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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Inga Wilke/Gregor Dobler/Markus Tauschek/Michael Vollstädt (Hg.)

Produktive Unproduktivität. Zum Verhältnis von Arbeit und Muße

(Otium 14), Tübingen 2020, Mohr Siebeck, VI, 314 S. m. Abb., ISBN 978-3-16-159684-1


Rezensiert von Manfred Seifert
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

Im Fokus dieses inhaltlich dichten und lesenswerten Bandes steht das Verhältnis zwischen Muße und Arbeit. Es ist Band 14 der inzwischen auf 25 Bände angewachsenen Publikationsreihe „Otium“ des von 2013 bis 2020 geförderten Freiburger SFB 1015 „Muße. Gesellschaftliche Ressource | Kritisches Potenzial“, an dem sich Fächer aus sechs Fakultäten beteiligten. Im vorliegenden Band bilden Autor*innen aus der Geschichtswissenschaft, Theologie, Soziologie, Psychologie, Philosophie, Erziehungswissenschaft, Ethnologie und Empirischen Kulturwissenschaft einen sehr produktiven interdisziplinären Diskussionsraum in 13 inhaltlichen Beiträgen mit einer auf das Themenfeld des Bandes hervorragend orientierenden Einleitung sowie einem luziden resümierenden Ausklang des Ethnologen Gregor Dobler.

Das als paradoxal charakterisierte Verhältnis von Muße und Arbeit in seinen vier Perspektivierungen als „Muße gegen Arbeit“, „Muße in Arbeit“, „Arbeit als Muße“ und „Muße als Arbeit“ einschließlich des gesellschaftlichen Wertes von Muße wird in diesem Band insbesondere hinsichtlich der spätmodernen Arbeits- und Lebensverhältnisse mit ihren kennzeichnenden Eigenschaften Beschleunigung, Flexibilisierung, Effizienzsteigerung und Selbstoptimierung als keineswegs trennscharfe, sondern komplexe Wechselbeziehung aufgefasst. Gemeinhin wird Muße ja als eine in Freiheit und unentfremdeter Situation erlebte Zeit plausibilisiert, die in einen quasi natürlichen Gegensatz zu notwendiger Arbeit gestellt wird. Dass eine differenziertere Sichtweise hier nicht nur sinnvoll, sondern auch äußerst produktiv ist, zeigen die in die drei Abschnitte „Muße und Arbeit – historische Perspektiven“, für die Gegenwart „Muße, Arbeit, Ökonomien“ und „Orte der Muße – Orte der Arbeit“ gegliederten Beiträge.

Meine Vorstellung der Beiträge sortiere ich gemäß Gregor Doblers skizzierten vier Perspektivierungen des Verhältnisses von Muße und Arbeit. Mit „Muße in Arbeit“ befassen sich historische wie gegenwärtige Analysen. Karen Lambrecht zeigt an autobiografischen Dokumenten, wie der Adel ab der Renaissance und bis zum Beginn der Industrialisierung einen ganz als Muße inszenierten Lebensstil ausprägte, der die Funktion eines sozialen Kapitals einnahm und in den die standesgemäße Arbeit eingeschlossen war. Mit den Mußepraktiken und ihrer Organisation im Arbeitsalltag von Industriearbeiterinnen befasst sich Marco Swiniartzki. Ebenfalls aus autobiografischen Quellen leitet er anhand eigensinniger Praktiken Möglichkeiten für Muße während der Arbeitszeit ab. Freilich muss quellenbedingt mehrheitlich offenbleiben, ob sich Muße auch tatsächlich einstellte, etwa, wenn man während der Arbeitszeit an unbeobachteten Stellen schlief, rauchte, sich unterhielt beziehungsweise miteinander sang. Die praktizierten Mußepotenziale waren nicht nur ein individuelles Phänomen der Selbstvergewisserung in zunehmend durchgetakteten Arbeitsverhältnissen, sondern auch oder vor allem sozial organisiert beziehungsweise toleriert. Hintergrund war ein durch zunehmenden Maschineneinsatz geprägter zeitlicher Arbeitszwang, dem man entfliehen wollte: Man arbeitete zwar, doch man arbeitete nicht ausschließlich. Mußepraktiken konnten so zugleich einen bedeutenden Teil betrieblicher Sozialbeziehungen am Arbeitsplatz bilden. Im bürgerlichen Bereich der sozialen Schichtung untersucht Ute Sonnleitner darstellende Künstler*innen in den Jahrzehnten um 1900 anhand ihrer publizierten autobiografischen Schriften. Hier erkennt sie insbesondere bei deren öffentlichen Auftritten Mußepotenziale, wo ihnen die Präsentation ihrer eingeübten Leistungen entsprechende mentale Freiräume gewährte, während ihre sonstige Lebensweise bei jeder Gelegenheit stetig mit dem Einüben von Rollen beziehungsweise Texten überlagert war.

Für die spätmoderne Gegenwart mit Fokus auf Digitalisierung und Industrie 4.0 diagnostiziert Stephanie Sommer eine umfassende Instrumentalisierung von Mußetätigkeiten. Am Beispiel des Design Thinking-Ansatzes konstatiert sie, wie Muße dazu eingesetzt wird, Kreativität zu steigern und den Zwangscharakter von Arbeit zu verschleiern, wobei diese ihrer spezifischen Charakteristika beraubt wird. Und im Bereich digitaler Innovationen werden auf breiter Front analoge (Muße-)Tätigkeiten in digital zu optimierende Vorgänge verwandelt. Dadurch verlieren Arbeit und Muße ihre Spezifika und gehen zunehmend ineinander über, was für die klassische Muße das Ende als selbstbestimmte und selbstzweckhafte Erfahrung frei von Zwängen bedeutet. Für das konzeptionell daran anschließende Image des Entrepreneurship entwickelt und kritisiert Michael Vollstädt anregend in einem begriffsanalytischen Zugriff die aktuell favorisierte Verschränkung wirtschaftlichen Handelns mit mußefähiger Selbstentfaltung für die Figur des innovativen, kreativ-schöpferischen Unternehmertums. In ähnlicher Weise setzen sich auch Erika Spieß und Julia A. M. Reif in ihrer arbeits- und organisationspsychologischen Sondierung für die Potenziale der Mußethematik in Verbindung mit Arbeit ein, die eine nichtfunktionalistische Betrachtungsweise von Arbeit ermöglicht, um auch zweckfreie, selbstbestimmte Kreativität zu erfassen, woraus dem Konzept wirtschaftlichen Handelns die Felder Freiheit und Lebensqualität zufließen.

Für die Perspektivierung „Muße in Arbeit“ ergeben sich vorstehend differenzierte Erkenntnisse, die zwar einerseits quellenbezogen, andererseits auf konzeptionellem Wege nur Möglichkeitsräume für real praktizierte beziehungsweise erwünschte Muße erschließen lassen, doch für die gegenwärtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gerade auch verdeutlichen, wie imageprägend sie die aktuelle Lebens- und Wirtschaftswelt beeinflussen. Besonders in den Beiträgen von Vollstädt sowie Spieß und Reif wird zudem die Perspektivierung „Arbeit als Muße“ berührt, wenn das analysierte Arbeitsverständnis als Konvergenzprodukt inklusive Muße verstanden wird. 

Die Perspektivierung „Muße als Arbeit“ verfolgt der Beitrag von Markus Tauschek und Inga Wilke, in dem es um das Kursangebot zum Erlernen von Muße und die Selbstwahrnehmung wie Gesellschaftsdiagnose der daran Teilnehmenden geht, welche sich den Anforderungen zunehmenden Leistungsdrucks sowie der Entgrenzung von Arbeit gegenübersehen. Als Offerte zur Krisenbewältigung adressieren diese Kurse die Selbstfürsorge durch Muße, die Wiedererreichung von Handlungsmacht und Wege aus der Entfremdung vom eigenen Körper. Allerdings charakterisiert das kursspezifische Angebot eine grundlegende Ambivalenz, indem dort Selbstmanagement- und Selbstoptimierungstechniken angewandt werden, um die Subjekte zu ermächtigen, selbst aktiv zu werden mit dem Ziel, Muße zu erlernen und den Ansprüchen und Zugzwängen der Leistungsgesellschaft wirkungsvoll begegnen zu können. Muße soll hier als Arbeit am Selbst erreicht werden.

Die Perspektivierung „Muße gegen Arbeit“ nehmen zunächst die Beiträge von Albert Schirrmeister über Feiertagsdiskurse im 18. Jahrhundert und Jürgen P. Rinderspacher über das Freie Wochenende ein. Albert Schirrmeister widmet sich der Bewertung von Mußepraktiken in religiösen wie polizeilich-säkularen Diskursen um reguläre und irreguläre Feiertage. Im kontrollierenden Blick und in einer paternalistischen Perspektive der genannten Institutionen galten die unteren Volksschichten als unfähig, Feiertage mittels eigenständiger Gestaltung angemessen zu feiern. Dementsprechend steht die zeitliche Begrenzung von Mußemöglichkeiten zugunsten des Primats einer aufgewerteten Arbeitsleistung im Vordergrund, wobei die allgemeine Begehung von Festen und Feiern grundsätzlich legitim blieb. In das 20. und 21. Jahrhundert wechselt Jürgen P. Rinderspacher mit seiner interessanten und aspektreichen Erörterung zum Status und den Zukunftschancen des Freien Wochenendes als zeitliche Ermöglichungsstruktur von Muße unter den aktuell persönlich wie gesellschaftlich herausfordernden Zeiten. Hier wird nun explizit eine gesamtgesellschaftliche Perspektive auf diese peak-period als zeitliche Allokation von Mußemöglichkeiten eingenommen, was diese seit den 1960er Jahren bestehende Zeitinstitution auch als sozialpolitische Größe ausweist. Diese ist in jüngerer Zeit nicht nur ökonomisch herausgefordert, wie etwa am bislang unterbrechungslosen E-Commerce-Angebot deutlich wird, sondern auch durch migrantische beziehungsweise nichtchristlich kulturierte Bevölkerungsteile sowie durch einen soziokulturellen und soziokulturell veranlassten Gesellschaftswandel. Doch nach Rinderspachers sorgfältiger Abwägung genießt der in westlichen Gesellschaften seit mehr als einem Jahrhundert gewachsene säkulare hegemoniale Anspruch einer peak-period, die nach dem Rationalitätsprinzip knapper Zeit organisiert ist, den Vorrang gegenüber nichtchristlich religiösen peak-periods. Der Gesellschaftswandel markiert dagegen eine komplexe Dimension mit Auswirkungen auf den Umgang mit dem Freien Wochenende, wofür unter anderem die Entgrenzung der Arbeit, die Individualisierung sowie mentale Haltungen ursächlich sind. Als Folgen davon zeichnet sich ein Qualitätswandel von Muße ab, die tendenziell als Freizeitattribut verliert und dafür mehr als Sekundär- und Parallelhandlung firmiert.

Auch Jochen Gimmel diskutiert aus philosophischer Perspektive in seinem inspirierenden Beitrag zunächst das Verhältnis Arbeit zu Muße auf verschiedenen Ebenen, um es schließlich als kategorialen Gegensatz zu bestimmen. Vor dem Hintergrund der modernen Entgrenzung und zugleich emphatischen Aufladung des Arbeitsbegriffes, die in der New Economy zu einem Wohlfühlfaktor für ein erfülltes Leben gerät und die Utopie der Selbstverwirklichung nährt, diskutiert Gimmel drei Autoren (Karl Marx, Charles Fourier, Herbert Marcuse) auf der Suche nach modernen Arbeitsbegriffen, die demgegenüber Muße konzeptionell einschließen. Die Gefahren vereinseitigender Realisierungen führen ihn abschließend aufruhend an Marxens anthropo-poietischem Arbeitsbegriff sowie dessen ökonomischen Schriften zu einer radikalen Arbeitskritik, die für eine qualitative Umwertung der gesellschaftlichen Wertigkeiten von Arbeit und Muße eintritt: Die Arbeit müsse fundamental auf ein notwendiges Maß reduziert werden zugunsten einer ideell und materiell wertgeschätzten freien Zeit, die der menschlichen Biografie Sinn und Zweck verleihe sowie Muße, Selbstentfaltung und ein genießendes Tätigsein auf privater wie gesellschaftlicher Ebene etabliere.

Einen Sonderfall der Perspektivierung „Muße gegen Arbeit“ mit interessanten Ergänzungen, die für eine Perspektivierung des Mußekonzepts ebenso relevant erscheinen, präsentiert der anregende letzte Vortrag meiner Auswahl. Raphael Reichel untersucht die spezifischen subjektiven Aushandlungen von Arbeit und Muße im Feld männlicher Ruhestandsmigration aus dem deutschsprachigen Raum nach Thailand. Um den durch die bloße Abwesenheit von beruflichen Verpflichtungen charakterisierten Rentenstand sinnstiftend zu strukturieren, schaffen sich die ethnografierten Akteure als „Arbeit“ etikettierte Tätigkeiten, um sich auch von den alkoholisierten und gelangweilten Sextouristen in Pattaya in ihren haltlosen Existenzen abzugrenzen. Ihre aktuellen Arbeitspraktiken haben nichts zu tun mit ihren ehemaligen Berufen und sind allenfalls mit früheren DiY-Praktiken oder Hobbies vergleichbar. Doch sie schaffen Verpflichtungen und bilden produktive Beschäftigungsfelder, vor deren Hintergrund sich mußevolle Tätigkeiten markieren lassen. Gerade in einem Kontext, in dem soziale Angebote jenseits der Sexindustrie sowie die Einbindung in ein familiäres Umfeld fehlen und im eigenen Haushalt zu wenige wiederkehrende Aufgaben anfallen, ist es herausfordernd, den Alltag sinnstiftend zu strukturieren. So entstehen Mußemöglichkeiten in bewusst geschaffener Relation zu Phasen selbst geschaffener sowie mit Gefühlen des Gebraucht-Werdens und Anerkannt-Werdens versehener, produktiv empfundener Tätigkeiten.

Der hoch anregende interdisziplinäre Sammelband setzt sich vielfältig und fundiert mit dem Verhältnis von Arbeit und Muße auseinander. Er zeigt, wie relational die Muße als kulturelle Erfahrungsdimension ist: relational zur Arbeit, zur Zeitstruktur, zur Sozialstruktur, genderbezogen, interkulturell, interreligiös ‒ und dabei doch eine spezifisch charakterisierbare Erfahrungsdimension jedenfalls im westeuropäischen Kulturkontext bleibt, ausgestattet mit einem selbstbestimmten und selbstzweckhaften Heraustreten aus den Alltagsnotwendigkeiten.