erforschen“ nimmt die Einbettung ländlicher Ökonomien in weltweiten Zusammenhängen in den Blick und thematisiert unterschiedliche Lösungsansätze lokaler Akteur*innen angesichts globaler ökonomischer und ökologischer Probleme. Dabei geht es insbesondere um das Verhältnis zwischen staatlichen Vermittlungsevents und regionaler, kleinbäuerlicher Direktvermarktung (Anja Decker), zwischen dem Handeln von Produzent*innen von Bio-Produkten und dem Kaufverhalten der Konsument*innen dieser Produkte (Alexandra Hammer, Torsten Näser, Regina Bendix und Antje Risius) oder zwischen deutscher Agrarpolitik und südosteuropäischen Saisonarbeiter*innen (Judith Schmidt). Daniel Bests Beitrag über einen Naturweinbetrieb in Unterfranken zeigt, wie ländliche Akteur*innen übergreifenden Transformationsprozessen und den Herausforderungen einer ökologischen, ökonomischen und politischen Vielfachkrise mit ambivalenten und komplexen Mitteln entgegentreten: So setzt der von Best untersuchte Betrieb auf die „Aktivierung historischer Sorten und Technikverzicht im Weinberg bei gleichzeitiger Nutzung spätmoderner Möglichkeiten digitaler Vernetzung und Kommunikation“ (25).

Der Tagungsband bietet eine vielseitige, gleichzeitig tiefgründige und insgesamt eindrückliche Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen und wichtigen Thema des Ländlichen. Insbesondere die postanthropozentrische Perspektive erlaubt einen differenzierten Blick auf dieses Forschungsfeld. Die Beiträge wissen sowohl einzeln als auch als facettenreiches und dennoch stringentes Gesamtpaket zu überzeugen.