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Aktuelle Rezensionen


Paolo Raile/Bernd Rieken

Eco Anxiety – die Angst vor dem Klimawandel. Psychotherapiewissenschaftliche und ethnologische Zugänge

(Psychotherapiewissenschaft in Forschung, Profession und Kultur 32), Münster 2021, Waxmann, 228 S. m. Abb., ISBN 978-3-8309-4372-3


Rezensiert von Valeska Flor
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.09.2022

„Eco Anxiety“ ist ein Begriff, so Paolo Raile und Bernd Rieken in ihrer Einleitung zur zu besprechenden Publikation, der in der Alltagswelt bisher nicht geläufig ist, aber dennoch eine große Rolle spielt (9). Das Hauptanliegen der Autoren ist zweigeteilt: einerseits den Begriff in der deutschen Fachlandschaft – hier Psychotherapiewissenschaft und (Europäische) Ethnologie – zu etablieren und andererseits aufzuzeigen, dass Eco Anxiety keine Randerscheinung der Gesellschaft ist. Thematisch wird Eco Anxiety in den Zusammenhang mit dem Thema unserer Zeit, der Bedrohung durch den anthropogenen Klimawandel, gebracht.

Zu Beginn der Studie ordnen die Autoren die Geschichte des Klimawandels dicht und informativ ein (Kapitel 2). Zunächst werden in einem ersten Unterkapitel die naturgeschichtlichen Aspekte skizziert. Hier wird vor allem festgestellt, dass der anthropogene Klimawandel ein Faktum ist (19). Mit dem Erscheinen des sesshaften Menschen im ansonsten klimatisch relativ stabilen Holozän lassen sich zum Beispiel bereits Korrelationen zwischen Landwirtschaft und Viehwirtschaft und einer signifikanten Steigerung des CO2-Wertes feststellen (12 f.). Darüber hinaus benennen die Autoren entlang der Fachliteratur markante Perioden der Klimageschichte, die sich sowohl natürlich als auch kulturgeschichtlich zeigen: das Klimaoptimum der Römerzeit, die spätantike kleine Eiszeit, das mittelalterliche Wärmeoptimum, die kleine Eiszeit im 16.–19. Jahrhundert und das gegenwärtige Klimaoptimum. In einem zweiten Unterkapitel werden die kulturgeschichtlichen Aspekte, hier vor allem entlang von populären Tradierungen, fokussiert. Grundsätzlich, so die Autoren, prägten langfristige klimatische Bedingungen sowie kurzfristige (Extrem-)Wetterereignisse immer wieder ganze Zivilisationen. Dies zeigen zum einen „Sintflut“-Erzählungen, unter anderem Erzählungen und Theorien der sogenannten Diluvianer, Vertreter der Sintflutlehre im 17. und 18. Jahrhundert (19 f.), aus dem Fundus der Inuit über Tsunami-Erzählungen (20 f.), Flut-Erzählungen aus dem Erzählgut der Aborigines (21) und Erzählungen über anschwellende Flüsse in Neuguinea jeweils im 19. Jahrhundert sowie europäische Erzählungen, wie über den Untergang von Rungholt, dem friesischen Atlantis im 14. Jahrhundert (29). In allen Erzählungen spielt die Aushandlung eines Bedroht-Seins eine Rolle, in der die Beziehung von Mensch und Natur zentral ist und in der der Mensch der Bedrohung nicht „Herr“ zu werden vermag (23). In den Erzählungen wird das menschliche Bedürfnis Ereignissen einen Sinn zu geben und Kausalzusammenhänge anzunehmen deutlich. Einerseits in der Vermutung über das Walten von göttlichen Instanzen (Sintflut, Atlantis), andererseits in der aristotelischen Ursachenlehre von causa efficiens (Bestrafung von Sünden) und causa finalis (Leben in Orientierung an göttlichen Normen) (23 f.). Darüber hinaus verdeutlicht der kulturgeschichtliche Blick, als Folgerung aus der Vergangenheit für die Gegenwart, dass was der Mensch tut, die Natur beeinflusst (52). Der Mensch müsse sich davon lösen, „die Umwelt beherrschen zu wollen“ und in Trennung zu ihr zu leben; vielmehr sei die Umwelt eher „als Mitwelt [zu] verstehen, zu der der Mensch in enger Beziehung steht“ (53). Dies sei, so die Autoren, sowohl in Überlieferungen aus der Vergangenheit als auch in aktuellen Theoretisierungen und im Feld zu erkennen. Zudem sei interessant, dass hier melancholische Gefühle, speziell auch im Zusammenhang mit Reaktionen auf den Klimawandel, eine Rolle spielen. Diese können über eine ökologisch sensibilisierte Psychotherapiewissenschaft und Psychoanalyse aber vermutlich auch einer Ethnologie erforscht und gerahmt werden (58). Die kulturgeschichtliche Erläuterung des Klimawandels entlang von populären Erzählungen ist den Autoren gut und informativ gelungen. Die unterschiedlichen Perspektiven der Erzählungen tragen dazu bei, die oftmals statistisch abgeleiteten naturwissenschaftlichen Erläuterungen kulturgeschichtlich zu ergänzen.

In einem dritten Kapitel erläutern Raile und Rieken die Gegenwart des Klimawandels. Hier werden vor allem Klimaleugner*innen und Klimaskeptiker*innen und deren Argumente zentriert. Andererseits wird Klimaleugnung als Wissenschaftsleugnung sowie Klimaleugnung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft thematisiert. Die Autoren stellen eindrücklich dar, dass Bezweifeln oder Leugnen des Klimawandels ein umfangreiches und heterogenes Feld ist (69). Da im späteren Verlauf der Studie aber auch andere Gruppierungen, unter anderem Aktivist*innen, eine Rolle spielen, wäre die Ausweitung des Samples der zentralen Akteur*innen der Studie wünschenswert gewesen. In zwei weiteren Unterkapiteln gehen Raile und Rieken noch auf die Frage der moralischen Verantwortung der Menschheit ein (69). Hierbei spielt vor allem die Debatte um Klimagerechtigkeit aber auch um die Notwendigkeit des Handelns eine Rolle (73). Abschließend ergänzen die Autoren das Kapitel noch um das Thema der Zukunftsangst. Grundsätzlich ist es wichtig, dass Zukunft im Zusammenhang mit Veränderungen des Klimas und Fragen nach Gerechtigkeit und Notwendigkeit des Handelns zentral gesetzt wird. Schließlich wird Zukunft in diesem Zusammenhang in der Gegenwart ganz konkret ausgehandelt. Richtigerweise verknüpfen die Autoren Zukunft in diesem Zusammenhang auch mit Ängsten, Hoffnungen, Plänen etc. (74 f.). Leider fehlt aber die Kontextualisierung über einen aktuellen Stand der Forschung im Bereich der Zukunftsforschung, hier wären vor allem Arbeiten aus dem Bereich der Anthropology of the Future und auch der kulturanthropologisch-ethnologischen Klimawandelforschung zu nennen.

Im vierten Kapitel zentrieren die Autoren dann den Begriff Eco Anxiety in einer empirischen Erhebung. Die Empirie ist dreigeteilt: Erstens wurde ein Klima-Fragebogen erstellt und dessen Rücklauf interpretiert, zweitens wurden leitfadengestützte Interviews geführt und ausgewertet und drittens wurde in einer Diskursanalyse mit dem Quellenkorpus „Klimawandelposts in Facebook-Gruppen“ Klimawandel mit der Erweiterung einer tiefenpsychologischen Perspektive analysiert. Sowohl aus den Fragebogen als auch aus den Interviews geht hervor, dass sich ein Großteil der Befragten mit dem Klimawandelaktiv auseinandersetzt und diesen als Bedrohung empfindet. In diesem Bedrohungsgefühl schwingt bei weit mehr als 50 Prozent auch Angst mit. Auslöser – das Erleben von Naturkatastrophen und/oder Ängste aus der Kindheit – lassen sich über beide Erhebungen nicht endgültig feststellen. Ein kleinerer Anteil der Befragten leugnet den Klimawandel oder steht ihm zumindest skeptisch gegenüber. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Ergebnisse der Fragebogen-Umfrage Hinweise auf die Kernthemen geben, die Menschen mit dem Klimawandel verbinden. In Kombination mit den Interviews lassen sich zusätzliche und tiefergehende Schlüsse hinsichtlich Bedeutungszuschreibungen, Reflexionen der Ängste sowie Hinweise auf die Persönlichkeitsstrukturen und soziokulturellen Faktoren der Befragten finden (115). In der abschließenden Diskursanalyse kommen weitere Stimmen zu Wort. Neben Klimaleugner*innen sind dies auch sogenannte Prepper, Aktivist*innen und Menschen, die in Form von Selbsthilfe-Gruppen zusammenfinden. Interessant ist, dass Klimawandelangst, Eco Anxiety, in allen Gruppen explizit und implizit eine Rolle spielt. Angst vor allem in einer Kombination aus (Natur-)Katastrophen und folgenden Unruhen (Prepper), einer ungewissen Zukunft (Selbsthilfe-Gruppen), gegebenenfalls verdrängten Ängsten (Leugner*innen) und Angst als strategisches und aktivierendes Mittel (Aktivist*innen).

In einem kurzen fünften Kapitel geben Raile und Rieken Empfehlungen für Betroffene, Angehörige und helfende Berufe, wie mit Eco Anxiety umgegangen werden kann. Dabei ginge es nicht unbedingt darum, Klimawandelangst als Krankheit zu klassifizieren, vielmehr gäbe es aufgrund der emotionalen Befasstheit des Themas grundsätzlichen Bedarf für Empfehlungen. Dazu gehören unter anderem das Reden über die Angst, Hoffnung finden und haben, das Sehen, dass es anderen ähnlich geht, Aktiv-Sein, Negativ-Meldungen vermeiden und positive Nachrichten aktiv wahrnehmen (189).

Paolo Raille und Bernd Rieken zeigen ein gut recherchiertes und kontextualisiertes Bild der historischen und gegenwartsbezogenen Entwicklung des Klimawandels mit Schwerpunkt auf Eco Anxiety. Vor allem im Bereich der Kontextualisierung durch populäre Erzählungen wird eindrücklich gezeigt, wie sehr die Themen Klima und Klimaveränderungen Einfluss auf den Menschen in seiner Beziehung zur Natur/Umwelt hatten. Der ethnologische Blick geht allerdings zum Teil verloren. Hier wäre zum einen die Fokussierung der Methoden auf eine qualitative Erhebung und eine ausführlichere Inhaltsanalyse oder auch Narrationsanalyse der Interviews sinnvoll gewesen, die zum anderen wiederum durch die Rahmung ethnologischer Forschungen und Theorien zu Zukunft, Angst, Emotionen etc. ergänzt hätte werden können. Der psychotherapiewissenschaftliche Fokus erscheint aber plausibel.