Aktuelle Rezensionen
Manfred Gailus
Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich
Freiburg im Breisgau 2021, Herder, 224 S. m. Abb., ISBN 978-3-451-03339-1
Rezensiert von Christel Köhle-Hezinger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022
Breit ausgewiesen im Feld der NS-, Kirchen- und Antisemitismusforschung ist der Berliner Historiker Manfred Gailus: Hier ist Gailus einer der profundesten Kenner. Seiner Promotion bei Reinhard Rürup 1988 über Protestbewegungen im 19. Jahrhundert folgte 1999 die Habilitation „Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin“. Damit waren – in den Schnittpunkten Protestantismus, Deutsches Reich, Berlin – Bündelungen erkennbar, die bis heute in ihrer thematischen Vernetzung, methodischen Dichte und Tiefe beeindrucken. Eine besondere Stärke von Gailus – seit 2013 am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung arbeitend – sind biografische Zugänge und Fallstudien; oft „Entdeckungen“ wie die der „stillen Widerstandskämpferin“ Elisabeth Schmitz, deren mutige und hellsichtige Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ der Synode der Bekennenden Kirche 1935 zu mutig war (Manfred Gailus: Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz. Göttingen 2010). Oder die mit Clemens Vollnhals 2020 publizierte Studie über den Tübinger Theologen und „Judenforscher“ Gerhard Kittel, dessen „Wörterbuch zum Neuen Testament“ bis heute in theologischen Bibliotheken Nutzung und Ansehen genießt. Gailus verfolgt Spuren und Wege im Nationalsozialismus (und davor und danach!), er holt auch Heilige vom Sockel; so im aktuellen Projekt „Otto Dibelius (1880–1967). Neue Forschungen zu einer protestantischen Jahrhundertfigur“.
Gailusʼ intensive Quellenforschung ist seine Stärke – auch das Fundament des vorliegenden Buches, das neue Fragen stellt: Es verfolgt das Ziel, eine erste – so die Verlagsankündigung – „systematische Gesamtdarstellung zum Thema Glaube und Nationalsozialismus“ zu geben und „aufzuräumen mit Falschannahmen über Ungläubigkeit der Nazi-Elite“. Diesem flotten Marketington entgegen stehen Gailusʼ klare Ausgangsthesen und -fragen. Sie sind erkennbar bereits im Buchtitel „Gläubige Zeiten“: Die Hitlerjahre waren, so Gailus im Ankündigungstext des Verlags, nicht von „‚Gottlosigkeit‘ bestimmt, sondern von multiplen religiösen Erneuerungen geprägt“ und schon 1933 „von einem tiefgehenden ‚religious revival‘ begleitet“. Diese „uns heute paradox anmutende Gemengelage von christlichen Traditionsbeständen und einem völkisch-politischen Neuglaube[n]“ zu erhellen ist das Anliegen des Buches, das auch für die Volkskunde und für ihre „völkische“ Geschichte reiche Bezüge aufweist.
Eine solche Zielsetzung lässt sich im komplexen NS-Glaubensgeflecht kaum linear verfolgen. Gailus bedient sich daher einer fast schematischen, systematischen Gliederung. Sie folgt im Wesentlichen – mit exemplarischen Exkursen, Fallbeispielen – der Chronologie der Ereignisse. Einer knappen Klärung der Begriffe – um „Glauben“ kreisend (8–11) – folgen vier Großkapitel: „I. Christliche Konfessionen und Nationalsozialismus“ (13–50): Wo standen Protestanten, wo Katholiken 1933? Was bedeutete für sie das Jahr „1933 als religiöses Ereignis“ (15)? Ein nächster Schritt beleuchtet „II. Neue Glaubensbewegungen im ‚Dritten Reich‘“: „Völkische Glaubensbewegungen“ und „Gottgläubige“, „Parteiglaube und religiöse Fraktionen in der NSDAP“ (51–79), deren innerparteiliche Wirkweisen und „Lebensgestaltung“ (wie „Eheweihe“ auf der NS-Ordensburg Vogelsang in der Eifel oder die Erweiterung des Jahresfestkalenders durch den „Tag der Machtergreifung“, 76 f.). Das Kapitel mündet in einer „Zwischenbilanz: Religiöse Vielfalt und interkonfessionelles Dilemma“. Gailusʼ klares Fazit: Es kam im NS-Staat nicht zu einer „ökumenisch inspirierte[n] […] Verteidigung christlicher Grundwerte [...] angesichts des Vordringens eines völkisch-nationalsozialistischen Neuglaubens“ und zur „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens“ (85).
Das dritte Kapitel „Juden, Antisemitismus und ‚Kristallnacht‘“ (87–112) beleuchtet im ersten Unterkapitel die Feindbilder, Agenten, Vorläufer; so den Antijudaismus, Parteitheologen, „Parteidichter und Publizisten“ wie Hans Baumann (90); Pfarrer und „Sippenforscher“ Karl Themel (93); im zweiten Unterkapitel geht es um die „Christen in der ‚Kristallnacht‘“ und die Bilanzen der Zerstörung; auch Schweigende in den Kirchen und Mahner auf den Kanzeln, um dann zu fragen: „Was war die Kristallnacht? Gewiss, ein beschämendes historisches Großereignis […] Entfesselung von nächtlicher Pogromgewalt, von oben angeordnet via Telefonschaltungen von München aus“ (110). Blindflecken und Forschungsdesiderate benennt Gailus. Er fragt nach Resonanz, Aufnahme, Umsetzung der Handlungsanweisung, der „Ausprägung des Geschehens vor Ort“, danach „[w]er [sich] verweigerte“, wie „die ‚gewöhnlichen Deutschen‘ vor Ort [reagierten]“, wie „die Anwohner“ (ebd.). „Das große Buch“, so sein Fazit, „über diese dunkelste deutsche Stunde im 20. Jahrhundert ist noch nicht geschrieben“. Keine Frage: „Das Pogrom war Auftakt“ – nur fehle es bis heute in den Kirchen, in den Konfessionen wie unter „NS-Ideologen neuen Glaubens“ an klaren „Täteranalysen“ (110 f.).
Das vierte Kapitel „Krieg, Christen und Holocaust“ (113–167) fragt zuerst nach den Protestanten (115–131): nach Zustimmung, Kollaboration, Kriegserleben, Kriegsende, Mangelwirtschaft, „Freitod durch Erschießen“. Jochen Klepper ist hier eindrücklich-dichtes Beispiel. Für die „katholische Performance“ (134) gebe es Helden- und Opfergeschichten in zwei Versionen: die offiziöse, wohlbekannte – und die „von Zustimmung, Einverständnis und Mitwirkung“ (ebd.). Gailus folgt dabei Olaf Blaschke und Klaus Latzel. Neue Forschungen belegen das Gewicht des Anti-Bolschewismus, auch im (und nach dem!) Krieg: Es galt den „gottlosen Bolschewismus“ im Osten zu tilgen. Das traf für beide Kirchen zu – ähnlich wie für die Themen, die Gailus abschließend skizziert: Reden und Schweigen (153–155), „Holocaustwissen“ (155–158) „Eingabenpolitik“ (158 f.) (die Bischöfe Galen und Wurm als Beispiel) und schließlich die Frage der „Entsolidarisierungen, Verfolgung, Mittäterschaften“ (160–164).
Mit den Totenfeiern – als Exempel dient die Trauerfeier für Reinhard Heydrich im Berliner Dom 1943 (148 f.) – ebenso wie mit den „Lebensfeiern“ der Gottgläubigen – bei Geburt, Eheschließung und Tod – „kamen Partei und Staat nicht recht voran“, trotz Amt Rosenberg, trotz SS-Ahnenerbe (150). Solche Befunde zur NS-Kulturpolitik und ihren „Erfolgen“ sind bekannt. Sie brachten keinen grundlegenden Wandel von Alltag, Religion und Glauben. Die NS-Zeit, so endet Gailus, war „‚nicht‘ eine Zeit beschleunigter Säkularisierung“, sondern eine „Rückkehr des Religiösen“, ein „christlich wie nationalreligiös bestimmter Doppelglauben [...]. Man wollte irgendwie christlich bleiben und bekannte sich zugleich in gläubiger Emphase zum Nationalsozialismus.“ (165) Für Gailus eine klare Lehre: „So bleibt am Ende lediglich diese Einsicht: Die Performance der allzu gläubigen Deutschen in der Epoche des ‚Dritten Reiches‘ ist eine lehrreiche historische Lektion über die gefährlichen Ambivalenzen des Religiösen.“ (167)
Entstanden, so konzediert der Verfasser bescheiden in seinem Vorwort, sei sein Buch „zum größeren Teil während der Coronapandemie“ als Versuch, die „Forschungen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte über Religion, Konfession, Kirchen und Nationalsozialismus auf sehr knappem Raum zusammenzufassen“. Das „schmale Bändchen“ solle „Diskussionen anstoßen und die Erkenntnis historischer Sachverhalte zum Themenkomplex Religiosität im ‚Dritten Reich‘ voranbringen“ (7). Das ist Gailus gelungen auf umfassende, verständliche Art: nicht durch neue Forschungen (sie sind eingeflossen), aber im Sinne einer Gesamtschau. Manfred Gailusʼ frühere Studien freilich sind hinzuzunehmen: zur Vertiefung und zum Verständnis – und als Zugänge zu brennenden Fragen der Gegenwart.